Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 69/2007
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I 69/07

Urteil vom 2. November 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Leuzinger,
Gerichtsschreiber Lanz.

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________, 1965, Beschwerdegegner,
vertreten durch Rechtsanwalt Fredy Fässler,
Oberer Graben 42, 9000 St. Gallen.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen
vom 12. Dezember 2006.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 3. Mai 2005 verneinte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
einen Anspruch des 1965 geborenen A.________ auf eine Invalidenrente mit der
Begründung, der Versicherte könne bei der aus medizinischer Sicht gegebenen
Restarbeitsfähigkeit von 70 % in körperlich leichten bis mittelschweren
Tätigkeiten zumutbarerweise ein rentenausschliessendes Erwerbseinkommen
erzielen. Daran hielt die Verwaltung mit Einspracheentscheid vom 17. August
2005 fest.

B.
Auf die von A.________ eingereichte Beschwerde hin hob das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen den Einspracheentscheid vom
17. August 2005 auf. Es sprach dem Versicherten mit Wirkung ab 1. Januar 2005
eine "vorläufige" Viertelsrente zu und wies die Sache zur Ermittlung des
Rentenbetrages und zur Ausrichtung der Rentenleistungen an die Verwaltung
zurück. Das Gericht verpflichtete die IV-Stelle sodann, dem Versicherten eine
Parteientschädigung zu bezahlen, und erklärte mit dieser Begründung dessen
Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung als gegenstandslos
(Entscheid vom 12. Dezember 2006).

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der
kantonale Entscheid sei aufzuheben.

A. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen.
Mit dem gleichen Antrag nimmt die Vorinstanz Stellung. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom
17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Der
angefochtene Entscheid ist indessen vorher ergangen, weshalb sich das
Verfahren noch nach dem Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege vom 16. Dezember 1943 (OG) richtet (Art. 132 Abs. 1 BGG;
BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

1.2 Da die Verwaltungsgerichtsbeschwerde am 1. Juli 2006 noch nicht hängig
war, sind hingegen die auf diesen Zeitpunkt in Kraft getretenen, für
Streitigkeiten um Leistungen der Invalidenversicherung geltenden Anpassungen
von Art. 132 und Art. 134 OG anwendbar (Ziff. III des Bundesgesetzes vom
16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
Geprüft wird daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte,
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der
rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder
unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde
(Art. 132 Abs. 2 OG, in Kraft gestanden ab 1. Juli 2006, in Verbindung mit
Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Die Verwaltung hat zur Invaliditätsbemessung gestützt auf Art. 16 ATSG einen
Einkommensvergleich vorgenommen. Sie ist dabei von einem mutmasslichen
Erwerbseinkommen im Gesundheitsfall (Valideneinkommen) von Fr. 55'100.-
ausgegangen. Das trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung zumutbarerweise noch
erzielbare Erwerbseinkommen (Invalideneinkommen) hat sie, ausgehend von einer
ärztlich bestätigten 70%igen Restarbeitsfähigkeit in körperlich leichten bis
mittelschweren Tätigkeiten, anhand von Durchschnittslöhnen gemäss der vom
Bundesamt für Statistik herausgegebenen Schweizerischen Lohnstrukturerhebung
(LSE) auf Fr. 38'570.- festgesetzt. Der Vergleich der Einkommen führt zu
einer invaliditätsbedingten Erwerbseinbusse von 30 %, womit der für eine
Invalidenrente mindestens erforderliche Invaliditätsgrad von 40 % (Art. 28
Abs. 1 IVG) nicht erreicht wäre.
Das kantonale Gericht hat das Vorgehen der Verwaltung insoweit in einer im
Rahmen der bundesgerichtlichen Kognition (E. 1.2 hievor) nicht zu
beanstandenden Weise bestätigt. Abgewichen ist es hingegen insofern, als es
vom Invalideneinkommen einen leidensbedingten Abzug von 15 % vorgenommen hat.
Dies führt zu einem Invalideneinkommen von Fr. 32'784.- und in
Gegenüberstellung mit dem Valideneinkommen von Fr. 55'100.- zu einem den
Anspruch auf eine Viertelsrente begründenden Invaliditätsgrad von 40,5 %.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Verwaltung richtet sich gegen den
leidensbedingten Abzug.

3.
Nach der Rechtsprechung können zur Bestimmung des Invalideneinkommens
Durchschnittslöhne gemäss LSE herangezogen werden, sofern kein tatsächlich
erzieltes Erwerbseinkommen vorliegt, mit welchem die Restarbeitsfähigkeit
voll ausgeschöpft wird (BGE 126 V 75 E. 3b S. 76 f.). Dabei kann dem Umstand,
dass gesundheitlich eingeschränkte Personen aufgrund bestimmter Faktoren
(leidensbedingte Einschränkung, Alter, Dienstjahre,
Nationalität/Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad) gegebenenfalls nur
unterdurchschnittliche Löhne erzielen, mit einem Abzug vom statistischen Lohn
Rechnung getragen werden (BGE 126 V 75 E. 5 S. 78 ff.). Der Abzug ist unter
Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft
zu schätzen und unter Berücksichtigung aller jeweils in Betracht fallenden
Merkmale auf insgesamt höchstens 25 % zu begrenzen (BGE 126 V 75 E. 5b/bb und
cc S. 80).

4.
Die Verwaltung hat im Einspracheentscheid vom 17. August 2005 einen
leidensbedingten Abzug vom statistischen Durchschnittslohn mit der Begründung
ausgeschlossen, der leidensbedingten Einschränkung sei mit der Annahme einer
auf 70 % reduzierten Arbeitsfähigkeit in leichten bis mittelschweren
Tätigkeiten bereits Rechnung getragen. Sodann sei ein Teilzeitabzug nicht
gerechtfertigt, weil der Versicherte ganztags mit eingeschränkter Leistung
arbeiten könne.
Das kantonale Gericht führt im angefochtenen Entscheid aus, die Verwaltung
habe die statistischen Angaben über die Entstehung eines überproportionalen
Lohnnachteils bei Teilzeitbeschäftigung falsch interpretiert, handle es sich
doch auch bei einer vollzeitlichen Tätigkeit mit reduzierter Leistung um eine
"Teilzeittätigkeit". Im vorliegenden Fall sei dafür ein Abzug von 10 % vom
statistischen Durchschnittslohn angemessen.
Weiter hat die Vorinstanz erwogen, der Versicherte habe als an einer
psychischen Erkrankung leidender Hilfsarbeiter einen zusätzlichen
Lohnnachteil in Kauf zu nehmen. Dem sei mit einem zusätzlichen Abzug im
Umfang von 5 % vom Tabellenlohn Rechnung zu tragen.

5.
Die Vorinstanz begründet den erstgenannten Abzug damit, der sog.
Teilzeitabzug vom Tabellenlohn umfasse auch eine reduzierte
Leistungsfähigkeit in Vollzeittätigkeiten, da sich diese - namentlich durch
höhere Kosten des Arbeitsplatzes im Verhältnis zum Wert des Arbeitsprodukts
und durch die das Angebot übersteigende Nachfrage nach solchen Arbeitsplätzen
- in gleicher Weise auf den erzielbaren Lohn auswirke wie eine
Teilzeittätigkeit. Ob dies zutrifft, ist als Rechtsfrage durch das
Bundesgericht frei überprüfbar (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398 f. und E. 3.3
S. 399, daselbst auch Ausführungen zur Kognition betreffend Höhe des im
konkreten Fall grundsätzlich angezeigten Abzuges).

5.1 Indem das Eidgenössische Versicherungsgericht (seit 1. Januar 2007:
Bundesgericht) unter dem Titel des Beschäftigungsgrades bei Teilzeittätigkeit
einen Leidensabzug anerkannte, wollte es dem Umstand Rechnung tragen, dass
Teilzeitbeschäftigte in der Regel überproportional weniger verdienen als
Vollzeitangestellte (BGE 124 V 321 E. 3b/aa S. 322 f.; vgl. überdies BGE 126
V 75 E. 5a/cc S. 78 und S. 79 in fine; AHI 1998 S. 175 E. 4b). Erfasst werden
sollte mit diesem Abzug nur die eigentliche Teilzeitarbeit, nicht aber eine
vollzeitliche Tätigkeit mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit (vgl. Urteile
I 292/05 vom 19. Oktober 2005, E. 5.3, und I 2/01 vom 24. Januar 2002,
E. 2b/ee). Das Gericht stützte sich bei der Begründung des Abzuges denn auch
auf die zwischen Vollzeittätigkeiten (Pensen über 90 %) und prozentual
abgestuften Teilzeittätigkeiten (Pensen von 25 % und weniger bis maximal
90 %) differenzierende Tabelle 13* der LSE 1994 (BGE 124 V 321 E. 3b/aa
S. 323). In den Erläuterungen zu dieser Tabelle in LSE 1994 S. 30 wird sodann
auf sich bei einzelnen Kategorien von Arbeitnehmenden mit Teilzeitarbeit
ergebende Besonderheiten hingewiesen. Der Vorinstanz kann mithin darin nicht
gefolgt werden, dass der höchstrichterlich unter dem Titel Beschäftigungsgrad
vorgesehene sog. Teilzeitabzug auch Vollzeittätigkeiten mit eingeschränktem
Rendement umfasse.

5.2 Die Ursachen, weshalb Teilzeittätigkeiten in der Regel überproportional
niedriger entlöhnt werden als Vollzeittätigkeiten, sind höchstens teilweise
bekannt. Daher kann eine Gleichbehandlung der beiden Tätigkeitsarten beim
Leidensabzug auch nicht damit begründet werden, bei Vollzeittätigkeiten mit
eingeschränkter Leistungsfähigkeit wirkten sich regelmässig die selben
ökonomischen Gesichtspunkte aus wie bei Teilzeittätigkeiten. Zwar mag in
Einzelfällen eine solche Vollzeittätigkeit tatsächlich mit einem
überproportionalen Minderverdienst verbunden sein. Dass dies in gleicher
Weise wie bei den Teilzeittätigkeiten den Regelfall darstellt, lässt sich
aber nicht zuverlässig sagen, zumal auch Faktoren angeführt werden könnten,
welche eine Vollzeittätigkeit mit eingeschränktem Leistungsvermögen für einen
Arbeitgeber attraktiver erscheinen lassen als eine Teilzeittätigkeit. Zu
erwähnen ist hier etwa, dass eine vollzeitliche Anwesenheit grössere
Flexibilität bei der Einsatzplanung bietet.

5.3 Zusammenfassend besteht keine rechtsgenügliche Grundlage, um bei
vollzeitlich mit reduzierter Leistungsfähigkeit tätigen Versicherten
regelmässig eine über die Einschränkung der Leistungsfähigkeit hinaus
gehende, überproportionale Lohneinbusse anzunehmen und - in Analogie zum
bisherigen Abzugsfaktor Beschäftigungsgrad oder als eigenständiges neues
Merkmal - beim leidensbedingten Abzug zu berücksichtigen. Was
Beschwerdegegner und kantonales Gericht hiezu vernehmlassungsweise vortragen,
führt zu keiner anderen Betrachtungsweise.

5.4 Fällt demnach der von der Vorinstanz mit dieser Begründung vorgenommene
Abzug im Umfang von 10 % weg, muss nicht näher auf die zusätzlich mit 5 %
bemessene Abzugsposition betreffend die lohnbeeinflussenden Auswirkungen der
psychischen Erkrankung eingegangen werden. Denn es resultiert unabhängig von
der allfälligen Rechtmässigkeit dieses Abzuges ein Invaliditätsgrad unterhalb
der für eine Invalidenrente mindestens erforderlichen 40 %.

6.
Die Kosten des Verfahrens (vgl. Art. 134 OG in der ab 1. Juli 2006 gültig
gewesenen Fassung) trägt dem Prozessausgang entsprechend der Beschwerdegegner
(Art. 156 Abs. 1 OG). Es besteht kein Anspruch auf eine Parteientschädigung
(Art. 159 OG).
Die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides umfasst auch die darin dem
Beschwerdegegner zugesprochene Parteientschädigung. Das kantonale Gericht
wird sich daher erneut mit dem im angefochtenen Entscheid als gegenstandslos
erachteten Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung für das
kantonale Verfahren zu befassen haben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 12. Dezember 2006
aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 500.- wird der Beschwerdeführerin
zurückerstattet.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wird über das Gesuch um
unentgeltliche Verbeiständung für das kantonale Verfahren zu entscheiden
haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen, der Ostschweizerischen AHV-Ausgleichskasse für Handel und
Industrie, St. Gallen, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 2. November 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

i.V.

Widmer Lanz