Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 55/2007
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I 55/07

Urteil vom 26. November 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

A. ________, 1969, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Petra Oehmke Schiess, Bahnhofplatz 9,
8910 Affoltern am Albis,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Aargau
vom 1. November 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1969 geborene A.________ meldete sich im November 2002 wegen eines
Rückenleidens bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach
Abklärung der medizinischen und erwerblichen Verhältnisse verneinte die
IV-Stelle des Kantons Aargau bei einem ermittelten Invaliditätsgrad von 11 %
den Anspruch auf eine Rente und auf berufliche Massnahmen (Verfügung vom
10. März 2004, bestätigt mit unangefochten in Rechtskraft erwachsenem
Einspracheentscheid vom 30. Juli 2004).
Als sich die Versicherte im September 2005 unter Hinweis auf seit September
1999 bestehende Rückenprobleme erneut zum Leistungsbezug anmeldete, teilte
ihr die IV-Stelle am 6. Oktober 2005 mit, dass gemäss Verfügung vom 10. März
2004 weder Anspruch auf eine Rente noch auf berufliche Massnahmen der
Invalidenversicherung bestehe; eine Neuanmeldung werde nur geprüft, wenn die
versicherte Person glaubhaft machen könne, dass sich der Grad der Invalidität
seit der rechtskräftigen Verfügung in einer für den Anspruch erheblichen
Weise geändert habe. Dementsprechend könne auf ihr Gesuch nicht eingetreten
werden, wenn sie nicht innerhalb von 14 Tagen mit entsprechenden Unterlagen
den Nachweis erbringen könne, dass eine wesentliche Änderung eingetreten sei.
Mit Schreiben vom 14. Oktober 2005 teilte die Hausärztin der Versicherten,
Dr. med. G.________, Allgemeine Medizin FMH, der IV-Stelle mit, dass sie zum
Gesundheitszustand im Frühjahr 2004 keine Angaben machen könne, da die
Versicherte damals nicht bei ihr in Behandlung gewesen sei. Sie könne
lediglich bestätigen, dass die Versicherte an einem chronischen
Schmerzsyndrom leide, welches invalidisierenden Charakter habe und die
Arbeitsfähigkeit teilweise beeinträchtige; dies gehe auch aus dem
beiliegenden Bericht der Rehaklinik X.________ vom 19. September 2005 hervor.
Mit Verfügung vom 31. Januar 2006, bestätigt mit Einspracheentscheid vom
8. Mai 2006, trat die IV-Stelle auf das Leistungsbegehren nicht ein mit der
Begründung, im Gesuch sei keine erhebliche Verschlechterung des
Gesundheitszustandes glaubhaft gemacht worden.

B.
Beschwerdeweise liess A.________ beantragen, die IV-Stelle sei zu
verpflichten, auf das Begehren einzutreten. Mit Entscheid vom 1. November
2006 wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau das Rechtsmittel ab,
unter Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung.

C.
A.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und sinngemäss das
Rechtsbegehren stellen, der angefochtene und der Einspracheentscheid seien
aufzuheben und die IV-Stelle sei anzuweisen, auf die Neuanmeldung
einzutreten. Des Weitern ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege
(Prozessführung, Verbeiständung).
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG;
SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da
der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren
noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist nach dem 1. Juli 2006 anhängig gemacht
worden, weshalb sich die Kognition nach Art. 132 OG in der vom 1. Juli bis
31. Dezember 2006 geltenden Fassung bestimmt (BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
Das Bundesgericht prüft somit nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht
verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder
ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig
oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde.

2.
Wurde eine Rente wegen eines zu geringen Invaliditätsgrades verweigert, so
wird eine neue Anmeldung nach Art. 87 Abs. 4 IVV nur geprüft, wenn die
Voraussetzungen des Abs. 3 derselben Bestimmung erfüllt sind. Danach ist im
Gesuch glaubhaft zu machen, dass sich der Grad der Invalidität in
anspruchserheblicher Weise geändert hat (vgl. dazu auch nicht publ. E. 4 von
BGE 133 V 263, I 489/05; BGE 130 V 64). Praxisgemäss gelten diese Grundsätze
analog für Eingliederungsmassnahmen (BGE 109 V 119 E. 3a S. 122).

3.
3.1 Gemäss der im angefochtenen Entscheid vertretenen Auffassung verhält sich
die Rechtslage unter dem Geltungsbereich dieser Bestimmung wie folgt: Wird in
der Neuanmeldung ein Eintretenstatbestand nicht glaubhaft gemacht, sondern
bloss auf ergänzende, noch beizubringende oder von der Verwaltung
beizuziehende Beweismittel (namentlich Arztberichte) hingewiesen, ist der
versicherten Person eine angemessene Frist zur Einreichung der Beweismittel
anzusetzen. Wird demgegenüber eine Neuanmeldung ohne Hinweis auf ergänzende
Beweismittel eingereicht, hat die Verwaltung ohne Weiterungen über das
Eintreten aufgrund des Gesuchs (einschliesslich allfälliger Beilagen) zu
befinden. Für diese Rechtsauffassung stützt sich die Vorinstanz einerseits
auf E. 2.2.1 des Urteils I 734/05 vom 8. März 2006 und anderseits auf den
Wortlaut des Art. 87 Abs. 3 IVV, gemäss welchem die versicherte Person der
Beweisführungslast bereits in der Neuanmeldung zu genügen habe, weshalb ein
Nachreichen von Beweismitteln bis zum Zeitpunkt des Einspracheentscheides
unzulässig sei.

3.2 Es trifft zu, dass in E. 2.2.1 des erwähnten Urteils ausgeführt wurde,
dass die Verwaltung über das Eintreten auf ein ohne Hinweis auf ergänzende
Beweismittel eingereichtes Revisionsgesuch oder eine Neuanmeldung ohne
Weiterungen zu befinden habe. Damit ist vor allem gesagt, dass die Verwaltung
nicht verpflichtet ist, auf ein solches Gesuch einzutreten. Dass sie nicht
berechtigt wäre, eine Nachfrist zur Beibringung von Unterlagen anzusetzen,
wurde bisher vom Bundesgericht nicht gesagt. Wie es sich damit verhält, kann
offen bleiben: Räumt die Verwaltung der versicherten Person eine Nachfrist
ein, wäre es jedenfalls gegen Treu und Glauben, wenn sie die innert Frist
eingereichten Unterlagen nicht berücksichtigen würde (vgl. auch Urteil
I 619/04 vom 10. Februar 2005, E. 2.2; vgl. auch BGE 126 II 97 E. 4 S. 104
f.).
3.3 Da die Beschwerdeführerin einzig vor Erlass der Verfügung vom 31. Januar
2006 medizinische Akten (Schreiben der Dr. med. G.________ vom 14. Oktober
2005; Bericht der Rehaklinik X.________ vom 19. September 2005) nachgereicht
hat, braucht - wie bereits im Urteil I 734/05 vom 8. März 2006, E. 2.2.2 -
nicht entschieden zu werden, wie es sich mit im Einspracheverfahren neu
beigebrachten Unterlagen verhalten würde. Demgegenüber steht aufgrund der
Rechtsprechung fest, dass im gerichtlichen Verfahren eingereichte Akten (wie
das Zeugnis der Dr. med. G.________ vom 23. Dezember 2006 und der Bericht des
Psychiatrischen Dienstes Y.________ vom 8. November 2005, welche der
Beschwerde ans Bundesgericht beilagen) nicht zu berücksichtigen sind (Urteil
I 734/05 vom 8. März 2006, E. 3.2).
3.4 Aufgrund ihrer Rechtsauffassung gelangte die Vorinstanz zum Ergebnis,
dass die IV-Stelle ohne Weiterungen, namentlich ohne Nachfristansetzung, auf
die Neuanmeldung nicht hätte eintreten sollen. Sie erwog, das unzulässige
Ansetzen einer Nachfrist sei im konkreten Fall ohne praktische Relevanz
geblieben, weil die IV-Stelle auf das Gesuch zu Recht nicht eingetreten sei.
Da es sich nach dieser vorinstanzlichen Betrachtungsweise erübrigte zu
prüfen, ob eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes glaubhaft gemacht
ist, enthält der angefochtene Entscheid diesbezüglich keine
Sachverhaltsfeststellung, an welche das Bundesgericht gebunden wäre (vgl.
E. 1.2 hiervor; zur Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen im Zusammenhang mit
der Neuanmeldung: Urteil I 692/06 vom 19. Dezember 2006, E. 3.1).
3.5 Bei dieser Sachlage ist im letztinstanzlichen Verfahren frei zu prüfen,
ob eine anspruchserhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der
Beschwerdeführerin glaubhaft dargetan ist.

3.5.1 Als die IV-Stelle mit Verfügung vom 10. März 2004, bestätigt mit
Einspracheentscheid vom 30. Juli 2004, einen Leistungsanspruch verneinte,
stützte sie sich in medizinischer Sicht im Wesentlichen auf den Bericht des
Dr. med. P.________, Facharzt FMH für Innere Medizin und Rheumatologie,
Manuelle Medizin SAMM, vom 17. Dezember 2003. Dr. med. P.________
diagnostizierte bei der Versicherten ein lumboradikuläres Syndrom L5 rechts
bei mediolateraler Diskushernie L4/5 und gab an, dass ihr jede Tätigkeit,
welche den Rücken nicht übermässig beanspruche, zumutbar sei, wobei das Heben
und Tragen von schweren Lasten über 5 kg ungünstig sei.
Medizinisch-theoretisch sei ein ganztägiger Einsatz möglich, bei
Berücksichtigung der psychosozialen Umstände (die Versicherte sei Hausfrau
und Mutter von drei [zwischen 1988 und 1998 geborenen] Kindern) erachte er
aus nichtmedizinischen Gründen ein reduziertes ausserhäusliches Pensum von
60 % als sinnvoll. In diesem zeitlichen Rahmen bestehe für den Rücken nicht
übermässig belastende Tätigkeiten keine verminderte Leistungsfähigkeit (vgl.
auch Schreiben des Dr. med. P.________ vom 23. Juli 2004).

3.5.2 Für die geltend gemachte Verschlechterung des Gesundheitszustandes
stützt sich die Versicherte auf den (vor Erlass der Verfügung nachgereichten)
Austrittsbericht der Rehaklinik X.________ vom 19. September 2005
(Hospitalisaton vom 16. August bis 13. September 2005). Darin
diagnostizierten die Ärzte ein chronisches Schmerzsyndrom bei ausgeprägter
lumbospondylogener Schmerzsymptomatik, zunehmender generalisierter
myofaszialer Schmerzausbreitung und lumbosacraler Übergangsanomalie,
Chondrose L4/5 (CT 1999) und ermittelten eine Arbeitsfähigkeit von 100 %
während des Klinikaufenthaltes und von 50 % ab 19. September 2005 für eine
leichte berufliche Tätigkeit ohne schweres Heben und Tragen. Entgegen der
Auffassung der Beschwerdeführerin ergibt sich aus dieser ärztlichen
Einschätzung keine Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Vielmehr deckt
sich die im Bericht der Rehaklinik X.________ vom 19. September 2005
enthaltene Diagnose im Wesentlichen mit dem im Bericht des Dr. med.
P.________ vom 17. Dezember 2003 angegebenen Beschwerdebild. Sodann vermag
die Arbeitsfähigkeitsschätzung der Rehaklinik X.________ schon deshalb nicht
zu überzeugen, weil sie auf den subjektiven Schmerzangaben der Versicherten
beruht, welche nicht durch korrelierende, fachärztlich schlüssig
feststellbare Befunde hinreichend erklärbar sind (vgl. BGE 130 V 396 E. 5.3.2
S. 399). Es fällt denn auch auf, dass gemäss Austrittsbericht vom
19. September 2005 objektiv eine gewisse Verbesserung des
Gesundheitszustandes (Steigerung von Kraft und Beweglichkeit) erreicht werden
konnte, subjektiv beim Klinikaustritt aber ein nahezu unverändertes
Beschwerdebild bestand.
Soweit sich die Beschwerdeführerin zur Stützung ihres Standpunktes des
Weitern auf das Zeugnis der Dr. med. G.________ vom 23. Dezember 2006 und den
Bericht des Psychiatrischen Dienstes Y.________ vom 8. November 2005 beruft,
kann darauf nicht abgestellt werden, weil es sich um erst im gerichtlichen
Verfahren eingereichte und aus diesem Grunde bei der Beurteilung ausser
Betracht fallende Unterlagen (vgl. E. 3.3 hiervor) handelt.

3.5.3 Bei dieser Sachlage muss es bei der Feststellung sein Bewenden haben,
dass eine anspruchserhebliche Veränderung des Gesundheitszustandes seit der
rechtskräftigen Leistungsverweigerung im Jahre 2004 aufgrund der zu
berücksichtigenden ärztlichen Berichte nicht dargetan ist. Aus diesem Grunde
ist nicht zu beanstanden, dass die IV-Stelle auf die Neuanmeldung nicht
eingetreten ist.

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 Satz 2 OG in der vom 1. Juli bis
31. Dezember 2006 gültig gewesenen Fassung). Die unentgeltliche Rechtspflege
(Prozessführung, Verbeiständung) kann gewährt werden (Art. 152 Abs. 1 und 2
in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die
Beschwerde insoweit nicht als aussichtslos zu bezeichnen war, als die
Versicherte erst im letztinstanzlichen Verfahren eine gerichtliche materielle
Beurteilung erhalten hat, und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 201 E. 4a
S. 202 und 371 E. 5b S. 372, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich
auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande
ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt,
indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwältin Petra Oehmke Schiess, Affoltern am Albis, wird als
unentgeltliche Anwältin der Beschwerdeführerin bestellt, und es wird ihr für
das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von
Fr. 2000.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 26. November 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Keel Baumann