Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 15/2007
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I 15/07

Urteil vom 28. November 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

W. ________, 1999, Beschwerdeführer,
vertreten durch seine Eltern,
und diese vertreten durch Rechtsanwalt
Bodo von Düring, Furrengasse 5, 6004 Luzern,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Luzern
vom 22. November 2006.

Sachverhalt:

A.
Der 1999 geborene W.________ leidet gemäss Bericht des Dr. med. G.________,
Oberarzt des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes X.________, vom
20. Januar 2005 an frühkindlichem Autismus, einem Geburtsgebrechen im Sinne
von Ziff. 401 GgV-Anhang, und bezog deswegen verschiedene Leistungen der
Invalidenversicherung. U.a. übernahm diese gemäss Verfügung der IV-Stelle
Luzern vom 29. März 2005 für die Zeit vom 25. Februar 2004 bis 28. Februar
2009 die Kosten für die Behandlung des Geburtsgebrechens. Hingegen lehnte die
IV-Stelle mit Verfügung vom 30. März 2005 das Gesuch der Eltern von
W.________ um Übernahme der Psychotherapie nach Lovaas ab, da diese als Teil
einer medizinischen Massnahme im Zusammenhang mit einem Geburtsgebrechen
zurzeit noch nicht wissenschaftlich anerkannt sei. Auf Einsprache der Eltern
von W.________ hin hielt die IV-Stelle mit Entscheid vom 3. November 2005 an
ihrem ablehnenden Standpunkt fest.

B.
Die Eltern von W.________ führten Beschwerde mit dem Antrag, unter Aufhebung
des Einspracheentscheides sei die Invalidenversicherung zu verpflichten, die
vom Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst X.________ durchgeführte
Psychotherapie nach Lovaas zu übernehmen. Mit Entscheid vom 22. November 2006
wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern die Beschwerde ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuern die Eltern von W.________ das
vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

D.
Mit Eingabe vom 17. Mai 2007 lassen sich die Eltern von W.________ im Rahmen
eines zweiten Schriftenwechsels unter Beilage u.a. eines Zeugnisses des Dr.
med. K.________ vom 19. April 2007, eines Berichts der diplomierten
Ergotherapeutin H.________ vom 10. Mai 2007 und eines Verlaufsberichts des
Dr. med. G.________ (vom 17. Mai 2007) zur Stellungnahme des BSV vernehmen.
IV-Stelle und BSV halten in der Folge an ihrem Antrag auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde fest.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Anspruch auf medizinische
Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 12 IVG) und bei
Geburtsgebrechen im Besonderen (Art. 13 Abs. 1 IVG) sowie den Begriff des
Geburtsgebrechens (Art. 3 Abs. 2 ATSG), welches den Anspruch auf Leistungen
der Invalidenversicherung begründet (Art. 13 Abs. 2 IVG in Verbindung mit der
Liste im Anhang zur GgV) und die nach Art. 2 Abs. 1 Satz 2 IVV für die
Leistungspflicht der Invalidenversicherung vorausgesetzte
Wissenschaftlichkeit der medizinischen Massnahme zutreffend dargelegt. Weiter
hat die Vorinstanz festgestellt, dass der Beschwerdeführer an frühkindlichem
Autismus, einem Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff. 401 GgV-Anhang, leide und
deshalb grundsätzlich Anspruch auf medizinische Eingliederungsmassnahmen der
Invalidenversicherung habe. Streitig und zu prüfen ist einzig, ob die
Invalidenversicherung gestützt auf Art. 13 IVG die Psychotherapie nach Lovaas
(Applied Behavioral Analysis[ABA]) zu übernehmen hat.

3.
3.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat sich erstmals im Urteil
I 757/03 vom 18. Mai 2004 mit der Frage befasst, ob die Invalidenversicherung
die ABA-Therapie nach Lovaas zur Behandlung des Autismus zu übernehmen habe.
Dabei gelangte es gestützt auf ein kinderpsychologisches Gutachten zum
Schluss, dass die entsprechende Behandlung noch nicht auf breiter Basis
wissenschaftlich anerkannt sei, obwohl damit in einzelnen Ländern Erfolge
erzielt würden, weshalb es den Anspruch verneinte. In weiteren Urteilen
(I 401/04 vom 3. Dezember 2004, I 817/04 vom 18. April 2005 und I 604/04 vom
25. November 2005) hat das Eidgenössische Versicherungsgericht an diesem
Standpunkt festgehalten und die Wissenschaftlichkeit der Lovaas-Therapie
ebenfalls verneint.

3.2 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird geltend gemacht, die Therapie
sei wissenschaftlich anerkannt und darauf hingewiesen, dass es sich bei
Lovaas um den Wissenschaftler handle, der sich am längsten mit Autismus
befasst. Dies war dem Eidgenössischen Versicherungsgericht bei Erlass der
zitierten Urteile, die sich auf ein kinderpsychologisches Gutachten stützen,
durchaus bekannt. Der Umstand, dass seither zahlreiche neue Publikationen zum
Thema erschienen sind, ist nicht geeignet, die Wissenschaftlichkeit der
Methode nachzuweisen. Weder seit Erlass des Urteils vom 3. Dezember 2004
(I 401/04) noch der später ergangenen Entscheidungen des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts sind neue Erkenntnisse gewonnen worden, welche die
Wissenschaftlichkeit dieser Methode im Sinne von Art. 2 Abs. 1 IVV belegen
würden, sodass diese auf breiter Basis anerkannt würde. Im Gegenteil: Wie das
BSV in der Vernehmlassung unter Beilage von Fachpublikationen aus den USA und
Deutschland einlässlich dargelegt hat, fehlt für die Lovaas-Therapie und
deren Wirksamkeit die wissenschaftliche Anerkennung. Dem Therapiekonzept nach
Lovaas erwachse von allen Seiten viel Kritik.

3.3 Aus der vom Beschwerdeführer letztinstanzlich eingereichten neueren
Literatur, insbesondere der Studie von Glen O. Sallows und Tamlynn D.
Graupner (in: American Journal on mental Retardation, Volume 110, Number
6. November 2005, S. 417 ff.) geht hervor, dass in Versuchen die von Lovaas
in seiner grundlegenden Studie von 1987 angegebenen, später in Frage
gestellten Erfolge (wonach 47 % der behandelten Kinder hätten normal
eingeschult werden können) mindestens teilweise reproduziert werden konnten.
Nach anderen neueren Studien sind die Ergebnisse der Behandlung offenbar
nicht ähnlich gut, aber besser als bei den Vergleichsgruppen (Howard Cohen et
al., Early Intensive Behavioral Treatment: Replication of the UCLA Model in a
Community Setting, in: Developmental and Behavioral Pediatrics, April 2006,
S. 145 ff.). Laut anderen, im Internet publizierten Studien wiederum kann
anscheinend mit Methoden, die einen geringeren Aufwand erfordern, ein
vergleichbarer Erfolg erzielt werden.
Gesamthaft betrachtet erscheint es wahrscheinlich, dass mit der ABA-Therapie
bessere Erfolge erreicht werden als mit anderen Therapien. Indessen wird in
der Wissenschaft über die Schlüssigkeit der Ergebnisse immer noch diskutiert
(vgl. Bemerkungen des Herausgebers in der Einleitung zum Artikel von Howard
Cohen et al., a.a.O., S. 145). Die Therapie kann daher jedenfalls zurzeit
noch nicht als bewährte Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft betrachtet
werden. Selbst wenn die Wirksamkeit der Therapie nachgewiesen wäre, ist nicht
erstellt, dass damit der Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise erreicht
wird. Nachdem die Übernahme der ABA-Therapie nach Lovaas durch die
Invalidenversicherung weiterhin ausser Betracht fällt, kann die Frage, ob es
sich begrifflich um eine medizinische Eingliederungsmassnahme nach Art. 13
IVG handelt, offen gelassen werden. Ebenso wenig braucht geprüft zu werden,
ob die Einwendungen des BSV in medizinischer Hinsicht, mit welchen die
Diagnose eines frühkindlichen Autismus angezweifelt wird, stichhaltig sind.

3.4 Sodann wird auch in der Stellungnahme des Versicherten zur Vernehmlassung
des BSV nichts vorgebracht, was zu einem abweichenden Ergebnis zu führen
vermöchte. Dass der Versicherte in den letzten Jahren auch dank der hier
streitigen Therapie im kognitiven und im kommunikativen Bereich offenbar
erhebliche Fortschritte erzielt hat, mag zutreffen; der geschilderte, durch
den vom Versicherten mit Eingabe vom 17. Mai 2007 eingereichten
Verlaufsbericht des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie Y.________ vom
17. Mai 2007 dokumentierte Erfolg der Therapie bezieht sich indessen auf
einen für die geforderte medizinische Wissenschaftlichkeit der Methode nicht
massgebenden Einzelfall.

3.5 Die Behauptung des Beschwerdeführers schliesslich, die
Invalidenversicherung übernehme bei den anderen Teilnehmern am Programm OPSY
der Universität Zürich, das die verhaltenstherapeutische Behandlung von
Kindern mit autistischen Störungen anstrebt, die gesamten Kosten, ist durch
nichts belegt. Abgesehen davon wären die Voraussetzungen für eine allfällige
Gleichbehandlung im Unrecht nicht erfüllt (BGE 126 V 390 E. 6a S. 392).

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 28. November 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer