Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 50/2007
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I 50/07

Urteil vom 23. Oktober 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

R.________, 1952, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Urs Rudolf,
Ober-Emmenweid 46, 6021 Emmenbrücke.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Luzern vom 28. November 2006.

Sachverhalt:

A.
R. ________, geboren 1952, meldete sich am 20. Mai 2003 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 11. März 2005
und Einspracheentscheid vom 30. September 2005 lehnte die IV-Stelle Luzern
den Anspruch auf berufliche Massnahmen gestützt auf ein Gutachten der Frau
Dr. med. H.________, Psychiatrie Psychotherapie FMH, vom 17. Dezember 2004 ab
mit der Begründung, dass sich einzig die Alkoholabhängigkeit des Versicherten
auf die Arbeitsfähigkeit auswirke, ein invalidisierendes psychisches Leiden
indessen nicht vorliege.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern mit Entscheid vom 28. November 2006 in dem Sinne gut, als es die Sache
an die IV-Stelle zurückwies zur Durchführung eines Einkommensvergleichs unter
Zugrundelegung einer 60%igen Arbeitsfähigkeit.

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf
Aufhebung des angefochtenen Entscheides.

Während R.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
lässt, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine
Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden
das Eidgenössische Versicherungsgericht und das Bundesgericht in Lausanne zu
einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt
(Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 Rz.
75) und es wurde die Organisation und das Verfahren des obersten Gerichts
umfassend neu geregelt. Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten
eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein
Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid
nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da
der kantonale Gerichtsentscheid am 28. November 2006 und somit vor dem
1. Januar 2007 erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis
31. Dezember 2006 in Kraft gestandenen Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2
S. 395).

2.
Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG in der seit 1. Juli 2006 in Kraft stehenden Fassung
(Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des
IVG, AS 2006 2003) in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105
Abs. 2 OG ist in Streitigkeiten, die Leistungen der Invalidenversicherung
betreffen, nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt
hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob
der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder
unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde.

3.
Das kantonale Gericht hat die gesetzliche Bestimmung und die Grundsätze zum
Begriff der Invalidität (Art. 8 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG),
insbesondere bei geistigen Gesundheitsschäden (BGE 127 V 294 E. 4c in fine
S. 298, 102 V 167), unter Hinweis auf den Einspracheentscheid zutreffend
dargelegt.

4.
In sachverhaltlicher Hinsicht hat die Vorinstanz gestützt auf das Gutachten
der Frau Dr. med. H.________ festgestellt, der Versicherte leide an einem
Alkoholabhängigkeitssyndrom mit gegenwärtigem Substanzgebrauch (ICD 10
F10.24). Aus der Einschätzung der Psychiaterin, wonach zur Zeit eine
Arbeitsfähigkeit von 60 % bestehe, bei vollständiger Alkoholabstinenz
steigerbar, sowie den von ihr veranlassten testpsychologischen
Untersuchungen, welche gegenüber den Abklärungen im Therapiezentrum
X.________ im Sommer 2003 "eher eine Verschlechterung", "verminderte
Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer sowie milde Einschränkung der kognitiven
Leistungen" zeigten, schloss sie, dass der Versicherte auch in einer
leidensangepassten Tätigkeit aufgrund seiner Alkoholabhängigkeit
grundsätzlich nur noch im Umfang von 60 % arbeitsfähig sei.

5.
5.1 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts begründet Alkoholismus
(wie auch Drogensucht und Medikamentenabhängigkeit) für sich allein keine
Invalidität im Sinne des Gesetzes. Vielmehr wird er
invalidenversicherungsrechtlich erst relevant, wenn er eine Krankheit oder
einen Unfall bewirkt hat, in deren Folge ein körperlicher, geistiger oder
psychischer (vgl. Urteil B. vom 5. April 2006, I 750/04, E. 1.2 mit
Hinweisen), die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigender Gesundheitsschaden
eingetreten ist, oder wenn er selber Folge eines körperlichen, geistigen oder
psychischen Gesundheitsschadens ist, dem Krankheitswert zukommt (BGE 124 V
265 E. 3c S. 268; 102 V 167; 99 V 28 f. E. 2; AHI 2002 S. 29 f. [I 454/99]
E. 2; Urteil O. vom 8. August 2006, I 169/06, E. 2.2).
5.2 Daran fehlt es vorliegend. Die begutachtende Psychiaterin konnte kein
invalidisierendes Leiden mit Krankheitswert diagnostizieren. Nebst dem
Alkoholabhängigkeitssyndrom führte sie - anamnestisch - eine depressive
Störung auf, wobei gegenwärtig die Diagnosekriterien nach ICD 10 nicht
erfüllt seien, sowie eine narzisstische Persönlichkeitsstörung (ICD 10
F60.8). Dementsprechend stellte sie fest, dass die aus ihrer Sicht um 40 %
eingeschränkte Arbeitsfähigkeit bei vollständiger Alkoholabstinenz steigerbar
sei. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass der Vorwurf des
Beschwerdegegners, er sei von Frau Dr. med. H.________ nur ungenügend
abgeklärt worden, angesichts ihres eingehenden und schlüssigen Gutachtens
unberechtigt ist. Somit ist die Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit allein
durch den Alkoholabusus verursacht, welcher indessen für sich allein, wie
ausgeführt, keine Invalidität begründet: Fehlt es an einem invalidisierenden
psychischen Leiden, welches Ursache oder Folge des Alkoholsyndroms bildet,
liegt keine Invalidität im Sinne des Gesetzes vor. Dabei setzt die Annahme
des Gesundheitsschadens eine Diagnosestellung im psychiatrischen Gutachten
lege artis gestützt auf ein anerkanntes Klassifikationssystem voraus (BGE 130
V 396). Aus BGE 127 V 294 E. 4c S. 298, wonach eine Beeinträchtigung der
Erwerbsfähigkeit unabhängig von der Diagnose und grundsätzlich unbesehen der
Ätiologie ausgewiesen und in ihrem Ausmass bestimmt sein muss, kann der
Versicherte nichts zu seinen Gunsten ableiten, wurde dort doch umgekehrt
gesagt, dass eine fachärztlich festgestellte psychische Krankheit nicht ohne
weiteres gleichbedeutend ist mit dem Vorliegen einer Invalidität.

5.3 Zu ergänzen ist, dass nach den Feststellungen des kantonalen Gerichts
auch kein somatisches Leiden mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit vorliegt.
Es besteht diesbezüglich kein Anlass zur Berichtigung (Art. 105 Abs. 2 OG).
Hausarzt Dr. med. P.________, FMH für Innere Medizin speziell
Herzkrankheiten, erwähnte in seinem Bericht vom 16. Juli 2003 unter den
entsprechenden Diagnosen zwar eine arterielle Hypertonie mit hypertensiver
Herzkrankheit. Ob noch eine Tätigkeit zugemutet werden könne, machte er
allerdings einzig von der bevorstehenden Suchtbehandlung in Y.________
abhängig. Gemäss Bericht des Therapiezentrums X.________ vom 1. September
2003 hat die arterielle Hypertonie keine Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit.

5.4 Entscheidend ist somit, dass beim Versicherten kein invalidisierendes
psychisches Leiden diagnostiziert wurde, der Leistungsansprecher somit nicht
invaliditätsbedingt im Sinne des Gesetzes in seiner Arbeitsfähigkeit
eingeschränkt ist. Es besteht daher kein Anspruch auf Leistungen der
Invalidenversicherung. Die Beschwerdeführerin rügt diesbezüglich zutreffend
eine Rechtsverletzung durch das kantonale Gericht, weshalb der
vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und der Einspracheentscheid der
IV-Stelle Luzern zu bestätigen ist.

6.
Mit der Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann das Begehren um
aufschiebende Wirkung (Art. 111 Abs. 2 OG) als erledigt gelten.

7.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 OG in der seit 1. Juli 2006 in
Kraft stehenden Fassung; Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005
über die Änderung des IVG, AS 2006 2003). Dem Prozessausgang entsprechend
sind die Gerichtskosten dem unterliegenden Beschwerdegegner aufzuerlegen
(Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1 OG). Eine Parteientschädigung
zugunsten der obsiegenden Beschwerde führenden IV-Stelle wird gemäss Art. 159
Abs. 2 OG nicht zugesprochen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 28. November 2006 aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 500.- wird der Beschwerdeführerin
zurückerstattet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Luzern und dem
Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 23. Oktober 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
i.V.