Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 73/2007
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I 73/07

Urteil vom 24. April 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

G. ________, 1977, Schafmattstrasse 78b,                4494 Oltingen,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Rémy Wyssmann, Hauptstrasse
36,     4702 Oensingen,

gegen

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6,    4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Solothurn vom  4. Dezember 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1977 geborene G.________, gelernte Bäckerin-Konditorin, ersuchte im
Dezember 2003 die Invalidenversicherung um Eingliederungsmassnahmen
beruflicher Art (Berufsberatung, Arbeitsvermittlung, Umschulung). Die
IV-Stelle des Kantons Solothurn klärte die gesundheitlichen und erwerblichen
Verhältnisse ab. Dabei ergab sich, dass G.________ am 13. Mai 2003 als
Beifahrerin eines Personenwagens einen Verkehrsunfall erlitten und die SUVA
u.a. Taggeldleistungen bis zum 28. August 2003 erbracht hatte. Mit Verfügung
vom 27. Februar 2004 lehnte die IV-Stelle des Kantons Solothurn das
Leistungsbegehren ab, was sie mit Einspracheentscheid vom 11. Januar 2006
bestätigte.

Am 1. August 2005 begann G.________ eine dreijährige Lehre als
Tiermedizinische Praxisassistentin in einer Kleintierklinik.

B.
Die Beschwerde der G.________ gegen den Einspracheentscheid vom 11. Januar
2006 wies das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn nach Durchführung
einer öffentlichen Parteiverhandlung mit Entscheid vom 4. Dezember 2006 ab.

C.
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es seien berufliche
Massnahmen durchzuführen, indem ihr insbesondere die gesetzlichen Leistungen
für die Ausbildung zur Tiermedizinischen Praxisassistentin, allenfalls für
eine andere geeignete Tätigkeit, zugesprochen werden; eventualiter sei die
Sache zu weiterer Abklärung, zur Neubeurteilung und zum Neuentscheid an das
kantonale Gericht oder an die IV-Stelle zurückzuweisen; subeventualiter sei
ihr, ab wann rechtens, eine Invalidenrente samt Verzugszins zuzusprechen. Im
Weitern lässt G.________ beantragen, die Vorinstanz sei anzuweisen, ihrem
Rechtsvertreter Gelegenheit zu geben, eine detaillierte Kostennote
einzureichen, damit er die Parteikosten für das kantonale Verfahren
rechtsgenüglich geltend machen könne, unter Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege.

Kantonales Gericht und IV-Stelle schliessen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Der angefochtene Entscheid ist am 4. Dezember 2006 ergangen. Das
Verfahren richtet sich somit nach dem Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege (OG). Das am 1. Januar 2007 in Kraft getretene
Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG [AS 2006 1205 ff.,
1243]) ist insoweit nicht anwendbar (Art. 132 Abs. 1 BGG).

1.2 Da die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach dem 1. Juli 2006 anhängig
gemacht worden ist, bestimmt sich die Kognition im vorliegenden Streit um
Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art und/oder eine Rente der
Invalidenversicherung nach Art. 132 OG (in der seit 1. Juli 2006 geltenden
Fassung; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). Es ist daher nur zu prüfen, ob der
angefochtene Entscheid Bundesrecht verletzt, einschliesslich Überschreitung
oder Missbrauch des Ermessens (Art. 104 lit. a OG), oder ob die Vorinstanz
den Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung
wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt hat (Art. 104 lit. b OG und
Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Das kantonale Gericht hat den Anspruch der Beschwerdeführerin auf
Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art (Art. 8 und 15 ff. IVG),
insbesondere die Umschulung zur Tiermedizinischen Praxisassistentin verneint.
In tatsächlicher Hinsicht hat die Vorinstanz festgestellt, auf Grund der
fachärztlichen Beurteilungen sei die Versicherte für leicht bis mittelschwer
belastende Tätigkeiten im Ausmass von 100% als uneingeschränkt arbeitsfähig
zu betrachten. Diese Einschätzung gelte auch in Bezug auf die bisherige
Tätigkeit als Bäckerin-Konditorin. Die Abklärungen der IV-Stelle hätten
ergeben, dass heutzutage in diesem Beruf keine schweren Arbeiten mehr
anfallen würden. Die meisten Bäckereibetriebe verfügten über zeitgemässe
technische Einrichtungen, welche die anfallenden schweren Arbeiten
übernähmen. Das Herumtragen schwerer Bleche mit Backwaren werde in der Regel
zu Zweit gemacht. Sei aber die Beschwerdeführerin als hinreichend
eingegliedert zu betrachten, bleibe kein Raum für Massnahmen im Sinne der
Art. 15 ff. IVG. Selbst wenn im Übrigen die invaliditätsmässigen
Voraussetzungen für eine Umschulung im Sinne von Art. 17 Abs. 1 IVG gegeben
wären, scheiterte die Zusprechung der selbst gewählten Ausbildung zur
Tiermedizinischen Praxisassistentin unter diesem Titel am Erfordernis der
Gleichwertigkeit (vgl. BGE 124 V 108). Im Weitern würde die
Beschwerdeführerin überwiegend wahrscheinlich ohne die geltend gemachten
gesundheitlichen Beschwerden immer noch ihren Beruf als Bäckerin-Konditorin
ausüben. Somit liege kein gesundheitsbedingter Erwerbsausfall vor, und es
bestehe demzufolge auch kein Anspruch auf eine Invalidenrente.

In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird hauptsächlich die vorinstanzliche
Sachverhaltsfeststellung beanstandet.

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat für die Festsetzung der trotz gesundheitlicher
Beeinträchtigung noch zumutbaren Arbeitsfähigkeit auf den Bericht des Dr.
med. W._______, Facharzt FMH für Neurochirurgie, von der Abteilung
Versicherungsmedizin der SUVA vom 15. Februar 2005 abgestellt. Dabei handelt
es sich um die im Einspracheverfahren betreffend die Einstellung der
Taggeldleistungen der Unfallversicherung zum 28. August 2003 eingeholte
Stellungnahme aus neurologischer Sicht zur Frage nach organisch nachweisbaren
Folgen des Verkehrsunfalles vom 13. Mai 2003. Die Vorinstanz hat u.a.
festgestellt, der Einspracheentscheid vom 18. Juli 2005 sei in Rechtskraft
erwachsen und die Beurteilung des Dr. med. W._______ somit unbestritten
geblieben. Dies trifft offensichtlich nicht zu, wie in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu Recht geltend gemacht wird. Die Versicherte
focht den die verfügte Einstellung der Taggeldleistungen bestätigenden
Einspracheentscheid der SUVA beim Kantonsgericht Basel-Landschaft an, welches
die Beschwerde mit Entscheid vom 6. Dezember 2006 guthiess und die Sache zur
Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an den Unfallversicherer zurückwies.

Weiter hat das kantonale Gericht dem privat eingeholten Gutachten des Dr.
med. M.________, Spezialarzt für Neurologie FMH, vom 19. August 2004 mit zum
Teil nicht stichhaltigen Gründen jeglichen Beweiswert aberkannt. Dr. med.
M.________ habe sich zwar im IV-Verfahren als einziger Arzt zur Frage der
Arbeitsfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit als Bäckerin-Konditorin
geäussert und sie verneint. Diese Einschätzung sei indessen nicht von
Gewicht, habe doch Dr. med. W._______ die ihr zu Grunde liegende Diagnose des
Privatgutachters einer milden traumatischen Gehirnverletzung als unrichtig
bezeichnet. Dies trifft indessen offensichtlich nicht zu. Dr. med. M.________
hielt ausdrücklich fest, die Versicherte habe sich von anfänglich bestehenden
kognitiven Störungen als Folge der milden traumatischen Gehirnverletzung gut
erholt. Es würden noch leichte Konzentrationsstörungen geltend gemacht; diese
seien aber ausschliesslich bei gleichzeitigen Schmerzen vorhanden. Die
schmerzfreie Patientin sei in ihrer Kognition auf Grund eigener Angaben nicht
beeinträchtigt. Der Beurteilung des Dr. med. M.________, wonach der Beruf als
Bäckerin-Konditorin besonders ungeeignet sei, da er ausgesprochen
schultergürtelbelastend sei, liegt somit nicht die ebenfalls diagnostizierte
traumatische Gehirnverletzung zu Grunde. Wenn das kantonale Gericht in diesem
Zusammenhang festhält, Dr. med. M.________ spreche einerseits von einer
schmerzfreien Patientin, attestiere dieser anderseits, nach wie vor unter
Genick- und Kopfschmerzen in zumindest mässigem Ausmass zu leiden, ortet es
offensichtlich zu Unrecht einen Widerspruch in den Aussagen des
neurologischen Privatgutachters. Die Schmerzen im Schultergürtelbereich sowie
spontan auch im Kopf und im Genick sind belastungsabhängig. Es gibt somit
auch - mehr oder weniger - beschwerdefreie Zeiten, in denen zudem keine
Konzentrationsstörungen bestehen. Im Weitern muss es als willkürlich
bezeichnet werden, wenn die Vorinstanz dem Gutachten des Dr. med. M.________
vom 19. August 2004 auch deshalb keinen Beweiswert zuerkennt, weil die
Expertise im Auftrag der Explorandin erstellt wurde (vgl. BGE 125 V 351 E.
3b/cc S. 353), anderseits dem Umstand beweisrechtlich keine Bedeutung
beimisst, dass der Bericht des Dr. med. W._______ vom 15. Februar 2005
lediglich zum natürlichen Kausalzusammenhang der geklagten Beschwerden zum
Unfall vom 13. Mai 2003 Stellung nahm. Aufgrund der Akten hatte indessen die
Beschwerdeführerin bereits früher im Zeitraum 1997 bis 2002 mehrere Unfälle
erlitten, bei welchen der Kopf-, Nacken- und Schulterbereich betroffen war
und danach Schmerzen auftraten. Selbst Dr. med. W._______ sprach von einer
Akzentuierung der Restbeschwerden eines chronifizierten cervico-cephalen
Schmerzsyndroms durch die Vorgeschichte der Versicherten. (Krankhafte)
Vorzustände sind bei der unfallversicherungsrechtlichen
Kausalitätsbeurteilung ausser Betracht zu lassen.

Schliesslich lässt die Vorinstanz unberücksichtigt, dass Dr. med. W._______
die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Rheumatologen Dr. med. X.________
(Bericht vom 25. November 2003) übernahm und diese ohne eine Begründung
insoweit ergänzte, dass er auch die Tätigkeit als Bäckerin-Konditorin als
leicht bis mittelschwer qualifizierte und dementsprechend die Versicherte in
diesem angestammten Beruf wieder als voll arbeitsfähig bezeichnete.
Gleichzeitig und im Widerspruch dazu vertrat Dr. med. W._______ die Ansicht,
«dass mittel- bis langfristig eine angepasste Tätigkeit mit wechselnd
sitzender, stehender Körperhaltung, ohne Kopfzwanghaltung und ohne besondere
Schultergürtelbelastung geeigneter wäre» als der Beruf der
Bäckerin-Konditorin.

3.2 Das kantonale Gericht hat somit den rechtserheblichen Sachverhalt
offensichtlich unrichtig oder in willkürlicher Beweiswürdigung festgestellt.
Er ist deshalb für das Bundesgericht nicht verbindlich (E. 1.2). Indessen
erlauben die medizinischen Akten auch bei freier Tatsachenprüfung keine
zuverlässige Beurteilung der gesundheitlich bedingt zumutbaren
Arbeitsfähigkeit, insbesondere im Beruf als Bäckerin-Konditorin. Die
fachärztlichen Auffassungen gehen auch in Bezug auf die (organische) Genese
der Beschwerden zu weit auseinander. Es kann daher in diesem Verfahren weder
über den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art noch eine
Rente entschieden werden. Auf die diesbezüglichen rechtlichen Vorbringen in
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist demzufolge nicht näher einzugehen.
Dies betrifft auch die Frage, ob die auf eigene Initiative begonnene
Ausbildung zur Tiermedizinischen Praxisassistentin eine Umschulung im Sinne
von Art. 17 Abs. 1 IVG darstellt. Ebenfalls erübrigt sich der Beizug der
UV-Akten. Im Sinne des Eventualantrages ist daher die Sache an die IV-Stelle
zurückzuweisen, damit sie zur gesundheitlich bedingt zumutbaren
Arbeitsfähigkeit weitere Abklärungen vornehme und danach über die streitigen
Leistungen neu verfüge.

4.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird geltend gemacht, das kantonale
Gericht habe die Entschädigung des Rechtsvertreters der Versicherten unter
dem Titel unentgeltliche Verbeiständung festgesetzt, ohne diesem Gelegenheit
zur Einreichung einer Kostennote zu geben. Dieses Vorgehen verstosse gegen
den verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2
BV. Auf diese Rüge braucht nicht näher eingegangen zu werden. Aufgrund des
Ausganges des letztinstanzlichen Verfahrens gilt die Beschwerdeführerin auch
vor Vorinstanz als obsiegende Partei. Sie hat daher Anspruch auf Ersatz der
Parteikosten (Art. 61 lit. g ATSG). Deren Höhe wird das kantonale Gericht
unter Beachtung der Verfahrensrechte der Versicherten noch festzusetzen
haben.

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 zweiter Satz OG, in Kraft seit 1.
Juli 2006). Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der
IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG in Verbindung mit Art. 135 OG).
Zudem hat die Verwaltung der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu
entrichten (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG). Das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege ist demzufolge gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne teilweise gutgeheissen,
dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 4.
Dezember 2006 und der Einspracheentscheid vom 11. Januar 2006 aufgehoben
werden und die Sache an die IV-Stelle des Kantons Solothurn zurückgewiesen
wird, damit sie, nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch
der Beschwerdeführerin auf Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art und/ oder
eine Rente der Invalidenversicherung neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Solothurn
auferlegt.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Solothurn hat der Beschwerdeführerin für das
Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung (einschliesslich
Mehrwertsteuer) von Fr. 2500.- zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn hat die Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses festzusetzen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 24. April 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: