Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 49/2007
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I 49/07

Urteil vom 10. Januar 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Schmutz.

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8087 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

R.________, 2000,  Beschwerdegegnerin,
handelnd durch S.________, und diese vertreten durch Pro Infirmis.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 27. November 2006.

Sachverhalt:

A.
Die am 22. Dezember 2000 geborene R.________ leidet an einem schweren
kognitiven Entwicklungsrückstand, zerebralen Entwicklungsstörungen sowie
infantilem Autismus (Geburtsgebrechen Ziff. 401 Anhang zur Verordnung über
Geburtsgebrechen [GgV]). Die IV-Stelle des Kantons Zürich erteilte
Kostengutsprachen für heilpädagogische Früherziehung, Sonderschulmassnahmen
und Übernahme von Ergotherapie als medizinische Massnahme einschliesslich
ärztlich verordneter Behandlungsgeräte.

Mit Gesuch vom 14. Oktober 2004 stellte die Mutter S.________ als gesetzliche
Vertreterin Antrag auf Ausrichtung einer Hilflosenentschädigung an
R.________. Nach Abklärung der Verhältnisse vor Ort am 23. Februar 2005
(Bericht vom 25. Februar 2005) sprach die IV-Stelle dieser mit Verfügung vom
25. Februar 2005 und Einspracheentscheid vom 24. Mai 2005 ab 1. Dezember 2004
eine Hilflosenentschädigung für Minderjährige wegen leichter Hilflosigkeit
zu; gleichzeitig verneinte sie den Anspruch auf die beantragte Entschädigung
wegen mittelgradiger Hilflosigkeit sowie einen Intensivpflegezuschlag.

B.
Gegen den Einspracheentscheid vom 24. Mai 2005 erhob R.________ am 21. Juni
2005 Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich.

Pendente lite verfügte die IV-Stelle am 29. Juli 2005 ab 1. April 2005 die
Ausrichtung einer Entschädigung wegen Hilflosigkeit mittleren Grades.

Mit Entscheid vom 27. November 2006 hiess das Sozialversicherungsgericht die
gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde gut, soweit sie durch die
pendente lite erlassene Verfügung nicht gegenstandslos geworden war; es hob
diesen auf und änderte die Verfügung vom 29. Juli 2005 in dem Sinne ab, dass
R.________ bereits ab 1. Dezember 2004 Anspruch auf eine Entschädigung für
Hilflosigkeit mittleren Grades habe und diese um einen Intensivpflegezuschlag
entsprechend einem invaliditätsbedingten Betreuungsaufwand von mindestens
vier Stunden pro Tag zu erhöhen sei.

C.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und
beantragt Aufhebung des Entscheides des Sozialversicherungsgerichts des
Kantons Zürich vom 27. November 2006.

R. ________ lässt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen;
Vorinstanz und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Das
Bundesgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht
verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder
ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig
oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde
(Art. 132 Abs. 2 OG [in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom
16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG, in Kraft seit 1. Juli 2006] in
Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG; BGE 132 V 393
E. 1.1 S. 394).

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin bereits ab 1. Dezember
2004 statt 1. April 2005 Anspruch auf eine Entschädigung für Hilflosigkeit
mittleren Grades hat und ihr zudem ein Intensivpflegezuschlag entsprechend
einem invaliditätsbedingten Betreuungsaufwand von mindestens vier Stunden pro
Tag zu gewähren ist.

4.
Verwaltung und Vorinstanz haben in formell-, materiell- und beweisrechtlicher
Hinsicht die für die Beurteilung der Leistungsberechtigung massgeblichen
Grundlagen sowie die diesbezügliche Rechtsprechung zutreffend dargelegt.
Darauf wird verwiesen.

5.
5.1 Das kantonale Gericht hat die Gründe, die zur Gutheissung der Beschwerde
geführt haben, im angefochtenen Entscheid unter einlässlicher Würdigung der
gesamten medizinischen Aktenlage dargelegt und namentlich gestützt auf die
Berichte der Dres. med. G.________, Oberarzt beim Kinder- und
Jungendpsychiatrischen Dienst des Kantons X.________, vom 13. April und 10.
Juni 2005 und C.________, Facharzt FMH für Allgemeine Medizin, vom
27. November 2004 sowie die Ausführungen der Leiterin der Kindertagesstätte
"Y.________", vom 16. April 2005 festgestellt, dass bei der
Beschwerdegegnerin bereits vor dem vollendeten dritten Lebensjahr (jedenfalls
aber bei dessen Vollendung im Dezember 2003), im Vergleich zu nicht
Behinderten gleichen Alters ein Mehrbedarf an dauernder und persönlicher
Hilfeleistung bestand und eine besonders intensive behinderungsbedingte
Überwachung erforderlich war. Da ein Jahr später im Dezember 2004 nebst der
Hilfsbedürftigkeit in zwei alltäglichen Lebensverrichtungen (Art. 42 Abs. 2
IVG i.V.m. Art. 37 Abs. 2 lit. b IVV) auch das notwendige Erfordernis für
einen Intensivpflegezuschlag vorlag (Art. 42ter Abs. 3 IVG i.V.m. Art. 39
Abs. 3 zweiter Satz IVV), sprach es der Beschwerdegegnerin ab 1. Dezember
2004 eine Entschädigung für Hilflosigkeit mittleren Grades und einen
Intensivpflegezuschlag entsprechend einem invaliditätsbedingten Mehraufwand
an Betreuung von mindestens vier Stunden pro Tag zu.

5.2 Für die Beschwerdeführerin ist der Entscheid der Vorinstanz unangemessen,
unhaltbar und willkürlich. So sei der Autismus erst seit April 2005
ausgewiesen, und erst ab diesem Zeitpunkt könne von einer erhöhten
Hilfsbedürftigkeit ausgegangen werden, da die Annahme eines früheren Termins
praktisch bedeuten würde, dass auch für gesunde Kinder eine
Hilflosenentschädigung auszurichten wäre. Auch ein gesundes lebhaftes Kind im
Alter der Beschwerdegegnerin von vier Jahren und fünf Monaten im Zeitpunkt
des Erlasses des Einspracheentscheides sei auf Betreuung angewiesen und müsse
überwacht werden. Zwar werde in Randziffer 8077 des Kreisschreibens über
Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH) ein
autistisches Kind als Beispiel für eine besonders intensive dauernde
Überwachung erwähnt. Eine autistische Störung könne aber nach der
Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (Urteil vom 6.
Oktober 2005 [I 67/05] E. 4.2) eine grosse Variationsbreite aufweisen, sodass
bei Vorliegen der Diagnose gemäss GgV Anhang Ziff. 401 nicht automatisch von
einer besonders intensiven Überwachungsbedürftigkeit im Sinne von Art. 39
Abs. 3 IVV ausgegangen werden kann. Das Verhalten der Beschwerdegegnerin
unterscheide sich nicht solcher Art von demjenigen eines gesunden Kindes,
dass eine Überwachung von mehr als vier Stunden pro Tag angezeigt wäre. So
fehle zum Beispiel das bei schwer autistischen Kindern vorhandene
Gewaltpotenzial. Der Bericht der Kindertagesstätte sei für dieses Verfahren
nicht von Relevanz, weil es sich hier um eine Kinderkrippe für gesunde Kinder
handle und die Betreuerinnen für die Beaufsichtigung von autistischen Kindern
nicht ausgebildet seien.

5.3 Die Beschwerdegegnerin wendet ein, für die Beurteilung der
Überwachungsbedürftigkeit sei es unerheblich, ob die
Kindertagesstättenleiterin und die anderen Betreuerinnen für die
Beaufsichtigung von autistischen Kindern ausgebildet seien, da es nicht um
therapeutische Massnahmen gehe. Der Bericht der Tagesstättenleiterin zeige,
dass die Beschwerdegegnerin keine Rücksicht auf andere Kinder nehme und diese
dadurch immer wieder in Gefahr bringe, was auch bei einem Wutanfall vorkommen
könne, wenn sie Gegenstände um sich werfe, weshalb die Aussage der
Beschwerdeführerin unverständlich sei, dass das bei schwer autistischen
Kindern vorhandene Gewaltpotenzial fehle. Es bestehe bei ihr ein sehr viel
höherer Überwachungs- und Betreuungsbedarf als bei Gleichaltrigen; denn
während eine Krippenbetreuerin zehn bis zwanzig Kinder im
Vorkindergartenalter gleichzeitig hüten könne, sei bei ihr eine
Einzelbetreuung erforderlich; dies sei bei nicht behinderten Kindern nie der
Fall, auch verlange dort die Art und Weise der Betreuung viel weniger ab.

6.
6.1 Der Beschwerdegegnerin ist darin beizupflichten, dass es für die
Beurteilung ihrer Betreuungs- und Überwachungsbedürftigkeit im Vergleich zu
nicht Behinderten unerheblich ist, ob die Kindertagesstättenleiterin für die
Beaufsichtigung von autistischen Kindern ausgebildet ist. Der Bericht der
Kindertagesstätte stellt zwar auf die dortige Situation ab und trägt den
Verhältnissen zu Hause, insbesondere was die persönliche Überwachung
betrifft, nicht direkt Rechnung. Es ergibt sich aber daraus ohne weiteres,
dass die Überwachung und Betreuung der Beschwerdegegnerin erheblich mehr Zeit
beansprucht als bei einem gleichaltrigen nicht behinderten Kind. So will sie
nach Aussagen im Bericht der Tagesstättenleiterin nur hüpfen, überall
hinaufklettern (Herd, Tisch, Treppengeländer, Schrank) oder etwa aus dem Haus
"abhauen"; steht ihr ein Spielzeug oder gar ein anderes Kind im Weg, so
läuft, springt oder liegt sie drauf. Sie ist unberechenbar und bringt sich
und andere Kinder dadurch immer wieder in Gefahr. Dies kann auch bei einem
Wutanfall vorkommen, wenn sie Gegenstände um sich wirft. Sie ist bei den
Alltagsverrichtungen stets auf eine helfende Person angewiesen, weil sie die
täglichen Verrichtungen nicht selbstständig vornehmen kann und bei allen
Tätigkeiten gehalten und geführt werden muss, was viel Kraft braucht, weil
sie sich jeweils dagegen wehrt. Ein kongruentes Bild zeichnen die
Ausführungen der Mutter in der Einsprache vom 22. April 2005, welche von der
Beschwerdeführerin nicht in Zweifel gezogen werden.

6.2 Bei den geschilderten Umständen handelt es sich durchwegs um Tatsachen,
deren Feststellung durch die Vorinstanz vom Bundesgericht nur daraufhin zu
überprüfen ist, ob sie offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter
Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen erfolgt ist (E. 2). Dies ist
offenkundig nicht der Fall. Rechtsfrage und vom Bundesgericht frei
überprüfbar ist hingegen, ob im Zeitpunkt, auf den die Vorinstanz der
Beschwerdegegnerin eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades und einen
Intensivpflegezuschlag zugesprochen hat, gegenüber einem nicht behinderten
Kind der hiezu vorausgesetzte Mehrbedarf an Betreuung und Überwachung
erforderlich war. Die Frage ist nach den für das Bundesgericht verbindlichen
vorinstanzlichen Erwägungen zum rechtserheblichen Sachverhalt zu bejahen. Es
liegt bei der Beschwerdegegnerin eine Ausprägung von Autismus vor, welche
einer besonders intensiven dauernden persönlichen Überwachung bedarf; diese
ist im Sinne von Art. 39 Abs. 3 zweiter Satz IVV als Betreuung von vier
Stunden anzurechnen. Der Einwand, dass auch ein gesundes Kind im Alter von
vier Jahren auf Betreuung, Pflege und Überwachung angewiesen sei, vermag
nicht darzutun, warum die Annahme einer Hilfsbedürftigkeit der
Beschwerdegegnerin vor dem 1. April 2005 angesichts der gegebenen klaren
Sach- und Rechtslage dazu führte, auch gesunden Kindern eine
Hilflosenentschädigung auszurichten. Denn wie gerade in der von der
Beschwerdeführerin angerufenen Rechtsprechung des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts (E. 5.2) dargelegt worden ist, kann eine autistische
Störung eine grosse Variationsbreite aufweisen, welcher die Vorinstanz hier
in bundesrechtskonformer Weise Rechnung getragen hat.

7.
Die Voraussetzung für die Zusprechung von Parteientschädigung im Sinne von
Umtriebsentschädigung (vgl. BGE 110 V 72 E. 7 S. 82) ist nicht gegeben.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. Januar 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz