Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 40/2007
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2007
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2007


U 40/07

Urteil vom 5. Oktober 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Schüpfer.

Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, Hohlstrasse 552,
Rechtsdienst, 8048 Zürich, Beschwerdeführerin,

gegen

G.________, 1972, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Advokat Markus Schmid,
Lange Gasse 90, 4052 Basel.

Unfallversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Solothurn vom 27. November 2006.

Sachverhalt:

A.
A.a Die 1972 geborene G.________ war bei der Stiftung X.________ als
Küchenhilfe angestellt und in dieser Eigenschaft bei den Elvia Versicherungen
(nunmehr Allianz Suisse Versicherungen, im Folgenden: Allianz) gegen die
Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen versichert. Am 3. Mai 1997 erlitt
sie einen Unfall, bei dem sie sich schwere Verbrennungen an Gesicht, Armen
und Oberschenkeln sowie der Brust zuzog. Die Unfallversicherung richtete
Taggelder aus und kam für die Heilbehandlung auf. Nachdem G.________ im
Rahmen der Gewährung des rechtlichen Gehörs bereits darüber orientiert worden
war, teilte ihr die Allianz mit Verfügung vom 11. November 2003 mit, sie habe
ab 1. Juli 2003 Anspruch auf eine Invalidenrente basierend auf einem
Invaliditätsgrad von 58% bei einem versicherten Verdienst von Fr. 39'385.-.
Zudem werde ihr eine Entschädigung für eine Integritätseinbusse von 40%
ausgerichtet.

A.b Mit Schreiben vom 26. Februar 2004 ersuchte Rechtsanwalt Schmid, Basel,
um Einsicht in die Akten und um Informationen über die Regressforderung der
Allianz. Dem Begehren wurde am 12. März 2004 entsprochen. Rechtsanwalt Schmid
wandte sich am 10. Mai 2005 erneut an die Unfallversicherung und ersuchte um
Auskunft darüber, wie der versicherte Verdienst für die Rentenberechnung
ermittelt worden sei. Er erachte einen solchen von Fr. 43'550.- als
zutreffend. Nach weiterer Korrespondenz bezeichnete er am 8. Juli 2005 den
der Rentenberechnung zu Grunde gelegten Verdienst als offensichtlich falsch
und ersuchte um Berichtigung. Die Allianz stellte sich auf den Standpunkt,
ihre Verfügung vom 11. November 2003 sei in Rechtskraft erwachsen. Es bestehe
kein Anspruch auf Wiedererwägung. In einem weiteren Schreiben vom 2.
September 2005 liess die Versicherte nunmehr die Ansicht vertreten, sie sei
im Zeitpunkt der Rentenverfügung von einer Rechtsanwältin vertreten gewesen,
welcher kein Verfügungsexemplar zugestellt wurde, womit die Verfügung nicht
korrekt eröffnet worden sei und keine Rechtsmittelfrist zu laufen begonnen
habe. Die Allianz habe dem nunmehr beauftragten Vertreter ihre
Rentenverfügung gehörig zu eröffnen. Sei sie dazu nicht gewillt, habe sie
ihre Haltung ebenfalls in einer Verfügung darzulegen. Am 8. September 2005
erklärte die Unfallversicherung, warum sie davon ausgehe, dass G.________ im
November 2003 nicht vertreten war, die Rentenverfügung rechtskräftig sei und
auf eine Wiedererwägung kein Anspruch bestehe. Mit Eingabe vom 13. September
2005 liess die Versicherte ersuchen, die im Schreiben vom 8. September 2005
zum Ausdruck gebrachte Haltung sei in Verfügungsform zu eröffnen. Für den
Fall, dass die Allianz ihre letzte Stellungnahme bereits als Verfügung
betrachten sollte, erhob G.________ vorsorglich dagegen Einsprache mit den
Anträgen, die Rentenverfügung sei ihrem Vertreter korrekt zu eröffnen und -
eventuell - der versicherte Verdienst auf Fr. 43'550.- festzulegen. Die
Allianz lehnte sowohl den Erlass der Verfügung wie auch die Behandlung der
Einsprache ab.

B.
Mit Rechtsverweigerungsbeschwerde vom 13. Oktober 2005 liess G.________ die
Anträge stellen, die Allianz sei zu verpflichten, innert dreissig Tagen nach
Rechtskraft des Entscheides verfügungsweise darüber zu befinden, dass sie
nicht bereit sei, die Verfügung vom 11. November 2003 dem Vertreter der
Beschwerdeführerin neu zu eröffnen, und dass sie für den Eventualfall nicht
bereit sei, die Verfügung in Wiedererwägung zu ziehen. Das
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn erkannte in Gutheissung der
Beschwerde, dass die Allianz eine Verfügung zur Frage zu erlassen habe, ob
die Rentenverfügung vom 11. November 2003 in Rechtskraft erwachsen sei, oder
ob wegen mangelhafter Zustellung erneut über den Rentenanspruch verfügt
werden müsse. Für den Fall der Rechtskraft habe sie den Entscheid über das
Wiedererwägungsgesuch - auch ein Nichteintreten - in Verfügungsform zu
erlassen (Entscheid vom 27. November 2006).

C.
Die Allianz führt mit den Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

G. ________ stellt mit Hinweis auf den inzwischen ergangenen BGE 133 V 50
ausdrücklich keinen Antrag zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das
Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung verzichtet .

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene
Entscheid vor dem 1. Januar 2007 ergangen ist, richtet sich das Verfahren
noch nach dem bis zum 31. Dezember 2006 in Kraft gewesenen Bundesgesetz vom
16. Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG; Art. 131
Abs. 1 und Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
2.1 Der angefochtene Entscheid über eine Rechtsverweigerungsbeschwerde hat
nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen zum
Gegenstand. Das Bundesgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie
Art. 105 Abs. 2 OG).

2.2 Strittig ist einerseits, ob die Beschwerdeführerin über die Frage, ob
ihre Rentenverfügung vom 11. November 2003 in Rechtskraft erwachsen ist, in
Form einer Verfügung zu entscheiden hat, und andererseits, ob, falls diese
Verfügung rechtskräftig ist, das Nichteintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch
in Verfügungsform oder in einfacher Schriftform zu erfolgen hat.

3.
3.1 Das kantonale Gericht beruft sich auf Art. 49 ATSG, wonach ein
Versicherungsträger über Leistungen, Forderungen und Anordnungen, die
erheblich sind oder mit denen die betroffene Person nicht einverstanden ist,
eine Verfügung zu erlassen hat. Es kommt zum Schluss, die Frage der
Rechtskraft könne nur geklärt werden, wenn darüber verfügt werde.

Bei der Frage, ob eine Verfügung in Rechtskraft erwachsen sei, handelt es
sich entgegen der Vorinstanz weder um eine solche über Leistungen,
Forderungen noch Anordnungen. Das gilt auch dann, wenn in der besagten
Verfügung über erhebliche Leistungen entschieden wird. Die Versicherte
verlangt von der Beschwerdeführerin die in eine Verfügung gekleidete
Feststellung, über die Rechtskraft einer Leistungsverfügung. Dem Begehren um
Erlass einer Feststellungsverfügung ist zu entsprechen, wenn die
gesuchstellende Person ein schützenswertes Interesse glaubhaft macht (Art. 49
Abs. 2 ATSG). Erforderlich ist ein rechtliches oder tatsächliches und
aktuelles Interesse an der sofortigen Feststellung des Bestehens oder
Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses, dem keine erheblichen öffentlichen
oder privaten Interessen entgegenstehen, und welches nicht durch eine
rechtsgestaltende Verfügung gewahrt werden kann (BGE 130 V 391 Erw. 2.4, 129
V 290 Erw. 2.1, je mit Hinweisen; vgl. auch Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, N 19
zu Art. 49, wonach "schützenswert" gleich zu verstehen ist wie "schutzwürdig"
im Sinne von Art. 25 Abs. 2 VwVG und Art. 59 ATSG). Nach dem Wortlaut des
Art. 49 Abs. 2 ATSG genügt das Glaubhaftmachen eines rechtlichen oder
tatsächlichen und aktuellen Interesses an der sofortigen Feststellung des
Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses für den Erlass einer
Feststellungsverfügung (Kieser, a.a.O., N 18 zu Art. 49).

3.2 Die Versicherte und das kantonale Gericht gehen davon aus, ihr
Rechtsschutzinteresse an einer entsprechenden Feststellungsverfügung liege
darin, dass nur so richterlich geprüft werden könne, ob die Verfügung vom 11.
November 2003 rechtskräftig geworden sei. Das ist unzutreffend. Ist eine
Leistungsverfügung nicht in formelle Rechtskraft erwachsen - wovon die
Versicherte nach eigenen Angaben ausgeht - kann dagegen ein Rechtsmittel
ergriffen werden. Sie kann also gegen die Verfügung Einsprache erheben, in
welchem Verfahren die Unfallversicherung dann - eventuell mittels
Nichteintreten - ihren Standpunkt über die Rechtskraft darstellen kann. Gegen
diesen Nichteintretensentscheid stehen der Versicherten dann die ordentlichen
Rechtsmittel offen. Damit besteht für eine reine Feststellungsverfügung
mangels Rechtsschutzinteresses kein Raum, weshalb das kantonale Gericht
Bundesrecht verletzte, wenn es die Beschwerdeführerin in Gutheissung der
Rechtsverweigerungsbeschwerde zum Erlass einer solchen verurteilte.

4.
Weiter ist zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin die als "Einsprache"
betitelte Eingabe der Versicherten vom 13. September 2005 als solche gegen
ihre Verfügung vom 11. November 2003 hätte entgegennehmen und im Sinne des
eben Dargelegten prüfen müssen.

In dieser Eingabe wird beantragt, die (Renten-)Verfügung sei dem
Rechtsvertreter des Herrn (recte: Frau) G.________ korrekt zu eröffnen und -
eventuell - sei der versicherte Verdienst auf Fr. 43'550.- festzulegen.
Nachdem die "rein vorsorglich" erhobene "Einsprache" aber auf den Fall
beschränkt wurde, dass die Stellungnahme der Allianz vom 8. September 2005
von dieser als Verfügung betrachtet würde, sich also ausdrücklich nicht gegen
die Verfügung vom 11. November 2003 richtete, ist der Unfallversicherung kein
Fehlverhalten vorzuwerfen, wenn sie diese Eingabe nicht als entsprechende
Einsprache entgegengenommen hat.

5.
Schliesslich ist auch auf die vom kantonalen Gericht beantwortete Frage
einzugehen, in welcher Form das Nichteintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch
zu erfolgen hat.

5.1 Gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger auf formell
rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese
zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher
Bedeutung ist. Diese Bestimmung wurde in Anlehnung an die bis zum
Inkrafttreten des ATSG (am 1. Januar 2003) von der Rechtsprechung
entwickelten Kriterien (BGE 127 V 466 E. 2c S. 469 oben mit Hinweisen)
erlassen. Dabei wird in Übereinstimmung mit Lehre und Rechtsprechung das
Zurückkommen auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide
beim Fehlen eigentlicher Revisionsgründe weiterhin in das Ermessen des
Versicherungsträgers gelegt (vgl. BBl 1991 II 262). Die bisherige
Rechtsprechung, wonach die Verwaltung weder vom Betroffenen noch vom Gericht
zu einer Wiedererwägung verhalten werden kann und mithin kein gerichtlich
durchsetzbarer Anspruch auf Wiedererwägung besteht (BGE 117 V 8 E. 2a S. 12
mit Hinweisen; vgl. auch BGE 119 V 475 E. 1b/cc S. 479), wurde demnach in
Art. 53 Abs. 2 ATSG gesetzlich verankert (BGE 133 V 50 E. 4.1 S. 52 und E.
4.2.1 S. 54; Kieser, ATSG-Kommentar, N. 22 zu Art. 53, Urteile S. vom 13.
November 2006, H 51/04 und P. vom 19. März 2007, I 896/06).

5.2 Auf eine Beschwerde gegen ein Nichteintreten auf ein
Wiedererwägungsgesuch oder allenfalls gegen einen das Nichteintreten
bestätigenden Einspracheentscheid der Verwaltung kann das Gericht nach dem
hievor Gesagten auch unter der Geltung des ATSG nicht eintreten. Art. 56 Abs.
1 ATSG weist auf diese Ausnahme vom Beschwerderecht zwar nicht ausdrücklich
hin. Sie ergibt sich aber ohne weiteres aus dem Umstand, dass das Eintreten
auf ein Wiedererwägungsgesuch im Ermessen des Versicherungsträgers liegt
(Art. 53 Abs. 2 ATSG; BGE 133 V 50 E. 4.2.1 in fine S. 54 f.). Auch eine
Einsprachemöglichkeit gegen ein Nichteintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch
ist zu verneinen (BGE 133 V 50 E. 4.2.2 S. 55). In seinem Entscheid vom 19.
März 2007 i.S. P. (I 896/06) hat das Bundesgericht sodann erkannt, dass es
nicht zu beanstanden ist, wenn ein Nichteintreten auf ein
Wiedererwägungsgesuch in einem formlosen Schreiben ohne Rechtsmittelbelehrung
(nachdem gar kein Rechtsmittel gegeben ist) und in der Regel ohne eingehende
Begründung mitgeteilt wird.

5.3 Insofern, als das kantonale Gericht mit dem angefochtenen Entscheid die
Beschwerdeführerin - im Eventualfall, dass sich die ursprüngliche
Rentenverfügung vom 11. November 2003 als rechtskräftig erweisen sollte -
dazu verhalten will, ihr Nichteintreten auf das Wiedererwägungsgesuch der
Versicherten verfügungsweise zu eröffnen, ist die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ebenfalls gutzuheissen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 27. November 2006 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 5. Oktober 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: