Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.173/2008
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
1B_173/2008 /daa

Urteil vom 21. Juli 2008
I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Reeb, Eusebio,
Gerichtsschreiber Thönen.

Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Inge Mokry,

gegen

Staatsanwaltschaft See/Oberland, Wilstrasse 11, Postfach, 8610 Uster.

Gegenstand
Gesuch um Bewilligung des vorzeitigen Strafantritts,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 30. Mai 2008 des Bezirksgerichts Horgen,
III. Abteilung.

Sachverhalt:

A.
Der 1965 geborene X.________ wurde vom Bezirksgericht Horgen mit Urteil vom 7.
Mai 2008 wegen Freiheitsberaubung, Drohung, mehrfacher Tätlichkeiten,
mehrfachen Hausfriedensbruchs und mehrfachen geringfügigen Diebstahls zu 15
Monaten Freiheitsstrafe, einer Busse von Fr. 500.-- und zu einer stationären
therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB (Behandlung von psychischen
Störungen) verurteilt. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde zugunsten der
stationären Massnahme aufgeschoben. Gleichentags ordnete das Bezirksgericht die
Fortdauer der Sicherheitshaft bis zur Rechtskraft des genannten Urteils an.
X.________ hat gegen das Strafurteil am 14. Mai 2008 Berufung angemeldet.

Mit Gesuch vom 22. Mai 2008 beantragte er die Bewilligung des vorzeitigen
Strafantritts. Das Bezirksgericht Horgen (Vorsitzender der III. Abteilung als
Einzelrichter) wies dieses Gesuch mit Verfügung vom 30. Mai 2008 ab, da im
Anschluss an das Strafurteil kein vorzeitiger Strafantritt, sondern höchstens
ein vorzeitiger Vollzug einer stationären Massnahme bewilligt werden könne.

B.
Mit Eingabe vom 30. Juni 2008 führt X.________ Beschwerde an das Bundesgericht.
Er beantragt, die Verfügung des Bezirksgerichts vom 30. Mai 2008 sei aufzuheben
und es sei der vorzeitige Strafantritt zu bewilligen. Überdies ersucht er um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

Das Bezirksgericht beantragt Beschwerdeabweisung. Die Staatsanwaltschaft See/
Oberland hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. X.________ hat mit Eingabe vom
16. Juli 2008 repliziert.

Erwägungen:

1.
Die angefochtene Verfügung stützt sich auf kantonales Strafprozessrecht und
kann mit der Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG angefochten
werden. Ein kantonales Rechtsmittel ist gemäss § 71a Abs. 3 Satz 2 StPO/ZH
ausgeschlossen; die angefochtene Verfügung ist demnach letztinstanzlich (Art.
80 Abs. 1 BGG).

Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist das Gesuch um vorzeitigen
Strafantritt bzw. die Gesuchsablehnung durch das Bezirksgericht. Soweit sich
der Beschwerdeführer gegen andere Verfahrensschritte wendet, ist auf die
Beschwerde nicht einzutreten. Dies gilt namentlich für die Kritik an der
Anordnung der Sicherheitshaft.

2.
Das Bezirksgericht wies das Gesuch um vorzeitigen Strafantritt mit Verweis auf
das Strafurteil vom 7. Mai 2008 ab. Es habe in diesem Urteil ganz bewusst und
mit Bedacht eine stationäre Massnahme im Sinne von Art. 59 StGB angeordnet und
die Freiheitsstrafe zugunsten dieser Massnahme aufgeschoben. Ein vorzeitiger
Vollzug könne daher nur als Massnahmevollzug gewährt werden. Demgegenüber sei
ein vorzeitiger Strafantritt nicht möglich, weil der Beschwerdeführer an einer
schweren psychischen Störung leide. In der Vernehmlassung ergänzt das
Bezirksgericht, es habe im Strafurteil in Übereinstimmung mit der Empfehlung
des Psychiaters entschieden, wonach beim Beschwerdeführer angesichts der
schweren psychischen Störung und des damit zusammenhängenden Rückfallrisikos
anstelle des Vollzugs der Freiheitsstrafe nur eine stationäre Massnahme gemäss
Art. 59 StGB in Frage komme. Ein Antrag auf vorzeitigen Massnahmeantritt
(statt: Strafantritt) wäre daher auch ohne Weiteres bewilligt worden.

3.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Willkürverbots und des Rechts auf
persönliche Freiheit, indem er weiterhin in Sicherheitshaft gehalten werde,
statt dass der vorzeitige Strafantritt bewilligt werde. Es gehe bei der
Bewilligung des vorzeitigen Straf- oder Massnahmeantritts um dieselbe
Fragestellung. Die Staatsanwaltschaft habe mit Verfügung vom 10. März 2008
mitgeteilt, dass ein vorzeitiger Strafantritt den Zweck des Strafverfahrens
nicht gefährde. Das Bezirksgericht wolle die Anordnung einer stationären
Massnahme gemäss Art. 59 StGB, die der Beschwerdeführer als unverhältnismässig
erachte, mit allen Mitteln durchsetzen. Das Strafurteil sei jedoch nicht
rechtskräftig; es sei möglich, dass das Obergericht im Berufungsverfahren keine
stationäre Massnahme anordne und das Strafmass von 15 Monaten Freiheitsstrafe
reduziere. Von der mutmasslichen Strafe habe der Beschwerdeführer bereits
sieben Monate in Untersuchungs- und Sicherheitshaft verbracht.

4.
Gemäss dem kantonalen Strafprozessrecht (§ 71a Abs. 3 StPO/ZH) wird die
Bewilligung des vorzeitigen Straf- und Massnahmeantritts erteilt, wenn die
Anordnung einer unbedingten Strafe oder einer freiheitsentziehenden Massnahme
zu erwarten ist und der Zweck des Strafverfahrens nicht gefährdet wird.

Das Bezirksgericht hat den vorzeitigen Strafantritt als Haftform für den
Beschwerdeführer grundsätzlich abgelehnt. Aufgrund des im Strafverfahren
gewonnenen Eindrucks komme allein ein vorzeitiger Massnahmeantritt in Frage. Im
Strafverfahren wurde der Beschwerdeführer durch einen Psychiater begutachtet.
Er soll an einer ausgeprägten Persönlichkeitsstörung sowie an einer
ausgeprägten Sucht (Abhängigkeitssyndrom) leiden; beides bedarf nach Ansicht
des Psychiaters dringend der Behandlung (psychiatrisches Ergänzungsgutachten
vom 13. März 2008). Entsprechend hat das Bezirksgericht mit dem Strafurteil
eine stationäre Massnahme zur Behandlung psychischer Störungen angeordnet. Da
der Beschwerdeführer ein Rechtsmittel erhob, ist dieses Urteil nicht
rechtskräftig und das Strafverfahren dauert fort. Entsprechend liegt weiterhin
ein strafprozessualer Freiheitsentzug vor, der naturgemäss aufgrund von
vorläufigen Erkenntnissen beurteilt werden muss. In diesem Sinne ist der
Rückgriff auf die Erkenntnisse des Strafverfahrens nicht zu beanstanden. Es ist
vielmehr folgerichtig, wenn das Bezirksgericht aufgrund bisheriger Einschätzung
der psychischen Verfassung des Beschwerdeführers den vorzeitigen Vollzug nur in
Form einer stationären Massnahme als möglich erachtet. Das Gesuch des
Beschwerdeführers zielt aber spezifisch auf einen vorzeitigen Strafantritt
(nicht: Massnahmeantritt) ab. Da diese Form des vorläufigen Vollzugs beim
derzeitigen Beurteilungsstand in grundsätzlicher Weise ausgeschlossen werden
durfte, konnte das Bezirksgericht auf die Einholung einer Stellungnahme der
Staatsanwaltschaft verzichten. Die Verfassungsrügen sind unbegründet.

Die vom Beschwerdeführer angerufene Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vom
10. März 2008 ist nicht einschlägig, da sie eben gerade nicht den vorzeitigen
Massnahmeantritt (sondern den grundsätzlich ausgeschlossenen vorzeitigen
Strafantritt) betrifft und überdies in einem früheren Verfahrensstadium
verfasst wurde.

5.
Die Beschwerde ist nach dem Gesagten abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Ebenso ist der vor Bundesgericht gestellte Antrag auf Bewilligung des
vorzeitigen Strafantritts abzuweisen.

Da die Beschwerde im Sinne von Art. 64 Abs. 1 BGG aussichtslos ist, kann das
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung nicht bewilligt
werden. Aufgrund der Umstände ist jedoch ausnahmsweise auf die Erhebung von
Gerichtskosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Der Antrag auf Bewilligung des vorzeitigen Strafantritts wird abgewiesen.

3.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

4.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft See/Oberland
und dem Bezirksgericht Horgen, III. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 21. Juli 2008
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber:

Aemisegger Thönen