Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 64/2007
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I 64/07

Urteil vom 27. Juli 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

V.________, 2001, Beschwerdegegnerin,
handelnd durch ihre Eltern, und diese vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter
Sutter, Haus Eden, Paradiesweg 2, 9410 Heiden.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 7. Dezember 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 2001 geborene V.________ leidet an einer juvenilen idiopathischen
Arthritis mit Befall u.a. des rechten Kniegelenks sowie Augenbeteiligung
(Uveitis [Regenbogenhautentzündung] und Katarakt [grauer Star] beidseits).
Mit Verfügung vom 9. Februar 2006 lehnte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
das Gesuch der Eltern von V.________ um Übernahme der Behandlung von Uveitis
und Katarakt als medizinische Massnahme der Invalidenversicherung ab, was sie
mit Einspracheentscheid vom 13. Juni 2006 bestätigte.

B.
Mit Entscheid vom 7. Dezember 2006 hob das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen auf Beschwerde hin den Einspracheentscheid vom 13. Juni 2006 auf
und sprach V.________ medizinische Eingliederungsmassnahmen im Sinne der
Erwägungen zu.

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der
Entscheid vom 7. Dezember 2006 sei aufzuheben.
Die Eltern von V.________ beantragen die Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit darauf einzutreten ist, das Bundesamt
für Sozialversicherungen deren Gutheissung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Der angefochtene Entscheid ist am 7. Dezember 2006 ergangen. Das
Verfahren richtet sich somit nach dem Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege (OG). Das am 1. Januar 2007 in Kraft getretene
Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG [AS 2006 1205 ff.,
1243]) ist insoweit nicht anwendbar (Art. 132 Abs. 1 BGG).

1.2 Da die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach dem 1. Juli 2006 anhängig
gemacht worden ist, bestimmt sich die Kognition im Streit um die Übernahme
der Behandlung der Uveitis und der Katarakt als medizinische Massnahme der
Invalidenversicherung nach Art. 132 OG, in der ab 1. Juli 2006 gültig
gewesenen Fassung (BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). Es ist daher nur zu prüfen,
ob der angefochtene Entscheid Bundesrecht verletzt, einschliesslich
Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens (Art. 104 lit. a OG), oder ob
das kantonale Gericht den Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig
oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt hat
(Art. 104 lit. b OG und Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Versicherte haben Anspruch auf medizinische Massnahmen, die nicht auf die
Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die Eingliederung ins
Erwerbsleben oder in den Aufgabenbereich gerichtet und geeignet sind, die
Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen,
dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung
zu bewahren (Art. 12 Abs. 1 IVG). Bei nichterwerbstätigen Minderjährigen im
Besonderen können medizinische Vorkehren schon dann von der
Invalidenversicherung übernommen werden, wenn ohne Behandlung das Leiden mit
hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem schwer korrigierbaren, die spätere
Ausbildung und Erwerbsfähigkeit erheblich behindernden stabilen
pathologischen Zustand führen würde (BGE 131 V 9 E. 4.2 S. 21 mit Hinweisen;
EVGE 1962 S. 319 E. 2). Auch in derartigen Fällen muss indessen der
angestrebte Erfolg medizinisch-prognostisch mit genügender Wahrscheinlichkeit
voraussehbar sein (nicht veröffentlichtes Urteil B. vom 17. September 1993
[Staroperation bei chronischer Uveitis]). Ebenfalls können lediglich
Vorkehren von voraussichtlich beschränkter Dauer medizinische Massnahmen im
Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG darstellen. Ausser Betracht fallen insbesondere
Therapien, welche nur zeitlich unbegrenzt angewendet wahrscheinlich zu einer
Verbesserung des Gesundheitszustandes führen oder eine Verschlechterung
verhindern können (SVR 2006 IV Nr. 3 S. 10 E. 2.1 [I 23/04]; AHI 2000 S. 64
E. 1 [I 181/99]; ZAK 1991 S. 176).

Diese Rechtsprechung gilt entgegen dem Bundesamt nicht nur bei psychischen,
sondern auch bei somatischen Leiden (vgl. SVR 2004 IV Nr. 10 S. 28
[I 513/02]: Schwerhörigkeit und EVGE 1965 S. 92: Epiphyseolyse) namentlich
auch Augenleiden wie Katarakt (SVR 2004 IV Nr. 13 [I 29/02]; AHI 2000 S. 297
[I 626/99]). Es besteht namentlich mit Blick auf das Ergebnis kein Anlass zu
einer vertieften Auseinandersetzung mit der von der Aufsichtsbehörde in Frage
gestellten Rechtsprechung.

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat voneinander losgelöst geprüft, ob die
medikamentöse Therapie der beidseitigen Uveitis einerseits und die
Staroperation anderseits medizinische Massnahmen im Sinne von Art. 12 Abs. 1
IVG darstellen. Dies ist nicht zu beanstanden. Die Behandlung der Uveitis
lässt sich ohne weiteres von der Behandlung der Katarakt trennen. Sodann kann
nicht gesagt werden, die eine Vorkehr trete gegenüber der anderen in den
Hintergrund (Urteil I 651/00 vom 22. Mai 2001 E. 3a sowie BGE 112 V 347 E. 5
S. 351 ff.). Die Uveitis ist jedoch allenfalls bedeutsam für die Frage des
Eingliederungserfolges der Staroperation (vgl. BGE 103 V 11).

3.2 Das kantonale Gericht hat festgestellt, die Behandlung der Uveitis
bestehe aus ophthalmologischen Untersuchungen sowie einer medikamentösen
Therapie hauptsächlich im Rahmen des Grundleidens der juvenilen
idiopathischen Arthritis. Gemäss. Dr. med. H.________, Pädiatrische Klinik
O.________, sei eine langfristige antiinflammatorische und immunsuppressive
Therapie erforderlich. Es sei indessen nicht mit einer zeitlich geradezu
unbegrenzten Behandlungsbedürftigkeit zu rechnen, zumal das Grundleiden
anerkanntermassen zu den Krankheiten gehöre, bei denen in absehbarer Zeit mit
einer Stabilisierung gerechnet werden könne. Die Oligoarthritis befinde sich
im Übrigen bereits partiell in Remission. Die IV-Stelle habe denn auch
diesbezüglich Physiotherapie zugesprochen. Im Weitern sei gemäss den Angaben
der Frau Dr. med. L.________, Augenklinik K.________, die Behandlung der
Uveitis notwendig, um eine Erblindung zu verhindern. Trotz der generellen
Erfahrungstatsache, dass Kinder mit Regenbogenhautentzündung im Rahmen einer
Arthritis schwierige Verläufe zeigten, könnte eine günstige Prognose durchaus
mit einiger Wahrscheinlichkeit zu stellen sein.
Mit Bezug auf die Behandlung der Katarakt hat die Vorinstanz ausgeführt,
gemäss Dr. med. L.________ sei die Staroperation für die bestmögliche
Visusentwicklung notwendig. Ob die Uveitis den Eingliederungserfolg
beeinträchtige, könne erst im weiteren Verlauf beurteilt werden. Mit
Rücksicht auf den offenen Verlauf und das kindliche Alter der Versicherten
dürfe eine günstige Entwicklung nicht leichthin als unwahrscheinlich oder gar
ausgeschlossen angesehen werden. Im gegenwärtigen Zeitpunkt sei somit nicht
davon auszugehen, dass ein den Eingliederungserfolg wesentlich gefährdender
Nebenbefund bestehe.

3.3
3.3.1 Dass sich eine ungünstige Prognose nicht stellen lässt, genügt nicht für
die Bejahung der Eingliederungswirksamkeit im Sinne der Wesentlichkeit und
Beständigkeit des angestrebten Erfolges. Dieser muss medizinisch-prognostisch
mit genügender Wahrscheinlichkeit voraussehbar sein (E. 2). Insofern geht die
Vorinstanz von einer unzutreffenden Rechtsauffassung aus. Wenn Frau Dr. med.
L.________ Aussagen betreffend der Prognose als sehr schwierig bezeichnet, da
erfahrungsgemäss Kinder mit Regenbogenhautentzündung im Rahmen einer
juvenilen rheumatoiden Arthritis schwierige Verläufe zeigen (Arztbericht vom
16. Dezember 2005), kann klarerweise nicht von einem hinreichend
wahrscheinlichen Eingliederungserfolg gesprochen werden. Gemäss Bundesamt
muss, wenn es gelingt, die Entzündung sowohl in den Gelenken als auch in den
Augen zum Stillstand zu bringen, die Behandlung prophylaktisch weitergeführt
werden, um ein Wiederaufflammen der Entzündung zu verhindern.

In Bezug auf die Behandlungsdauer geht die Vorinstanz ebenfalls von einer
unrichtigen Rechtsauffassung aus. Es kann nicht genügen, dass nicht mit einer
geradezu unbegrenzten Behandlungsdauer zu rechnen ist. Vielmehr muss
zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit die
Leidensbehandlung abgeschlossen werden können. Im Arztbericht vom 14. Oktober
2005 hielt Dr. med. H.________ fest, juvenile idiopathische Arthritis und
Uveitis zählten zu den kindlichen Autoimmunerkrankungen und bedürften einer
langfristigen antiinflammatorischen sowie auch immunsuppressiven Therapie.
Von Seiten der Arthritis bestehe eine partielle klinische Remission. Im
Verlaufe des Jahres sei es allerdings zu einer deutlichen Persistenz und auch
Progredienz der ophthalmologischen Symptomatik gekommen. Aufgrund dieser
fachärztlichen Aussagen sowie der prognostischen Beurteilung der Frau Dr.
med. L.________ besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die
medikamentöse Behandlung der Uveitis innerhalb eines bestimmten zeitlichen
Horizonts zum Abschluss kommen wird.

3.3.2 Hinsichtlich der Behandlung der Katarakt lässt die Aussage der Frau Dr.
med. L.________, dass erst im weiteren Verlauf beurteilt werden könne, ob die
Uveitis den Eingliederungserfolg der Staroperation beeinträchtige, sowohl
einen Schluss in diesem als auch in jenem Sinne zu. Dies genügt indessen
nicht, um den Erfolg des Eingriffs medizinisch-prognostisch mit genügender
Wahrscheinlichkeit darzutun. Gemäss Bundesamt ist trotz Kataraktoperation
eine weiter fortschreitende Einbusse der Sehleistung durch Verklebungen und
Degeneration zu befürchten. Zudem sei das Operationsergebnis selbst wegen der
Entzündungen nicht absehbar und es müsse mit Operationskomplika-tionen
gerechnet werden. Wegen der Entzündung sei bisher auch noch keine Linse
eingesetzt worden. Der Eingliederungserfolg der Staroperation ist somit zu
verneinen oder es ist insoweit zumindest von Beweislosigkeit auszugehen, was
am Ergebnis jedoch nichts ändert (BGE 117 V 261 E. 3b S. 264 mit Hinweisen;
RKUV 2003 Nr. U 485 S. 295 E. 5 [U 308/01]). Beizufügen bleibt, dass im
erwähnten Urteil B. vom 17. September 1993 der Erfolg der Staroperation bei
der an einer chronischen Uveitis leidenden Versicherten ebenfalls zu
verneinen war.

3.3.3 Zum medizinischen Massnahmecharakter der ophthalmologischen
Untersuchungen (E. 3.2) hat sich das kantonale Gericht nicht explizit
geäussert. Diese Vorkehren sind indessen untrennbar verbunden mit der
Behandlung der Uveitis und der Katarakt, sodass auch diebezüglich keine
Leistungspflicht der Invalidenversicherung besteht.
Die vorinstanzliche Leistungszusprechung verletzt Bundesrecht.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten den Eltern
der Versicherten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 7. Dezember 2006 aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden den Eltern von V.________ auferlegt.

3.
Der IV-Stelle des Kantons St. Gallen wird der geleistete Kostenvorschuss von
Fr. 500.- zurückerstattet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 27. Juli 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: