Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 88/2007
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I 88/07

Urteil vom 11. Januar 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.

S. ________, 1998, Beschwerdeführerin, handelnd durch ihren Vater und dieser
vertreten durch Fürsprecher Stefan Rolli, Seilerstrasse 9, 3001 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern vom 18. Dezember 2006.

Sachverhalt:

A.
A.a Die am 8. Juni 1998 geborene S.________ bezog wegen eines
Geburtsgebrechens (frühkindlicher Autismus) seit 18. Februar 2002 Leistungen
der Invalidenversicherung (heilpädagogische Früherziehung im
vorschulpflichtigen Alter). Am 20. Juni 2002 liess S.________, vertreten
durch ihre Mutter, um Zusprechung eines Pflegebeitrages ersuchen. Die
IV-Stelle des Kantons Bern wies das Leistungsbegehren mit Verfügung vom
1. November 2002 ab.

In der Folge ersuchte der Vater von S.________ um Übernahme der Kosten für
eine diätetische Behandlung seiner Tochter in Frankreich und liess der
IV-Stelle umfangreiche diesbezügliche Unterlagen zukommen. Die IV-Stelle
beauftragte die universitären Psychiatrischen Dienste, Kinder- und
Jugendpsychiatrische Klinik X.________ (Frau Dr. med. I.________), mit einem
Gutachten vom 15. Januar 2004, und holte eine Stellungnahme des Bundesamtes
für Sozialversicherungen (BSV) vom 19. November 2004 ein. Mit Verfügung vom
17. Dezember 2004 wies sie das Leistungsbegehren ab.
Nachdem S.________ am 12. Juli 2004 von ihrem Vater zusätzlich zum Bezug
einer Hilflosenentschädigung angemeldet worden war, veranlasste die IV-Stelle
einen Abklärungsbericht vom 27. Dezember 2004 und verfügte darüber am 30.
Dezember 2004.

A.b Gegen die Verfügungen vom 17. und 30. Dezember 2004 liess S.________,
vertreten durch ihren Vater, Einsprachen erheben und einerseits um Übernahme
der Kosten für medizinische Massnahmen, anderseits um den Verzicht auf eine
Wartezeit und die Zusprechung von Pflegebeiträgen bei einer Hilflosigkeit
mindestens mittleren Grades sowie eines Intensivpflegezuschlages ersuchen.
Die IV-Stelle bestätigte ihre Verfügungen mit zwei Einspracheentscheiden vom
10. Mai 2005.

B.
Gegen beide Verfügungen liess S.________, weiterhin vertreten durch ihren
Vater, Beschwerden erheben. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
vereinigte die beiden Verfahren (Verfügung vom 1. Juli 2005). Mit Entscheid
vom 18. Dezember 2006 hiess es die Beschwerde betreffend
Hilflosenentschädigung teilweise gut und wies die IV-Stelle an, ab 1. Juli
2003 einen Pflegebeitrag bzw. Hilflosenentschädigung für mittlere
Hilflosigkeit ab 1. Juli 2003 auszurichten und über den Anspruch auf
Verzugszinsen neu zu verfügen. Die Beschwerde betreffend medizinische
Massnahmen wies es ab.

C.
Die nunmehr durch Fürsprecher Stefan Rolli, Bern, vertretene S.________ lässt
hiegegen Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheides sowie des Einspracheentscheides beantragen,
soweit die Kostenübernahme für die Abklärung und Behandlung der
Schwermetallbelastung sowie der Darmpilzerkrankung verweigert werde. Weiter
sei die Sache zu neuem Entscheid an die IV-Stelle zurückzuweisen.

IV-Stelle und Bundesamt für Sozialversicherungen schliessen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die Vorinstanz verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR
173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung.
Da die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach dem 1. Juli 2006 anhängig gemacht
worden ist, bestimmt sich die Kognition nach Art. 132 OG in der seit 1. Juli
2006 geltenden Fassung (BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). Das Bundesgericht prüft
somit nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte,
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der
rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder
unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde.

2.
Das kantonale Gericht legt folgende Bestimmungen zutreffend dar: Art. 3 Abs.
2 ATSG (Begriff des Geburtsgebrechens), Art. 12 und 13 IVG (betreffend den
Anspruch auf medizinische Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen und bei
Geburtsgebrechen im Besonderen), Art. 2 Abs. 1 Satz 2 IVV (bezüglich der für
die Leistungspflicht der Invalidenversicherung vorausgesetzten
Wissenschaftlichkeit der medizinischen Massnahmen). Darauf wird verwiesen.

Weiter hat die Vorinstanz festgestellt, dass die Beschwerdeführerin an
frühkindlichem Autismus, einem Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff. 401
GgV-Anhang, leidet und deshalb grundsätzlich Anspruch auf medizinische
Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung hat. Streitig und zu
prüfen ist einzig, ob die Invalidenversicherung die Kosten für die Abklärung
und Behandlung der (behaupteten) Schwermetallbelastung (mittels einer
sogenannten Chelat-Therapie, d.h. eines Verfahrens zur Ausleitung von
Schwermetallen) sowie für die Behandlung eines Darmpilzes (Candida albicans)
mit dem Antibiotikum Nystatin zu übernehmen hat.

3.
3.1
3.1.1 Die Vorinstanz erwog gestützt auf das Gutachten der Frau Dr. med.
I.________ vom 15. Januar 2004 und die Stellungnahme des BSV vom 19. November
2004, in der (medizinischen) Literatur seien sich die Fachleute einig, dass
der Autismus keine einheitliche Ursache habe und es bislang auch keine
Therapie gebe, die den Anforderungen wissenschaftlicher Untersuchungen
standhalte. Hypothesen der Biomediziner auf den Gebieten Gastroenterologie,
Immunologie und Toxikologie würden weiter verfolgt. Gestützt auf die
Aktenlage verbiete sich aber die Annahme, dass es sich bei der gluten- und
caseinfreien Diät um eine wissenschaftlich anerkannte Massnahme handle. Es
gebe lediglich Hinweise darauf, dass die Diät (im Verbund mit anderen
Massnahmen) zu einer Verbesserung des Krankheitsbildes führen könne. Vor
diesem Hintergrund entsprächen die Behandlungen aber nicht bewährter
Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft, so dass hiefür keine
Leistungspflicht der Invalidenversicherung bestehe.

3.1.2 Demgegenüber bringt die Versicherte vor, der rechtserhebliche
Sachverhalt sei sowohl bezüglich der Schwermetallbelastung als auch
hinsichtlich der antimykotischen Behandlung unvollständig festgestellt
worden. Aus den von ihr ins Recht gelegten umfangreichen Unterlagen gehe
hervor, dass zwischen Schwermetallbelastung und Autismus ohne Zweifel ein
Zusammenhang bestehe. Die Chelat-Therapie bei Autisten mit erhöhter
Schwermetallbelastung entspreche heute praktisch einer medizinischen
Standardbehandlung und sei wissenschaftlich anerkannt. Weder das BSV noch die
Beschwerdegegnerin hätten sich mit der Chelat-Therapie eingehend
auseinandergesetzt und sich mit dem Hinweis begnügt, es stünden lediglich
Frühförderungsmassnahmen zur Verfügung. Auch hätten sich BSV und IV-Stelle
nicht materiell mit der beantragten Kostengutsprache für die Abklärungen und
die antimykotischen Behandlungsmassnahmen bezüglich der bei ihr
diagnostizierten Darmpilze, welche in der Regel zum Krankheitsbild eines
autistischen Menschen gehörten, befasst. Die Vorinstanz äussere sich
überhaupt nicht zur beantragten Kostengutsprache für die Abklärungs- und
Behandlungsmassnahmen bezüglich der Schwermetallbelastung und der
Darmpilzerkrankung.

3.2 Es trifft zu, dass im angefochtenen Entscheid lediglich der Diät der
Charakter einer wissenschaftlich anerkannten Massnahme zur Therapie des
(frühkindlichen) Autismus explizit abgesprochen wurde und das kantonale
Gericht eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung weder für die
Abklärung und Behandlung der Schwermetallbelastung noch für eine
antimykotische Therapie ausdrücklich verneinte. Indessen hielt die Vorinstanz
in der Sachverhaltsschilderung fest, die Versicherte habe nicht nur die
Übernahme der Kosten diätetischer Massnahmen, sondern auch weiterer
"Massnahmen im Ausland" beantragt und erwog in Würdigung des Gutachtens der
Frau Dr. med. I.________ vom 15. Januar 2004, welches sich mit der
Wissenschaftlichkeit der Chelat- und Candida albicans-Behandlung
auseinandersetzt, und der Stellungnahme des BSV vom 19. November 2004, es
existiere bislang keine Therapiemassnahme, die den Anforderungen
wissenschaftlicher Untersuchungen standhalte (E. 3.1.1 hievor). Daraus geht
hinreichend deutlich hervor, dass das kantonale Gericht eine Leistungspflicht
der Invalidenversicherung für die Behandlung allfälliger biochemischer
Ursachen des Autismus mangels wissenschaftlicher Anerkennung generell
verneinte und damit eine Kostenübernahme der IV sowohl für die in
Zusammenhang mit der Diagnose und Behandlung einer Schwermetallbelastung als
auch für die Therapie des Darmpilzes ablehnte. Dies geht schliesslich auch
aus der im Dispositiv verwendeten Formulierung hervor, wo von medizinischen
Massnahmen - und nicht nur von einer einzelnen Massnahme - die Rede ist. Es
kann somit nicht gesagt werden, die Vorinstanz hätte nicht alle relevanten
Tatsachen ermittelt, die für die Prüfung des Leistungsanspruches nötig sind
und damit den Sachverhalt unvollständig festgestellt; ebenso fehlt es an
einer unrichtigen oder in Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften
(insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör) ergangener
Sachverhaltsermittlung (BGE 129 I 232 E. 3.2 S. 236 mit Hinweisen).

3.3 Zu prüfen bleibt, ob die Vorinstanz die Leistungspflicht der
Invalidenversicherung für die Chelat-Therapie und die antimykotische
Behandlung zu Recht verneint hat.

3.3.1 Nach derzeitigem Wissensstand sind, worauf im angefochtenen Entscheid
zutreffend hingewiesen wird, die Ursachen des Autismus vielfältig, aber noch
nicht im Einzelnen bekannt. Im Zentrum stehen genetische Einflüsse,
Hirnschädigungen bzw. Hirnfunktionsstörungen sowie (möglicherweise genetisch
bedingte) Störungen der kognitiven und emotionalen Entwicklung (vgl. Bernhard
Blanz/Helmut Remschmidt/ Martin H. Schmidt/Andreas Warnke, Psychische
Störungen im Kindes- und Jugendalter, Stuttgart/New York 2006, S. 78 f.;
Hans-Christoph Steinhausen, Psychische Störungen bei Kindern und
Jugendlichen, 5. A., München/Jena 2002, S. 62 f.). Bisher liess sich
insbesondere keine der vielfältigen biochemischen Hypothesen zur Entstehung
von Autismus widerspruchsfrei bestätigen (Steinhausen, a.a.O., S. 53).
Mangels wissenschaftlich hinreichend nachgewiesenem Zusammenhang zwischen
erhöhten Schwermetallkonzentrationen und Autismus können die (in Frankreich
durchgeführten) Laboruntersuchungen somit nicht zu Lasten der
Invalidenversicherung gehen (hiezu auch: Anna Barbara Stalder,
Konservierungsmittel in Impfstoffen - die Situation in der Schweiz, in:
Schweizerische Ärztezeitung 2005 S. 1721 ff., insbesondere S. 1727 f., sowie
die im New England Journal of Medicine am 27. September 2007 [Volume 357 No.
13 S. 1281 ff.] publizierte Studie zur "Early Thiomerosal Exposure and
Neuropsychological Outcomes at 7 to 10 Years" [die keinen Zusammenhang
zwischen einer frühen Quecksilber-Exposition und neuropsychologischen
Defiziten nachzuweisen vermochte]). Im Übrigen weist das BSV in seiner
Vernehmlassung vom 29. März 2007 zutreffend darauf hin, dass die am 5.
September 2002 im Laboratoire A.________, gemessenen
Schwermetallkonzentrationen mit Ausnahme der leicht erhöhten, aber noch unter
der toxischen Grenze liegenden Kupferkonzentration im Normbereich lagen und
eine Therapie zur Ausleitung von Schwermetallen schon aus diesem Grund nicht
angezeigt war. Die Chelat-Therapie (welche in medizinischen Kreisen heftig
umstritten ist und als risikoreich gilt; vgl. den Morbidity and Mortality
Weekly Report [MMWR] des amerikanischen Center for Disease Control and
Prevention vom 3. März 2006, S. 204 ff.) wäre somit - selbst wenn deren
Wirksamkeit wissenschaftlich hinreichend erstellt wäre - ohnehin nicht
indiziert gewesen.

3.4 Es trifft zu, dass bei autistischen Kindern eine Häufung
gastrointestinaler Beschwerden (Durchfälle, Obstipation, Bauchschmerzen)
beobachtet wurde. Ob diese Probleme Teilursache oder mögliche Folge eines
autistischen Leidens bei Kindern ist, konnte bislang noch nicht geklärt
werden (Stalder, a.a.O., S. 1728). Eine Candida albicans-Wucherung als
potenzielle Teilursache autistischer Leiden ist nach aktuellem medizinischen
Erkenntnisstand erst eine Hypothese, die namentlich von Autismusexperten auf
dem Gebiet der Biomedizin vertreten wird. Frau Dr. med. I.________ weist in
ihrem Gutachten überdies darauf hin, dass die in Einzelfällen beobachteten
beachtlichen Verbesserungen nach der Behandlung mit Nystatin einen spät und
im Zuge einer Infektionsbehandlung mit Antibiotika aufgetretenen - also
keinen frühkindlichen - Autismus betrafen und viele Candida-Stämme auf dieses
Antibiotikum resistent sind. Die antimykotische Behandlung des frühkindlichen
Autismus mit Nystatin kann somit mangels genügendem wissenschaftlichen
Nachweis derzeit ebenfalls nicht von der Invalidenversicherung übernommen
werden. Im Übrigen wäre - selbst wenn die Wirksamkeit dieser Therapie
nachgewiesen wäre - nicht erstellt, dass damit der Erfolg in einfacher und
zweckmässiger Weise erreicht wird.

3.5 Zu keinem anderen Schluss führt, dass sowohl die Chelat-Therapie wie auch
die antimykotische Behandlung - und im Übrigen auch die gluten- und
caseinfreie Diät - gegenwärtig von einigen Autismusexperten als
wahrscheinlich in vielen Fällen positiv gewertet werden. Es müssen auch in
Berücksichtigung der stark ideologisch gefärbten Diskussion möglicher
Behandlungsmethoden des (frühkindlichen) Autismus jedenfalls weitere
Untersuchungsergebnisse abgewartet werden, bevor über die Wirksamkeit dieser
Behandlungen genauere Aussagen gemacht werden können.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. Januar 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Bollinger Hammerle