Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 46/2007
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I 46/07
Urteil vom 29. Oktober 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Schüpfer.

M.________, 1956, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Jürg
Maron, Schaffhauserstrasse 345, 8050 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. November 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1956 geborene M.________ erlitt anlässlich eines Autounfalles im Jahre
1995 eine Traumatisierung der Halswirbelsäule, welche ein therapierefraktäres
Cervikalsyndrom mit Dauerkopfschmerzen und wechselnd starkem Schwindel zur
Folge hatte. Seit dem 1. Oktober 1996 bezieht sie neben einer Rente der
Unfallversicherung auch eine solche der Invalidenversicherung. Am 10. Februar
2004 meldete sich M.________ zum Bezug einer Hilflosenentschädigung bei der
IV-Stelle des Kantons Zürich an und machte geltend, sie benötige bei
verschiedenen alltäglichen Lebensverrichtungen Hilfe. Die IV-Stelle holte
beim Hausarzt der Versicherten, Dr. med. E.________, allgemeine Medizin FMH,
einen Bericht über deren Gesundheitszustand und die Hilfsbedürftigkeit ein
und liess die Verhältnisse vor Ort abklären (Bericht über einen Hausbesuch
vom 18. Januar 2005). Mit Verfügung vom 25. Januar 2005 lehnte die IV-Stelle
einen Anspruch auf Hilflosenentschädigung ab. Daran hielt sie auch auf
Einsprache hin fest (Entscheid vom 27. Februar 2006).

B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies eine dagegen geführte
Beschwerde, mit welcher eine leichte Hilflosigkeit wegen der Notwendigkeit
einer lebenspraktischen Begleitung geltend gemacht wurde, mit Entscheid vom
30. November 2006 ab.

C.
M.________ lässt dagegen Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen,
in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei ihre eine Entschädigung für eine
leichte Hilflosigkeit zuzusprechen, eventuell sei die Sache an die IV-Stelle
zurückzuweisen, damit sie weitere Abklärungen treffe.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene
Entscheid vor dem 1. Januar 2007 ergangen ist, richtet sich das Verfahren
noch nach dem bis zum 31. Dezember 2006 in Kraft gewesenen Bundesgesetz vom
16. Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG; Art. 131
Abs. 1 und Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
2.1 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung.
Das Bundesgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht
verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder
ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig
oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde
(Art. 132 Abs. 2 OG [in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom
16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG, in Kraft seit 1. Juli 2006] in
Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG; BGE 132 V 393
E. 1.1 S. 394). Es gibt entgegen den Ausführungen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde keinerlei Veranlassung, dieser
Gesetzesbestimmung die Anwendung zu verweigern.

2.2 Es ist aufgrund der Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu
prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der
massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen Bundesrecht
verletzt (Art. 104 lit. a OG), einschliesslich einer allfälligen
rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 105 Abs. 2 OG). Hingegen hat
eine freie Überprüfung des vorinstanzlichen Entscheides in tatsächlicher
Hinsicht (alt Art. 132 lit. b OG) ebenso zu unterbleiben wie eine Prüfung der
Ermessensbetätigung (alt Art. 132 lit. a OG) nach den Grundsätzen zur
Angemessenheitskontrolle. Auch besteht (entgegen alt Art. 132 lit. c OG)
Bindung an die Parteianträge, handelt es sich doch nicht um eine
Abgabestreitigkeit (Art. 114 Abs. 1 OG; BGE 132 V 393 E. 2.2 S. 396 mit
Hinweis).

3.
Streitig und zu prüfen ist letztinstanzlich einzig noch, ob die Versicherte
dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist und deswegen Anspruch
auf eine Hilflosenentschädigung leichten Grades hat. Andere Tatbestände der
Hilflosigkeit werden nicht mehr geltend gemacht und sind auf Grund der Akten
auch nicht erfüllt.

3.1 Die Vorinstanz hat die Bestimmungen über den Begriff der Hilflosigkeit
(Art. 9 ATSG), den Anspruch auf Hilflosenentschädigung im Allgemeinen (Art.
42 Abs. 1 IVG) und bei Angewiesenheit auf lebenspraktische Begleitung (Art.
42 Abs. 3 IVG; Art. 37 Abs. 3 lit. e in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 IVV, je
in der seit 1. Januar 2004 geltenden Fassung) zutreffend dargelegt. Darauf
wird verwiesen.

3.2 Die auf einen den Anforderungen genügenden Abklärungsbericht an Ort und
Stelle (Art. 69 Abs. 2 IVV) gestützten Feststellungen einer gerichtlichen
Vorinstanz über das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen bestimmter Einschränkungen
in bestimmten Lebensverrichtungen sind - analog zu medizinischen Angaben über
gesundheitliche Beeinträchtigungen bzw. über das noch vorhandene funktionelle
Leistungsvermögen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398) oder über das Vorliegen von
Einschränkungen im Haushalt (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 693/06
vom 20. Dezember 2006, E. 6.3) - Sachverhaltsfeststellungen, welche vom
Bundesgericht nur in den genannten Schranken (E. 2 hievor) überprüft werden.
Rechtsfrage ist hingegen die richtige Auslegung und Anwendung des
Rechtsbegriffs der Hilflosigkeit (Urteil des Bundesgerichts I 639/06 vom 5.
Januar 2007, E. 4.2).
3.3 Das Administrativverfahren vor der IV-Stelle wie auch der kantonale
Sozialversicherungsprozess sind vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht (Art.
43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG). Danach haben IV-Stelle und
Sozialversicherungsgericht den rechtserheblichen Sachverhalt von Amtes wegen
festzustellen. Diese Untersuchungspflicht dauert so lange, bis über die für
die Beurteilung des streitigen Anspruchs erforderlichen Tatsachen
hinreichende Klarheit besteht. Der Untersuchungsgrundsatz weist enge Bezüge
zum - auf Verwaltungs- und Gerichtsstufe ebenfalls in gleicher Weise
geltenden - Prinzip der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c in fine ATSG;
Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, Zürich/Basel/Genf 2003, N 26 zu Art. 43) auf
(einschliesslich die antizipierte Beweiswürdigung; vgl. BGE 131 I 153 E. 3 S.
157, 124 V 90 E. 4b S. 94; SVR 2005 MV Nr. 1 S. 1 E. 2.3, M 1/02): Führt die
pflichtgemässe, umfassende und sachbezogene Beweiswürdigung (BGE 125 V 351 E.
3a S. 352) den Versicherungsträger oder das Gericht zur Überzeugung, der
Sachverhalt sei hinreichend abgeklärt, darf von weiteren Untersuchungen
(Beweismassnahmen) abgesehen werden. Ergibt die Beweiswürdigung jedoch, dass
erhebliche Zweifel an Vollständigkeit und/oder Richtigkeit der bisher
getroffenen Tatsachenfeststellungen bestehen, ist weiter zu ermitteln, soweit
von zusätzlichen Abklärungsmassnahmen noch neue wesentliche Erkenntnisse zu
erwarten sind (Urteil des Bundesgerichts I 86/07 vom 29. März 2007, E. 3).

3.4 Der Anspruch auf Hilflosenentschädigung wegen Bedarfs an
lebenspraktischer Begleitung ist nicht auf Menschen mit Beeinträchtigung der
psychischen oder geistigen Gesundheit beschränkt. Es ist durchaus möglich,
dass auch andere Behinderte einen solchen Bedarf geltend machen können. Zu
denken ist insbesondere an hirnverletzte Menschen (erwähntes Urteil I 211/05,
E. 2.2.3; Rz. 8042 des vom BSV herausgegebenen Kreisschreibens über
Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH] in der seit
1. Januar 2004 gültigen Fassung; zu Art. 38 IVV: vgl. die Erläuterungen des
BSV in AHI 2003 S. 327 f.).
3.5 Rz. 8050 KSIH betrifft die lebenspraktische Begleitung im Rahmen der
Ermöglichung des selbstständigen Wohnens (vgl. Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV).
Sie ist notwendig, damit der Alltag selbstständig bewältigt werden kann, und
liegt vor, wenn die betroffene Person auf Hilfe bei mindestens einer der
folgenden Tätigkeiten angewiesen ist: Hilfe bei der Tagesstrukturierung;
Unterstützung bei der Bewältigung von Alltagssituationen (z.B.
nachbarschaftliche Probleme, Fragen der Gesundheit, Ernährung und Hygiene,
einfache administrative Tätigkeiten etc.); Anleitung zur Erledigung des
Haushalts sowie Überwachung/Kontrolle.

Nach Rz. 8051 KSIH ist bei ausserhäuslichen Verrichtungen (vgl. Art. 38 Abs.
1 lit. b IVV) die lebenspraktische Begleitung notwendig, damit die
versicherte Person in der Lage ist, das Haus für bestimmte notwendige
Verrichtungen und Kontakte zu verlassen (Einkaufen, Freizeitaktivitäten,
Kontakte mit Amtsstellen oder Medizinalpersonen, Coiffeurbesuch etc.). Es
muss sich um eine tatsächliche Begleitung handeln.

Gemäss Rz. 8052 KSIH ist die lebenspraktische Begleitung notwendig, um der
Gefahr vorzubeugen, dass sich die versicherte Person dauernd von sozialen
Kontakten isoliert (vgl. Art. 38 Abs. 1 lit. c IVV) und sich dadurch ihr
Gesundheitszustand erheblich verschlechtert. Die rein hypothetische Gefahr
einer Isolation von der Aussenwelt genügt nicht; vielmehr müssen sich die
Isolation und die damit verbundene Verschlechterung des Gesundheitszustandes
bei der versicherten Person bereits manifestiert haben. Die notwendige
lebenspraktische Begleitung besteht in beratenden Gesprächen und der
Motivation zur Kontaktaufnahme (z.B. Mitnehmen zu Anlässen) (Urteil des
Bundesgerichts I 609/06 vom 10. September 2007, E. 5.4.1).

4.
4.1 Bei der Erarbeitung der Grundlagen für die Bemessung der Hilflosigkeit
ist eine enge, sich ergänzende Zusammenarbeit zwischen Arzt und Verwaltung
erforderlich. Ersterer hat anzugeben, inwiefern die versicherte Person in
ihren körperlichen bzw. geistigen Funktionen durch das Leiden eingeschränkt
ist. Der Versicherungsträger kann an Ort und Stelle weitere Abklärungen
vornehmen. Bei Unklarheiten über physische oder psychische bzw. geistige
Störungen oder deren Auswirkungen auf alltägliche Lebensverrichtungen sind
Rückfragen an die medizinischen Fachpersonen nicht nur zulässig, sondern
notwendig. Weiter sind die Angaben der Hilfe leistenden Personen zu
berücksichtigen, wobei divergierende Meinungen der Beteiligten im Bericht
aufzuzeigen sind (BGE 130 V 61).

4.2 Dem Zeugnis des Dr. med. E.________ vom 29. Juni 2004 ist zu entnehmen,
dass die Beschwerdeführerin in keiner der drei Kategorien auf
lebenspraktische Begleitung angewiesen ist. In der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird eine Liste von Tätigkeiten aufgeführt, bei
welchen sie eingeschränkt sei und entsprechender Hilfe bedürfe: Wegen der
Gefahr von Schwindelanfällen müsse das Duschen ständig und direkt überwacht
werden. Ebenso müssten die Haare nach dem Waschen von Dritten geföhnt und
frisiert werden. Es handelt sich dabei um Handlungen, die zum Bereich der
Körperpflege gehören. Die IV-Stelle hat anerkannt, dass hier eine
Hilflosigkeit vorliegt. Diese notwendige Hilfe kann nicht gleichzeitig bei
der lebenspraktischen Begleitung berücksichtigt werden, da es sich dabei um
eine eigene unabhängige Kategorie von Hilfsbedürftigkeit handelt. Die
"lebenspraktische Begleitung" beinhaltet weder die (direkte oder indirekte)
"Dritthilfe bei den sechs alltäglichen Lebensverrichtungen" noch die "Pflege"
noch die "Überwachung". Sie stellt vielmehr ein zusätzliches und
eigenständiges Institut der Hilfe dar (Urteil des Bundesgerichts, I 211/05,
vom 23. Juli 2007, E.9). Entsprechend sind auch weder das Verabreichen
schmerzstillender Spritzen, noch die gelegentliche Hilfe beim Zuknöpfen der
Kleider zu berücksichtigen. Damit verbleibt lediglich die Begleitung zur
Physiotherapie, beim Einkauf von Kleidern und Schuhen sowie dem Gang zum
Coiffeur im Sinne von ausserhäuslichen Verrichtungen (Art. 38 Abs. 1 lit. b
IVV) als anspruchsrelevant. Gemäss Abklärungsgericht vom 18. Januar 2005 wird
die Beschwerdeführerin zu diesen Gängen in der Regel von ihren Töchtern
begleitet. Sei dies aber nicht möglich, lege sie den Weg selbstständig
zurück. Das kantonale Gericht hat für das Bundesgericht verbindlich (E. 2)
festgestellt, dass eine Begleitung nicht notwendig, sondern von den
Beteiligten lediglich erwünscht ist. Eine entsprechende Notwendigkeit einer
ausserhäuslichen Begleitung ist denn auch nicht medizinisch ausgewiesen,
erachtet sie der Hausarzt doch als nicht notwendig. Da zwischen der
Ermittlung der Abklärungsperson und dem Arztzeugnis kein Widerspruch besteht,
bestand auch keine Notwendigkeit für eine Vertiefung dieses
Sachverhaltselementes durch Verwaltung oder Vorinstanz.

erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt und
mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 29. Oktober 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

i.V. Leuzinger Schüpfer