Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 90/2007
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I 90/07

Urteil vom 28. August 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

M.________, 1961, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwältin Dr.
Elisabeth Glättli, Mühlebachstrasse 32, 8008 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
vom 29. November 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1961 geborene M.________ meldete sich im Juni 2004 bei der
Invalidenversicherung zum Bezug von Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art
und einer Rente an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich klärte die
gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse ab. Unter anderem liess sie
die Versicherte durch Dr. med. S.________, Orthopädische Chirurgie FMH/FMS,
untersuchen und begutachten (Expertise vom 12. Juni 2005). Mit Verfügung vom
12. August 2005 verneinte die IV-Stelle den Anspruch von M.________ auf eine
Invalidenrente, was sie mit Einspracheentscheid vom 10. November 2005
bestätigte.

B.
Die Beschwerde der M.________ wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 29. November 2006 ab.

C.
M.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
Gerichtsentscheid und Einspracheentscheid seien aufzuheben und es sei ihr
mindestens eine halbe Invalidenrente zuzusprechen; eventualiter sei die Sache
zwecks erneuter unabhängiger Begutachtung an die IV-Stelle zurückzuweisen.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Der angefochtene Entscheid ist am 29. November 2006 ergangen. Das Verfahren
richtet sich somit nach dem Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege (OG). Das am 1. Januar 2007 in Kraft getretene
Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG [AS 2006 1205 ff.,
1243]) ist insoweit nicht anwendbar (Art. 132 Abs. 1 BGG).
Die Kognition im vorliegenden Streit um eine Rente der Invalidenversicherung
bestimmt sich nach Art. 132 OG, in der ab 1. Juli 2006 gültig gewesenen
Fassung (BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). Es ist daher nur zu prüfen, ob die
Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder
Missbrauch des Ermessens (Art. 104 lit. a OG), oder ob sie den
rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder
unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt hat.

2.
2.1 Nach der Rechtsprechung ist für den Beweiswert eines Arztberichtes
entscheidend, ob er für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen
Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in
Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der
medizinischen Zusammenhänge und der medizinischen Situation einleuchtet und
ob die Schlussfolgerungen des Verfassers begründet sind (BGE 125 V 351 E. 3a
S. 352 mit Hinweis).

2.2 Liegen einander widersprechende medizinische Berichte vor, darf das
kantonale Versicherungsgericht im Rahmen der Rechtsanwendung (unter
Einschluss der Feststellung im Sinne der Würdigung des Sachverhalts) von
Amtes wegen (Art. 61 lit. c und d ATSG) den Prozess nicht erledigen, ohne das
gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, weshalb es auf
die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt (BGE 125 V 351
E. 3a S. 352; RKUV 2003 Nr. U 487 S. 345 E. 5.1 [U 38/01]).

3.
Das kantonale Gericht hat festgestellt, auf Grund des Gutachtens des Dr. med.
S.________ vom 12. Juni 2005 sei die Versicherte in einer leidensangepassten,
körperlich leichten bis mittelschweren, wechselbelastenden Tätigkeit
uneingeschränkt arbeitsfähig. Bei der aktuell ausgeübten Tätigkeit als
kaufmännische Angestellte handle es sich um eine solche
behinderungsangepasste Beschäftigung. Da die Versicherte im Gesundheitsfall
zu 100% im kaufmännischen Bereich erwerbstätig wäre und ihr diese Arbeit
vollumfänglich zumutbar sei, erleide sie keine Einkommenseinbusse. Der
Invaliditätsgrad betrage daher 0%, was den Anspruch auf eine Invalidenrente
ausschliesse (vgl. Art. 28 Abs. 1 IVG und BGE 115 V 133 E. 2 S. 133).

4.
In der - weitgehend appellatorischen - Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird
geltend gemacht, das Gutachten des Dr. med. S.________ vom 12. Juni 2005
genüge den von der Rechtsprechung formulierten Kriterien für den vollen
Beweiswert ärztlicher Berichte nicht.

4.1 Vorab werde bestritten, dass der Experte als Orthopäde die geeignete
Fachperson zur Beurteilung der degenerativen rheumatischen Erkrankung sei.

Das kantonale Gericht ist dem selben Einwand mit dem Hinweis darauf begegnet,
Ärzte dieser Fachrichtung befassten sich mit Störungen und Anomalien in Form
oder Funktion des Stütz- und Bewegungsapparates (vgl. Pschyrembel, Klinisches
Wörterbuch, 260. Aufl., S. 1324). Orthopäden könnten daher grundsätzlich
geeignet sein, die Arbeitsfähigkeit bei Rückenbeschwerden zu beurteilen.

Die Beschwerdeführerin wurde auf Zuweisung ihres Hausarztes im Mai und Juni
2004 in der Rheumaklinik des Universitätsspitals Z.________ untersucht und
behandelt (Bericht vom 8. Juni 2004). Ab 19. Juli 2004 stand sie beim
Rheumatologen Dr. med. B.________ in Behandlung. Die Diagnosen
lauteten: «Chronisches lumbospondylogenes Syndrom bei instabiler
Osteochondrose auf Höhe L5/S1 mit Facettensyndrom und Cervicospondylogenes
Syndrom links bei Fehlhaltung mit muskulärer Dysbalance» (Berichte vom
19. November 2004 und 9. Mai 2005). Die Beurteilung einer Osteochondrose der
Wirbelsäule gehört durchaus in den Kompetenzbereich von orthopädischen
Chirurgen. Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon
deshalb offensichtlich unrichtig, weil sie auf einem Gutachten orthopädischer
und nicht rheumatologischer Fachrichtung beruht.

4.2 Im Weitern frage sich, ob dem Gutachter überhaupt die vollständigen Akten
zur Verfügungen gestanden seien.

Dr. med. S.________ führte in seiner Expertise vom 12. Juni 2005 einleitend
aus, sein Bericht stütze sich u.a. auf die ihm überlassenen Akten. Es besteht
kein Grund zur Annahme, dass dem Gutachter nicht sämtliche bis zur
Auftragserteilung Ende Mai 2005 erstellten und der IV-Stelle eingereichten
medizinischen Unterlagen, insbesondere der Bericht des behandelnden
Rheumatologen Dr. med. B.________, vom 9. Mai 2005, zur Verfügung standen.

4.3 Schliesslich habe Dr. med. S.________ die immer noch bestehenden Hals-
und Nackenbeschwerden nicht berücksichtigt.

Dr. med. S.________ fand bei der klinischen Untersuchung eine völlig
unauffällige Halswirbelsäule. Gemäss dem orthopädischen Gutachter habe die
Versicherte bei der Befragung auch keine Hals- und Nackenschmerzen mehr
angegeben. Er stellte die Diagnose eines lumbo-spondylogenen Schmerzsyndroms
bei massiver Osteochondrose L5/S1 mit u.a. «Aktuell kein Zervikal-Syndrom bei
Status nach Zervikalgie, abgeheilt». Die Diskrepanz zum behandelnden
Rheumatologen in der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit führte der Experte mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf zurück, dass «seinerzeit zusätzlich
ein hartnäckiges Zervikal-Syndrom bestand, das heute vollständig verschwunden
ist». Wenn das kantonale Gericht aufgrund dieser Aussagen von einer
Arbeitsfähigkeit von 100% insbesondere bei der aktuell und auch ohne
gesundheitliche Beeinträchtigung ausgeübten Tätigkeit als kaufmännische
Angestellte ausgegangen ist, kann weder von einer offensichtlich unrichtigen
noch auf willkürlicher Beweiswürdigung beruhenden Sachverhaltsfeststellung
gesprochen werden. Daran ändert nichts, dass der behandelnde Rheumatologe
anlässlich seiner letzten Untersuchung am 30. März 2005 noch
belastungsabhängige Nackenschmerzen festgestellt und lediglich eine
Arbeitsfähigkeit von 50% attestiert hatte (Bericht vom 9. Mai 2005).

4.4 Unbegründet ist schliesslich die Rüge, das rechtliche Gehör sei verletzt,
indem der Einspracheentscheid auf die gerügten Mängel des Gutachtens
S.________ nicht eingegangen sei. Einerseits braucht sich die Behörde nicht
ausdrücklich mit jedem Vorbringen auseinanderzusetzen und andererseits hat
sich die Vorinstanz mit der Kritik befasst und hat auch den Umstand
gewürdigt, dass der Gutachter teilweise wohl von einer unzutreffenden
Krankengeschichte ausgegangen ist.

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 zweiter Satz OG, in Kraft
gestanden vom 1. Juli bis 31. Dezember 2006). Dem Prozessausgang entsprechend
sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1
OG in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 28. August 2007
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: