Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 86/2007
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{T 7}
I 86/07

Urteil vom 29. März 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiberin Amstutz.

G. ________, 1959, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Gabi Kink,
Sonnengut 4, 5620 Bremgarten,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Aargau
vom 13. September 2006.

Sachverhalt:

A.
G. ________ (geb. 1959) war zuletzt vom 15. Mai 2000 bis zur Auflösung des
Arbeitsverhältnisses wegen schlechter Wirtschaftslage auf 31. Mai 2002 als
Hilfsarbeiterin in der Firma Q.________ AG beschäftigt (Herstellung von
Verpackungsmaterial). Am 3. Juni 2002 eröffnete ihr die Öffentliche
Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau eine Rahmenfrist zum Bezug von
Arbeitslosenentschädigung, wobei die Versicherte ab 30. November 2002 als
nicht vermittlungsfähig galt. Ab 1. Oktober 2002 richtete ihr die Winterthur
Versicherungen Krankentaggeld aus.
Am 7./12. Januar 2004 meldete sich G.________ unter Hinweis auf seit
1. Oktober 2002 bestehende Rückenbeschwerden bei der Invalidenversicherung
zum Rentenbezug an. In medizinischer Hinsicht holte die IV-Stelle des Kantons
Aargau einen Bericht des behandelnden Dr. med. H.________, Arzt für
Allgemeine Medizin FMH, vom 18. Februar 2004 ein, dem ein Bericht der Klinik
X.________ vom 12. November 2002 beilag. Am 16. November 2004 äusserte sich
Dr. med. H.________ über den Verlauf, was die IV-Stelle veranlasste, sich bei
der Rehaklinik Y.________ zu erkundigen (Bericht vom 6. Dezember 2004 mitsamt
Austrittsbericht vom 29. Oktober 2003 über die Hospitalisation vom
23. September bis 14. Oktober 2003). Gestützt auf diese Abklärungen lehnte
die IV-Stelle den Anspruch auf Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von
10 % ab (Verfügung vom 22. April 2005), was sie auf Einsprache hin und nach
Beizug eines Berichtes des neu behandelnden Rheumatologen Dr. med. B.________
vom 1. Juli 2005 durch Einspracheentscheid vom 18. Oktober 2005 bestätigte.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau mit Entscheid vom 13. September 2006 ab.

C.
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
es seien der kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben und die Sache "zur
weiteren Abklärung (Einholung eines interdisziplinären
rheumatologischen/orthopädischen und psychiatrischen Gutachtens) an die
Vorinstanz, eventuell an die IV-Stelle zurückzuweisen"; subeventuell sei ihr
ab 1. Oktober 2003 eine ganze Invalidenrente nebst Zusatzrente für den
Ehemann und Kinderrenten zuzusprechen. Ferner wird um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege, einschliesslich der unentgeltlichen
Verbeiständung, ersucht. Auf die einzelnen Vorbringen wird, soweit
erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.
Das Versicherungsgericht verzichtet auf Bemerkungen zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde; die IV-Stelle beantragt deren Abweisung. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen hat von einer Vernehmlassung abgesehen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach dem bis Ende 2006 in Kraft gestan-denen Bundesgesetz vom 16. Dezember
1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE
132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Das
Bundesgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht
verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder
ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig
oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde
(Art. 132 Abs. 2 OG [in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom
16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG, in Kraft seit 1. Juli 2006] in
Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

3.
Das Administrativverfahren vor der IV-Stelle, welches zur Verfügung und - im
Bestreitungsfall - zum Einspracheentscheid führt, wie auch  der kantonale
Sozialversicherungsprozess sind vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht
(Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG). Danach haben IV-Stelle und
Sozialversicherungsgericht den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen
festzustellen. Diese Untersuchungspflicht dauert so lange, bis über die für
die Beurteilung des streitigen Anspruchs erforderlichen Tatsachen
hinreichende Klarheit besteht. Der Untersuchungsgrundsatz weist enge Bezüge
zum - auf Verwaltungs- und Gerichtsstufe ebenfalls in gleicher Weise
geltenden - Prinzip der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c in fine ATSG;
Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, Zürich/Basel/Genf 2003, N 26 zu Art. 43) auf
(einschliesslich die antizipierte Beweiswürdigung; vgl. BGE 124 V 90 E. 4b
S. 94, 122 V 157 E. 1d S. 162): Führt die pflichtgemässe, umfassende und
sachbezogene Beweiswürdigung (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352) den
Versicherungsträger oder das Gericht zur Überzeugung, der Sachverhalt sei
hinreichend abgeklärt, darf von weiteren Untersuchungen (Beweismassnahmen)
abgesehen werden. Ergibt die Beweiswürdigung jedoch, dass erhebliche Zweifel
an Vollständigkeit und/oder Richtigkeit der bisher getroffenen
Tatsachenfeststellungen bestehen, ist weiter zu ermitteln, soweit von
zusätzlichen Abklärungsmassnahmen noch neue wesentliche Erkenntnisse zu
erwarten sind.

4.
Streitig ist aufgrund der Anträge und Vorbringen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat,
indem sie eine die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit erheblich beeinträchtigende
physische oder psychische Gesundheitsschädigung und damit eine
invalidisierende Krankheitswertigkeit ohne weitere Abklärungen verneint hat.

4.1 Das kantonale Gericht ging von den Angaben des Dr. med. H.________ in
seinem ersten Bericht vom 18. Februar 2004 aus, wonach die Rückenbeschwerden
(mediale Hernierung L5/S1) überhaupt keine Arbeitsunfähigkeit verursachen;
jegliche leichte Tätigkeiten im Verkauf oder in der Produktion könnten
ausgeübt werden, wobei das Heben schwerer Lasten zu vermeiden sei. Im
Verlaufsbericht vom 16. November 2004 gab Dr. med. H.________ zusätzliche
Kniebeschwerden (Meniskusriss, Gonarthrose, Kreuzbandruptur) und Adipositas
an, weswegen die Beschwerdeführerin Probleme mit Gehen und längerem Stehen
habe. Am 6. Dezember 2004 berichtete die Rehaklinik Y.________ von einem
chronischen lumbospondylogenen Syndrom bei Verdacht auf lumbale Instabilität,
medialer Diskusprotrusion L5/S1 und Symptomausbreitung seit Oktober 2002; es
müsse von einer Schmerzchronifizierung und -verarbeitungsstörung ausgegangen
werden, und der stationäre Verlauf sei protrahiert; subjektiv hätten sich die
Beschwerden der depressiv wirkenden Versicherten nicht verändert, objektiv
sei eine Verbesserung des Bewegungsmusters und eine leichte Erhöhung der
allgemeinen Belastbarkeit festzustellen gewesen; ein Rückfall in das vor dem
Rehabilitationsaufenthalt bestehende Vermeidungs- und Schonverhalten müsse
befürchtet werden. Die Ärzte der Rehaklinik schätzten die Beschwerdeführerin
aus medizinisch-rheu-matologischer Sicht für eine rückengeeignete Tätigkeit
(mit wechselnder Belastung im Stehen, Gehen und Sitzen) als 100 %
arbeitsfähig ein. Weitere funktionelle Einschränkungen ergeben sich aufgrund
des zusätzlichen Knieleidens für Tätigkeiten mit langem Stehen, längeren
Gehstrecken oder knienden/ kauernden Körperpositionen, die nicht mehr
zumutbar sind (Bericht des medizinischen Dienstes der IV-Stelle vom 5. April
2005). Die Vorinstanz stellte auf diese als beweiskräftig erachteten
medizinischen Beurteilungen ab und sah in dem im Einspracheverfahren
beigezogenen Bericht des neuen Hausarztes Dr. med. B.________ vom 1. Juni
2005 keinen Anlass zu einer abweichenden Entscheidung. Zur Begründung führte
sie an, der hausärztliche Bericht beurteile einzig die unveränderten
somatischen Befunde anders als die Rheumatologie-Fachärzte der Rehaklinik,
und zwar aufgrund des unbefriedigenden Krankheitsverlaufs, insbesondere aber
aufgrund des ungünstigen sozialen Umfeldes mit fehlender Berufsbildung und
minimalen Sprachkenntnissen; dies aber sei - ebenso wenig wie die
Zementierung des Beschwerdebildes durch die Adipositas und depressive
Entwicklung - nicht massgebend. Angesichts der überzeugenden
Schlussfolgerungen der Rehaklinik zur "objektiv und aus gesamtmedizinischer
bzw. multidisziplinärer Sicht" vorhandenen Arbeitsfähigkeit erübrige sich
eine "erneute Begutachtung", zumal hievon keine neuen, rechtserheblichen
Erkenntnisse über das körperlich und psychisch objektiv zumutbare
Arbeitsausmass zu erwarten seien.

4.2 Die Beschwerdeführerin rügt eine offensichtlich unrichtige
Sachverhaltsfeststellung und eine Verletzung von Bundesrecht durch die
Vorinstanz. Diese habe die Notwendigkeit einer "erneuten Begutachtung"
verneint und damit den Bericht der Rehaklinik Y.________ vom 29. Oktober 2003
offensichtlich unrichtig als Gutachten qualifiziert, handle es sich doch
dabei vielmehr um einen einfachen Arztbericht, nämlich um "einen an den
Hausarzt gerichteten Austrittsbericht über den Rehabilitationsaufenthalt der
Beschwerdeführerin im Zeitraum vom 23. September bis 14. Oktober 2003".
Ebenfalls offensichtlich keine Gutachtensqualität habe der Bericht der
Rehaklinik vom 6. Dezember 2004, welcher den Fragenkatalog der IV-Stelle vom
9. November 2004 beantworte und sich dabei ausschliesslich auf den (nach
letztmaliger Untersuchung am 14. Oktober 2003) verfassten Austrittsbericht
vom 29. Oktober 2003 stütze.

4.3 Die Rüge ist begründet. (Verlaufs-)Berichte der behandelnden
(Spezial-)Ärztinnen und Ärzte können - im Hinblick auf die Verschiedenheit
von Behandlungs-/Therapieauftrag einerseits und Begutachtungsauftrag
andererseits - nicht als medizinische Administrativgutachten gelten (zuletzt
Urteil I 701/05 vom 5. Januar 2007, E. 2 in fine mit zahlreichen Hinweisen,
insbesondere BGE 124 I 170 E. 4 S. 175). Dies heisst nicht, dass die
IV-Stelle in jedem Fall ein internes versicherungsärztliches oder ein
externes Administrativgutachten einzuholen hätte. Der Verzicht auf
Beweisweiterungen und das alleinige Abstellen auf die Berichte der
behandelnden Ärztinnen und Ärzte (der unterschiedlichen Fachrichtungen) sind
jedoch nur zulässig, wenn diese ein stimmiges und vollständiges Bild des
Gesundheitszustandes abgeben (vgl. auch Urteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts I 879/05 vom 27. September 2006, E. 3.3 mit Hinweisen).
Dies trifft hier nicht zu. Die Beschwerdeführerin rügt zu Recht, dass der
Bericht der Rehaklinik die rechtsprechungsgemässen Anforderungen an ein
beweistaugliches Gutachten nicht erfüllt. Zur Frage, wie sich der
Gesundheitszustand bis zum massgeblichen Zeitpunkt des Einspracheentscheides
(BGE 129 V 167 E. 1 S. 169) am 18. Oktober 2005 entwickelte, hat die
Vorinstanz den Bericht des Dr. med. B.________ vom 1. Juni 2005 in dem Sinne
gewürdigt, dass dieser die Arbeitsunfähigkeit (bei unveränderten somatischen
Befunden) "insbesondere" mit invaliditätsfremden Argumenten begründe, was
sich indessen dem Aktenstück so nicht entnehmen lässt und daher
offensichtlich unrichtig ist. Im Übrigen ist die Vorinstanz daran zu
erinnern, dass bei schwerwiegenden chronischen Schmerzstörungen - welchen
Formenkreises auch immer -, in der Regel eine psychiatrische Abklärung
angezeigt ist (BGE 131 V 49 E. 1 S. 50; 130 V 352 E. 2.2.2 S. 353; für
Fibromyalgie: BGE 132 V 65 E. 4.3 S. 72), zu der es im Falle der
Beschwerdeführerin nicht gekommen ist.

5.
Obsiegt die Beschwerdeführerin in dem Sinne, dass die Sache zur
Aktenergänzung an die IV-Stelle zurückzuweisen ist, entsteht ihr Anspruch auf
Parteientschädigung zulasten der Gegenpartei (Art. 159 Abs. 1 und 2 in
Verbindung mit Art. 135 OG), welche auch die Gerichtskosten zu tragen hat
(Art. 134 zweiter Satz OG [in der von 1. Juli bis 31. Dezember in Kraft
gestandenen Fassung] in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1 und Art. 135 OG). Das
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 13. September 2006 und der
Einspracheentscheid vom 18. Oktober 2005 aufgehoben und die Sache an die
IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen, damit sie, nach Aktenergänzung
im Sinne der Erwägungen, über den Rentenanspruch neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons
Aargau auferlegt.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren
vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hat über die Parteientschädigung
an die Beschwerdeführerin für das vorinstanzliche Verfahren, entsprechend dem
Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses, zu entscheiden.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 29. März 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: