Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 142/2007
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I 142/07
Urteil vom 20. November 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Maillard.

P. ________, 1966, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger, Schwanenplatz 7,
6004 Luzern,

gegen

IV-Stelle Nidwalden, Stansstaderstrasse 54, 6371 Stans, Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Nidwalden
vom 6. November 2006.

Sachverhalt:

A.
Der 1966 geborene P.________, gelernter Automechaniker, war seit September
1991 bei der Firma X.________ als Mechaniker/Handwerkmeister/Teamleiter
tätig. Am 12. Februar 2002 meldete er sich unter Hinweis auf einen
Bandscheibenvorfall mit Lähmungen im rechten Bein bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach getätigten medizinischen
und beruflichen Abklärungen gewährte ihm die IV-Stelle Nidwalden mit
Verfügung vom 20. Juni 2003 berufliche Massnahmen (Deutschstützkurs und
berufsbegleitende Umschulung zum kaufmännischen Angestellten). Diese
Umschulung brach P.________ nach einem Schuljahr im Frühsommer 2004 vorzeitig
ab, ohne einen Abschluss erlangt zu haben. Am 11. August 2005 erstattete med.
pract. B._______, Regionaler ärztlicher Dienst (RAD), einen psychiatrischen
Untersuchungsbericht. In medizinischer Hinsicht hauptsächlich gestützt darauf
lehnte die IV-Stelle mit Verfügung vom 14. September 2005 einen
Rentenanspruch mangels invaliditätsbedingter Erwerbseinbusse ab. Daran hielt
sie mit Einspracheentscheid vom 5. Dezember 2005 fest.

B.
Die von P.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Nidwalden mit Entscheid vom 6. November 2006 ab.

C.
P.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, in
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihm  ab 1. August 2005 eine
ganze Invalidenrente zu gewähren. Eventuell sei die Sache zur ergänzenden
Abklärung für ein psychiatrisches Gutachten an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Erwägungen:

1.
1.1 Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR
173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung.
Das Bundesgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht
verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder
ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig
oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde
(Art. 132 Abs. 2 OG [in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom
16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG, in Kraft seit 1. Juli 2006] in
Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Streitig ist, ob der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung hat. Das kantonale Versicherungsgericht hat die zur
Beurteilung dieses Anspruchs einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
Als erstes ist die Frage zu prüfen, in welchem Ausmass der Beschwerdeführer
noch arbeitsfähig ist.

3.1 Das kantonale Gericht hat in Würdigung der medizinischen Akten
festgestellt, dass als Hauptursache für die vom Versicherten geklagten
Beschwerden eine somatoforme autonome Schmerzstörung ohne psychiatrische
Komorbidität vorliege, diese indessen nicht invalidisierend im Sinne der
Rechtsprechung sei und daher von einer vollen Arbeitsfähigkeit bei
rückenadaptierten Tätigkeiten auszugehen sei. Diese
Sachverhaltsfeststellungen stützen sich im Wesentlichen auf den
Untersuchungsbericht des RAD-Arztes B.________ vom 11. August 2005. Während
das kantonale Gericht diesen Bericht als schlüssig erachtet, übt der
Beschwerdeführer daran teils letztinstanzlich unbeachtliche appellatorische
(vgl. E. 1.2), teils aber auch grundsätzlich berechtigte Kritik.

3.2 Die Rechtsprechung hat sich schon wiederholt mit dem Beweiswert von
medizinischen Berichten und Gutachten befasst, die von bei der Verwaltung
oder bei der Versicherung angestellten Ärzten abgefasst wurden:
3.2.1 Den von versicherungsinternen Ärzten erstellten Berichten und Gutachten
kann voller Beweiswert zukommen, wenn sie die dazu erforderlichen
Voraussetzungen erfüllen. Sie müssen als schlüssig erscheinen,
nachvollziehbar begründet sowie in sich widerspruchsfrei sein und es dürfen
keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit bestehen. Im Hinblick auf die
erhebliche Bedeutung, welche den Arztberichten im Sozialversicherungsrecht
zukommt, ist an die Unparteilichkeit des Gutachters allerdings ein strenger
Massstab anzulegen (BGE 125 V 351 E. 3b/ee S. 353). Einem Gutachten kommt
schon dann kein voller Beweiswert zu, wenn Indizien gegen seine
Zuverlässigkeit sprechen; es muss nicht feststehen, dass das Gutachten
effektiv nicht den Tatsachen entspricht, was nicht mit medizinischen
Fachpersonen besetzte Behörden oft nicht beurteilen könnten (Urteil B. vom 3.
August 2000, I 178/00, E. 4a).

3.2.2 Nach Art. 59 IVG müssen die IV-Stellen über die notwendigen Dienste
verfügen, damit sie ihre Aufgabe gemäss Art. 57 IVG fachgerecht und
beförderlich durchführen können (Abs. 1). Zur Beurteilung der medizinischen
Anspruchsvoraussetzungen stehen den IV-Stellen interdisziplinär
zusammengesetzte regionale ärztliche Dienste zur Verfügung. Diese unterstehen
der direkten fachlichen Aufsicht des Bundesamtes (BSV), sind aber in ihrem
medizinischen Sachentscheid im Einzelfall unabhängig. Die IV-Stellen richten
die regionalen ärztlichen Dienste ein. Der Bundesrat legt die Regionen nach
Anhören der Kantone fest (Abs. 2).

3.2.3 Die fachliche Qualifikation des Experten spielt für die richterliche
Würdigung einer Expertise eine erhebliche Rolle. Bezüglich der medizinischen
Stichhaltigkeit eines Gutachtens müssen sich Verwaltung und Gerichte auf die
Fachkenntnisse des Experten verlassen können. Deshalb ist für die Eignung
eines Arztes als Gutachter in einer bestimmten medizinischen Disziplin ein
entsprechender, dem Nachweis der erforderlichen Fachkenntnisse dienender,
spezialärztlicher Titel des berichtenden oder zumindest des den Bericht
visierenden Arztes vorausgesetzt (Urteil B. vom 3. August 2000, I 178/00, E.
4a). Dies gilt auch für (SUVA-) versicherungsinterne Entscheidgrundlagen,
sind doch an die Unparteilichkeit und Zuverlässigkeit solcher Grundlagen
strenge Anforderungen zu stellen (BGE 122 V 157 E. 3 S. 165). Nichts anderes
kann für RAD-ärztliche Untersuchungen im Sinne von Art. 49 Abs. 2 IVV gelten,
hat doch der Gesetzgeber mit diesen interdisziplinär zusammengesetzten
ärztlichen Diensten im Rahmen der 4. IVG-Revision (vgl. die Botschaft vom 21.
Februar 2001 über die 4. Revision des Bundesgesetzes über die
Invalidenversicherung [BBl 2001 3205]) ein Durchführungsinstrument geschaffen
für eine gesamtschweizerisch möglichst einheitliche Beurteilung von
Leistungsgesuchen, um u.a. so die Ausgabenentwicklung in der IV besser in den
Griff zu bekommen (S. 3207 der bundesrätlichen Botschaft). Gestützt auf die
in E. 3.2.2 dargestellte gesetzliche Grundlage (Art. 59 Abs. 2 IVG) hat der
Bundesrat in Art. 47 ff. IVV die regionalen ärztlichen Dienste geordnet, in
Art. 48 IVV ausdrücklich Fachdisziplinen (u.a. Psychiatrie) vorgeschrieben
und in Art. 49 IVV die Aufgaben im Einzelnen normiert. Wenn die RAD die ihnen
nach Abs. 2 der letztgenannten Bestimmung zugedachte wichtige Rolle und
Weichenstellung (ärztliche Untersuchungen) spielen sollen, müssen die für sie
tätigen Ärzte über das dazu erforderliche Ausbildungsprofil verfügen.

3.2.4 Als Anforderungsprofil für die Fachdisziplin Psychiatrie können die
Leitlinien der Schweizerischen Gesellschaft für Versicherungspsychiatrie für
die Begutachtung psychischer Störungen (in: Schweizerische Ärztezeitung 2004
S. 1049 f.; nachfolgend: SGVP-Richtlinien) als Standard herangezogen werden.
Diese haben zwar nicht verbindlich-behördlichen Charakter, formulieren aber
doch den fachlich anerkannten Standard, welcher in der Schweiz für eine
sachgerechte, rechtsgleiche psychiatrische Begutachtungspraxis in der
Sozialversicherung gelten soll. Deshalb nimmt denn auch die Rechtsprechung
darauf immer wieder Bezug (zuletzt: Urteile A vom 3. September 2007, I
722/06, und vom 19. Juni 2006, I 51/06). Nach Ziff. II/6 der genannten
Richtlinien bildet "eine Facharztausbildung in Psychiatrie und
Psychotherapie" eine der Voraussetzungen auf Seiten des Gutachters.

3.3 Im hier zu beurteilenden Fall sprechen sich sämtliche medizinischen
Unterlagen (der behandelnden Ärzte) für ein komplexes, seit Jahren
bestehendes chronifiziertes psychosomatisches Krankheitsgeschehen aus, das
behaupteterweise und eventuell tatsächlich die Arbeitsfähigkeit
beeinträchtigt. Nach ständiger Rechtsprechung ist in aller Regel zur
Abklärung der invalidisierenden Wirkung, insbesondere hinsichtlich der hier
im Raum stehenden psychischen Komorbidität (medikamentös behandelte
Depressivität), eine fachärztliche psychiatrische Expertisierung angezeigt
(siehe dazu BGE 130 V 352 E. 2.2 S. 353 f.). Wenn die IV-Stelle in dieser
Situation, wie es ihre Pflicht ist, zu Abklärungen schreitet, so hat sie
diese nach dem bisher Gesagten durch einen internen (RAD) oder externen
(Administrativgutachter) psychiatrischen Facharzt vornehmen zu lassen.

