Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 115/2007
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I 115/07

Urteil vom 19. April 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Leuzinger,
Gerichtsschreiber Jancar.

K. ________, 1959, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Andreas
Gafner, Nidaugasse 24, 2502 Biel,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern vom          22. Dezember 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1959 geborene K.________ war ab 10. April 2000 bis 31. Dezember 2003 als
Hilfsarbeiterin bei der Firma G.________ angestellt. Am 24. Februar 2004
meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die
IV-Stelle Bern holte diverse Arztberichte, Abklärungsberichte Haushalt vom
17. Juni 2005 und 31. März 2006 sowie ein Gutachten des Psychiaters Dr. med.
H.________ vom 17. März 2006 ein. Dieser stellte folgende Diagnosen: 1.
Chronisch rezidivierende depressive Episoden, zur Zeit leicht bis
mittelgradig (ICD-10: F33.0/1), wahrscheinlich auf dem Boden einer Dysthymie
(ICD-10: F34.1); 2. Generalisierte Angststörung (ICD-10: F41.),
wahrscheinlich begleitet von episodischen Angststörungen (ICD-10: F41.0); 3.
Diverse soziale Probleme, wie Probleme in der Beziehung zum Ehepartner
(ICD-10: Z63.0), ungenügende familiäre Unterstützung (ICD-10: Z63.2),
Schwierigkeiten bei der kulturellen Eingewöhnung (ICD-10: Z60.3),
Familienzerrüttung durch Trennung und Scheidung (ICD-10: Z63.5), ungenügende
Integration. Aus psychiatrischer Sicht bestehe eine 50%ige
Arbeitsunfähigkeit. Mit Verfügung vom 6. April 2006 verneinte die IV-Stelle
einen Rentenanspruch, da der Invaliditätsgrad in Anwendung der gemischten
Methode (Anteile: Erwerbstätigkeit 70 %, Haushalt 30 %) 29 % betrage. Dagegen
erhob die anwaltlich vertretene Versicherte Einsprache und legte unter
anderem einen Bericht des behandelnden Psychiaters Dr. med. L.________ vom
27. Juni 2006 auf. Mit Entscheid vom 27. Juli 2006 wies die IV-Stelle die
Einsprache ab, indem sie den Anspruch auf eine Invalidenrente verneinte
(Ziff. 1). Zudem wies sie das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen
Verbeiständung ab (Ziff. 2).

B.
Hiegegen reichte die Versicherte beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern
Beschwerde ein und beantragte, die IV-Stelle sei zu verpflichten, ihr eine
angemessene Invalidenrente auszurichten. Weiter verlangte sie die Gewährung
der unentgeltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren und im kantonalen
Verfahren. Das kantonale Gericht hiess die Beschwerde in dem Sinne gut, als
es Ziff. 1 des Einspracheentscheides aufhob und die Akten zum weiteren
Vorgehen im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurückwies. Soweit
weitergehend wies es die Beschwerde ab. Für das kantonale Verfahren sprach es
der Versicherten die verlangte Parteientschädigung von Fr. 2446.40 (inklusive
Auslagen und Mehrwertsteuer) zu. Den Erwägungen ist zu entnehmen, dass das
kantonale Gericht die Versicherte entgegen der IV-Stelle als ganztägig
Erwerbstätige qualifizierte, was zur Anwendung der
Einkommensvergleichsmethode führte. Zudem wurde die IV-Stelle verpflichtet,
weitere medizinische Abklärungen vorzunehmen (Entscheid vom 22. Dezember
2006).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Versicherte, der kantonale
Entscheid sei insoweit aufzuheben, als der Anspruch auf unentgeltliche
Verbeiständung im Einspracheverfahren verneint worden sei; diesbezüglich sei
ihr die unentgeltliche Verbeiständung zu bewilligen. Ferner ersucht sie um
Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung für das letztinstanzliche
Verfahren.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Mit diesem
Gesetz ist die bisherige organisatorische Selbstständigkeit des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts aufgehoben und dieses mit dem
Bundesgericht fusioniert worden (Seiler in: Seiler/ von Werdt/Güngerich,
Kommentar zum BGG, Art. 1   N 4 und Art. 132  N 15). Das vorliegende Urteil
wird daher durch das Bundesgericht gefällt. Weil der angefochtene Entscheid
jedoch vor dem 1. Januar 2007 ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach dem bis zum       31. Dezember 2006 in Kraft gewesenen Bundesgesetz vom
16. Dezember 1943 über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG;     Art.
131 Abs. 1 und 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 395 E. 1.2).

2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf
unentgeltliche Verbeiständung im Einspracheverfahren.

Der angefochtene Entscheid hat diesbezüglich nicht die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Bundesgericht
prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte,
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der
rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder
unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art.
132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG; Urteil
des Bundesgerichts    I 911/06 vom 2. Februar 2007, E. 2).

3.
Nach der Rechtsprechung zu Art. 52 Abs. 3 Satz 2 ATSG hat der Einsprecher,
der nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, um die Anwaltskosten selbst
zu tragen, und der im Falle des Unterliegens die unentgeltliche
Verbeiständung (Art. 37 Abs. 4 ATSG) hätte beanspruchen können, bei Obsiegen
Anspruch auf eine Parteientschädigung (BGE 130 V 570).

Entsprechend dem Ausgang des vorinstanzlichen Verfahrens in materieller
Hinsicht ist von einem Obsiegen der Versicherten im Einspracheverfahren
auszugehen (vgl. auch Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts I 692/05 vom
10. März 2006, E. 6.2, und I 507/04 vom        27. April 2005, E. 6).

4.
Das kantonale Gericht hat die gesetzliche Bestimmung über die unentgeltliche
Verbeiständung im Sozialversicherungsverfahren (Art. 37 Abs. 4 ATSG; vgl.
auch Art. 29 Abs. 3 BV) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der
zu den Voraussetzungen der unentgeltlichen Verbeiständung im
Sozialversicherungsverfahren ergangenen Rechtsprechung (Bedürftigkeit der
Partei, fehlende Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren, sachliche Gebotenheit
im konkreten Fall; BGE 130   I 180 ff., 125 V 32 E. 4b S. 35 f., AHI 2000 S.
162 E. 2a und b, je mit Hinweisen; Anwaltsrevue 3/2005 S. 123, I 557/04; HAVE
2004 S. 317, I 75/04; erwähntes Urteil I 911/06, E. 4). Darauf wird
verwiesen.

5.
Die Vorinstanz hat erwogen, die Versicherte sei bereits im
Verwaltungsverfahren durch den Sozialdienst finanziell unterstützt und
beraten worden. Im Einspracheverfahren habe nur die Status-Festlegung und die
Beurteilung der wenigen medizinischen Unterlagen sowie des Gutachtens gerügt
werden müssen. Auch wenn die Versicherte Analphabetin und weder der deutschen
noch der französischen Sprache mächtig sei, hätte die Einsprache vom
Sozialdienst oder von einer Beratungsstelle verfasst werden können. Der
Beizug eines Anwalts sei damit nicht erforderlich gewesen.

6.
6.1 Die Beschwerdeführerin hatte sich im Einspracheverfahren mit vier
Arztberichten, den zwei je 9-seitigen, im Ergebnis divergierenden
Abklärungsberichten Haushalt vom 17. Juni 2005 und 31. März 2006 sowie dem
13-seitigen psychiatrischen Gutachten vom 17. März 2006 auseinanderzusetzen.
Umstritten war zudem, ob die Versicherte entsprechend ihrem Begehren als
ganztägig oder, der IV-Stelle folgend, als teilzeitlich Erwerbstätige
einzustufen ist, was je zur Anwendung einer anderen Methode der
Invaliditätsbemessung (Einkommensvergleich, gemischte Methode) führt. Das
Verfahren war mithin rechtlich und sachverhaltsmässig nicht einfach.

Weiter ist zu beachten, dass die Abteilung für Soziales dem Rechtsvertreter
der Versicherten im Schreiben vom 31. Mai 2006 angab, in Folge der
Komplexität der Situation seien sie nicht in der Lage gewesen, die
Versicherte im Einspracheverfahren selber zu beraten. Sie hätten ihr deshalb
empfohlen, sich im Einspracheverfahren durch einen Fürsprecher vertreten zu
lassen. Die Versicherte hat mithin einen Anwalt erst beigezogen, nachdem sie
erfolglos eine soziale Institution kontaktiert hatte. Das vorinstanzliche
Argument, die Versicherte hätte sich durch diese Behörde oder eine andere
Beratungsstelle verbeiständen lassen können, ist mithin nicht stichhaltig
(vgl. auch Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 475/06 vom 30. Oktober
2006, E. 6.2.2).

Eine erhebliche Tragweite der Sache ist zu bejahen, zumal der Anspruch auf
eine Invalidenrente - mithin eine finanzielle Leistung von in der Regel
grosser Bedeutung - streitig war (erwähntes Urteil I 911/06, E. 7.2 mit
Hinweisen).

6.2 In Würdigung der gesamten Aspekte des Falles ist es nicht zu beanstanden,
wenn sich die rechtsunkundige Versicherte im Einspracheverfahren
verbeiständen liess, um ihren Standpunkt zu bekräftigen, zumal sie
Analphabetin, weder der deutschen noch der französischen Sprache mächtig und
auch nicht auszuschliessen ist, dass sie wegen der psychischen Problematik
Mühe hatte, sich im Verfahren zurechtzufinden (vgl. auch erwähntes Urteil I
475/06, E. 7).

Nach dem Gesagten haben IV-Stelle und Vorinstanz Bundesrecht verletzt, wenn
sie eine anwaltliche Verbeiständung im Einspracheverfahren als nicht
erforderlich erachteten.

7.
7.1 Angesichts des Ausgangs des vorinstanzlichen Verfahrens in materieller
Hinsicht kann die Einsprache nicht als aussichtslos qualifiziert werden.

7.2 Die Bedürftigkeit der Versicherten wurde bisher weder von der IV-Stelle
noch von der Vorinstanz näher geprüft; diese Voraussetzung hat die IV-Stelle
zu klären und der Versicherten bejahendenfalls für das Einspracheverfahren
eine Parteientschädigung zuzusprechen     (E. 3 hievor; vgl. auch erwähntes
Urteil I 475/06, E. 8).

8.
Streitigkeiten betreffend die unentgeltliche Rechtspflege unterliegen
grundsätzlich nicht der Kostenpflicht, weshalb keine Gerichtskosten zu
erheben sind (nicht publ. E. 9 des Urteils BGE 131 V 153; SVR 2002 ALV Nr. 3
S. 5 E. 5, C 130/99). Der obsiegenden Versicherten steht zu Lasten der
IV-Stelle eine Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159
OG). Ihr Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung ist daher
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 22. Dezember 2006,
insoweit damit der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im
Einspracheverfahren verneint wurde, und der Einspracheentscheid vom 27. Juli
2006 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen
wird, damit sie im Sinne der Erwägung 7.2 verfahre.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Ausgleichskasse Berner Arbeitgeber
(AKBA), Bern, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 19. April 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: