Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.207/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_207/2008 /daa

Urteil vom 11. August 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Reeb, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Schoder.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Jean-Christophe
Schai,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Gewaltdelikte, Molkenstrasse 15/17,
Postfach,
8026 Zürich.

Gegenstand
Haftentlassungsgesuch; Fortsetzung der Untersuchungshaft,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 27. Juni 2008
des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter.

Sachverhalt:

A.
X.________ wird vorgeworfen, am 4. November 2007 beim Hirschenplatz in Zürich
an einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen von Männern
beteiligt gewesen zu sein und dabei dem am Raufhandel ebenfalls beteiligten
A.________ mit einem Schraubenzieher eine Stichverletzung am Oberkörper
zugefügt und diesen erheblich verletzt zu haben. Gegen X.________ wird unter
anderem wegen versuchter vorsätzlicher Tötung ermittelt (vgl. den Haftantrag
vom 25. Juni 2008).

Am 23. Juni 2008 beantragte X.________ die Entlassung aus der
Untersuchungshaft. Mit Verfügung vom 27. Juni 2008 wies der Haftrichter des
Bezirksgerichts Zürich das Haftentlassungsgesuch ab und verlängerte die
Untersuchungshaft bis zum 30. September 2008 wegen Kollusionsgefahr.

B.
X.________ hat beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen und
Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger Rechte erhoben. Er
beantragt, die Haftverfügung sei aufzuheben, und er sei aus der
Untersuchungshaft zu entlassen. Ferner ersucht er um unentgeltliche
Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren.

C.
Der Haftrichter und der zuständige Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft IV des
Kantons Zürich, Gewaltdelikte, verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in Strafsachen ist in Art. 78 ff. BGG geregelt. Angefochten ist
vorliegend ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid (Art. 80 BGG). Der
Beschwerdeführer ist in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen (Art.
81 Abs. 1 lit. a und b BGG), und die Beschwerdefrist ist eingehalten (Art. 100
Abs. 1 BGG). Die Eintretensvoraussetzungen der Beschwerde in Strafsachen sind
damit erfüllt. Auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist demzufolge nicht
einzutreten (vgl. Art. 113 BGG).

2.
2.1 Der Beschwerdeführer bestreitet die Voraussetzungen zur Fortsetzung der
Untersuchungshaft. Er rügt eine Verletzung der persönlichen Freiheit und des
Willkürverbots.

2.2 Gemäss § 58 Abs. 1 und 2 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4.
Mai 1919 (StPO/ZH) ist die Anordnung und Fortdauer der Untersuchungshaft
zulässig, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend
verdächtigt wird und aufgrund bestimmter Anhaltspunkte Flucht-, Kollusions-,
Wiederholungs- oder Ausführungsgefahr ernsthaft zu befürchten ist. Die
Untersuchungshaft ist durch mildere Massnahmen zu ersetzen, sofern sich der
Haftzweck auch auf diese Weise erreichen lässt (§ 58 Abs. 4 i.V.m. § 72 f. StPO
/ZH). Unter gleichen Voraussetzungen ist die Anordnung und Aufrechterhaltung
der Sicherheitshaft zulässig (§ 67 Abs. 2 Satz 1 StPO/ZH). Sind diese
Vorschriften eingehalten, so steht der Untersuchungshaft auch unter dem
Blickwinkel der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 Art. 31 Abs. 1 BV, Art. 5
Ziff. 1 lit. c EMRK) nichts entgegen.

3.
3.1 Der Beschwerdeführer ist geständig, dem Geschädigten mit einem
Schraubenzieher eine Stichverletzung am Oberkörper zugefügt zu haben. Er macht
indessen geltend, es habe sich nicht um eine schwere, sondern nur um eine
leichte Körperverletzung gehandelt. Aus den ärztlichen Gutachten ergebe sich,
dass für den Geschädigten keine ernsthafte oder unmittelbare Lebensgefahr
bestanden habe. Der Haftrichter gehe aktenwidrig und willkürlich vom Vorliegen
einer Lebensgefahr aus. Des Weitern bestreitet der Beschwerdeführer den
subjektiven Tatbestand der versuchten vorsätzlichen Tötung. Anders als im
Bundesgerichtsurteil 1P.382/2006 vom 6. Juli 2006 entschieden worden sei, müsse
vorliegend geprüft werden, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der subjektive
Tatbestand erfüllt sein könnte.

3.2 Im Gegensatz zum erkennenden Sachrichter hat das Bundesgericht bei der
Überprüfung des dringenden Tatverdachts keine erschöpfende Abwägung sämtlicher
belastender und entlastender Beweisergebnisse vorzunehmen. Auch der subjektive
Tatbestand, vorliegend der (Eventual-)Vorsatz der Tötung oder schweren
Körperverletzung, braucht nicht "nachgewiesen" zu werden (Urteile des
Bundesgerichts 1P.617/2001 vom 15. Oktober 2001, E. 2d; 1P.733/1999 vom 13.
Januar 2000, E. 2a/aa). Macht ein Angeschuldigter geltend, gegen ihn würden
ohne ausreichenden Tatverdacht strafprozessuale Massnahmen ergriffen, ist zu
prüfen, ob genügend konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der
Beschwerdeführer eine Straftat begangen hat, die kantonalen Behörden somit das
Bestehen eines dringenden Tatverdachts mit vertretbaren Gründen bejahen durften
(BGE 116 Ia 143 E. 3c S. 146). Auch das vom Beschwerdeführer zitierte Urteil
1P.382/2006 vom 6. Juli 2006 geht von dieser Prämisse aus.

3.3 Mit seinem Vorbringen, er habe dem Geschädigten lediglich eine leichte
Körperverletzung zugefügt, verkennt der Beschwerdeführer, dass
Untersuchungshaft - unter Vorbehalt des Verbots der Überhaft - bereits
angeordnet werden darf, wenn der Angeschuldigte eines Vergehens (einfache
Körperverletzung; vgl. das Bundesgerichtsurteil 1P.366/2005 vom 7. Juli 2005,
E. 2) dringend verdächtigt wird. Zudem bezieht sich der dringende Tatverdacht
in seinem Fall unter anderem auf versuchte vorsätzliche Tötung, somit auf ein
versuchtes Verbrechen. Für die Frage, ob der Haftgrund des dringenden
Tatverdachts bezüglich des letztgenannten Delikts gegeben ist, spielt es keine
Rolle, ob die dem Geschädigten zugefügte Stichverletzung - für sich genommen -
als einfache oder schwere Körperverletzung zu qualifizieren ist. Im Übrigen ist
es nicht Sache des Haftrichters, die vom Beschwerdeführer erwähnten ärztlichen
Gutachten abschliessend zu würdigen.

Ebenso wenig lässt die blosse Bestreitung der (eventual-)vorsätzlichen
Tatbegehung durch den Beschwerdeführer die Annahme des dringenden Tatverdachts
dahinfallen. Unter den gegebenen Umständen ist die Frage des subjektiven
Tatbestandes nicht im vorliegenden Haftprüfungsverfahren abschliessend zu
beurteilen, sondern (nach einer entsprechenden Anklageerhebung) vom erkennenden
Strafgericht.

Der dringende Tatverdacht ist somit zu bejahen. Eine Verletzung der
persönlichen Freiheit oder des Willkürverbots ist insoweit nicht auszumachen.

4.
4.1 Sodann bestreitet der Beschwerdeführer den besonderen Haftgrund der
Kollusionsgefahr.

4.2 Nach der Rechtsprechung genügt die theoretische Möglichkeit, dass der
Angeschuldigte in der Freiheit kolludieren könnte, nicht, um die Fortsetzung
der strafprozessualen Haft zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete
Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen (BGE 132 I 21 E. 3.2
S. 23). Dazu gehören namentlich das bisherige Verhalten des Angeschuldigten im
Strafprozess, seine persönlichen Merkmale, seine Stellung und seine Tatbeiträge
im Rahmen des untersuchten Sachverhalts sowie seine Beziehungen zu den ihn
belastenden Personen (BGE 132 I 21 E. 3.2.1 S. 23).

4.3 Der Beschwerdeführer ist geständig, dem Geschädigten mit einem
Schraubenzieher eine Stichverletzung zugefügt zu haben. Er macht aber geltend,
er habe einem Kollegen, welcher von vier Personen angegriffen worden sei,
helfen wollen. Die Version eines rechtfertigenden Notstandes im Sinne von Art.
17 StGB wurde bislang von keinem Zeugen und keiner Auskunftsperson bestätigt.

Da dem Beschwerdeführer ein Kapitalverbrechen zur Last gelegt wird, muss damit
gerechnet werden, dass die Strafsache vom Geschworenengericht beurteilt wird (§
198a Abs. 1 Ziff. 3 lit. c StPO/ZH i.V.m. § 56 GVG/ZH). In diesem Verfahren
gilt das Unmittelbarkeitsprinzip, so dass die beantragten Zeugen nochmals
aussagen müssen (vgl. § 233 ff. StPO/ZH).

Es ist deshalb nicht von der Hand zu weisen, dass der Beschwerdeführer bei
einer allfälligen Freilassung versuchen könnte, Mitbeteiligte, Zeugen,
Auskunftspersonen und weitere Personen aus seinem Umfeld unter Druck zu setzen.
Diese Gefahr ist nicht bloss eine theoretische, da der Beschwerdeführer, wie
der Haftrichter festhielt, gemäss Strafregisterauszug vom 12. Dezember 2007
bereits mehrfach Gewaltdelikte (einfache Körperverletzung, Angriff) beging.
Auch war der Beschwerdeführer zu Beginn des Ermittlungsverfahrens nicht
geständig, sondern wollte mit der Sache angeblich nichts zu tun gehabt haben.
Dieses Aussageverhalten gereicht dem Beschwerdeführer im Haftprüfungsverfahren
wegen Kollusionsgefahr zum Nachteil. Hinzu kommt, dass das Strafverfahren einen
Raufhandel zwischen zwei Männergruppen betrifft. Es ist nicht auszuschliessen,
dass der Beschwerdeführer versucht sein könnte, seine Beziehungen zu einzelnen
Beteiligten auszunützen und sich mit diesen abzusprechen.

Die Haftvoraussetzung der Kollusionsgefahr ist damit zu bejahen. Eine
Grundrechtsverletzung ist auch insoweit nicht gegeben.

5.
Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde in Strafsachen als unbegründet
und ist demzufolge abzuweisen. Auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist
nicht einzutreten. Der Beschwerdeführer hat um unentgeltliche Rechtspflege im
bundesgerichtlichen Verfahren ersucht. Diesem Antrag kann entsprochen werden
(Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde in Strafsachen wird abgewiesen.

2.
Auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wird nicht eingetreten.

3.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird bewilligt:

3.1 Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.2 Rechtsanwalt Jean-Christophe Schai wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt.

4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV des Kantons
Zürich, Gewaltdelikte, und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich
mitgeteilt.
Lausanne, 11. August 2008
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Féraud Schoder