3.4 Der die psychiatrische Exploration vorgenommene Arzt des RAD verfügt zwar
über eine langjährige Praxis im Bereich der Psychiatrie, ist aber
unbestrittenermassen nicht Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie.
Er hatte im entscheidenden Zeitpunkt der Untersuchung (4. Juli 2005) zwar den
ersten Teil der Psychiatriefacharztprüfung abgelegt, den zweiten Teil
(Psychotherapie) indessen noch nicht. Der Bericht beruht daher nicht auf
spezialärztlichen Feststellungen. Das Fehlen eines Facharzttitels für
Psychiatrie stellt ein Indiz gegen die Zuverlässigkeit des Berichts von med.
pract. B.________ in psychiatrischer Hinsicht dar, sodass diesem insoweit
kein voller Beweiswert zukommt.

4.
Der Beweiswert des fraglichen Berichtes ist aber auch aus einem weiteren
Grund vermindert:
4.1 Mit Urteil vom 31. August 2007, I 65/2007, hat das Bundesgericht
entschieden, dass der Beweiswert eines RAD-Berichtes, den eine Ärztin mit
"Psychiaterin FMH" unterzeichnete, ohne über die entsprechende Berechtigung
zur Führung des Facharzttitels nach dem Bundesgesetz vom 19. Dezember 1877
betreffend die Freizügigkeit des Medizinalpersonals in der Schweizerischen
Eidgenossenschaft (aufgehoben mit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über
die universitären Medizinalberufe [Medizinalberufegesetz; SR 811.11] am 1.
September 2007) zu verfügen, entscheidend geschwächt ist und daher nicht als
einzige medizinische Basis der gerichtlichen Beurteilung dienen kann.

4.2 Hier liegt eine durchaus vergleichbare Ausgangslage vor, ist doch
erstellt, dass der untersuchende Arzt den Bericht vom 11. August 2005 als
"Dr. med." unterzeichnete, obwohl er zwar über ein (deutsches) Staatsexamen
in Medizin, nicht aber über die Berechtigung zur Führung eines Doktortitels,
verfügte. Wie in jenem Urteil wird der Beweiswert des Berichtes damit durch
eine Titelanmassung erheblich in Frage gestellt. Der Sachverhaltswürdigung
des kantonalen Gerichts, die Erklärung der IV-Stelle bzw. des RAD, dabei habe
es sich um ein administratives Versehen gehandelt, sei glaubwürdig, kann
nicht gefolgt werden. Denn abgesehen davon, dass es auf die Ursache dieses
Fehlers nicht ankommen kann, widerspricht eine solche Einschätzung der
Lebenserfahrung und ist offensichtlich unrichtig. Mit "einer innerbetrieblich
verbindlich festgelegten Form der Unterzeichnung", wie die IV-Stelle geltend
macht, lässt sich der - im Übrigen wiederholt und über einen langen Zeitraum
begangene - Fehler nicht erklären, ist doch einem Arzt die Bedeutung eines
akademischen Titels durchaus bekannt. Aus dem Verlaufsprotokoll der
Vorinstanz vom 6. November 2006 geht schliesslich hervor, dass sich der
untersuchende Arzt am 4. Juli 2005 als "Dr. B.________" vorgestellt hat.
Diese Aussage des Beschwerdeführers blieb jedenfalls unwidersprochen, sodass
ein administratives Versehen ausgeschlossen werden muss.

5.
Nach dem Gesagten steht fest, dass der Beweiswert des Untersuchungsberichtes
des med. pract. B.________ vom 11. August 2005 derart entscheidend
herabgesetzt ist, dass das kantonale Gericht seine Beurteilung nicht
hauptsächlich darauf stützen durfte. Da sich in den Akten ansonsten keine
unabhängige fachärztliche Beurteilung findet, lässt sich über die
Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht kein schlüssiges Bild machen. Es
kann daher insbesondere über den Rentenanspruch - entgegen dem Antrag des
Beschwerdeführers - nicht materiell entschieden werden. Die Sache ist daher
an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie eine den Anforderungen genügende
psychiatrische Abklärung vornehmen lasse und anschliessend über den
Rentenanspruch neu verfüge.

6.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 Satz 2 OG in der seit 1. Juli
2006 geltenden Fassung). Die Gerichtskosten sind der Beschwerdegegnerin als
unterliegender Partei aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art.
135 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid
des Verwaltungsgerichts des Kantons Nidwalden vom 6. November 2006 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle Nidwalden vom 5. Dezember 2005 werden
aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle Nidwalden zurückgewiesen, damit
sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über den Rentenanspruch neu verfüge.
Im Übrigen wird die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden wird über eine Neuverlegung der
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Nidwalden, Abteilung Versicherungsgericht, der Eidgenössischen
Ausgleichskasse und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich
mitgeteilt.

Luzern, 20. November 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Maillard