Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 110/2007
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I 110/07

Urteil vom 25. Juni 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Schön, Bundesrichterin Leuzinger,
Gerichtsschreiber Flückiger.

W. ________, 1948, Beschwerdeführer,
vertreten durch Advokat Dr. Marco Biaggi, Aeschenvorstadt 71, 4051 Basel,

gegen

IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel, Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt
vom 13. Dezember 2006.

Sachverhalt:

A.
Der 1948 geborene, als selbstständiger Bodenleger tätig gewesene W.________
meldete sich am 22. November 2000 unter Hinweis auf starke Schmerzen am
linken Knie bei der Eidgenössischen Invalidenversicherung zum Leistungsbezug
an. Die IV-Stelle Basel-Stadt nahm Abklärungen vor und führte berufliche
Massnahmen durch, welche jedoch nicht zu einer erfolgreichen Eingliederung
führten. Mit Verfügung vom 4. Februar 2005 sprach die Verwaltung dem
Versicherten schliesslich für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 2001 und
erneut ab 1. Januar 2004 auf der Basis eines Invaliditätsgrades von 57 % eine
halbe Rente zu (der Unterbruch erklärt sich durch den zwischenzeitlichen
Bezug von Taggeldern während der Eingliederungsmassnahmen). Daran wurde mit
Einspracheentscheid vom 20. März 2006 festgehalten.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht
Basel-Stadt ab (Entscheid vom 13. Dezember 2006).

C.
W.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
es sei die Sache zur Neubeurteilung an die IV-Stelle zurückzuweisen. Ferner
wird um unentgeltliche Rechtspflege ersucht.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110)
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach dem Bundesgesetz vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der
Bundesrechtspflege (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Das
Bundesgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht
verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder
ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig
oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde
(Art. 132 Abs. 2 OG [in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom
16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG, in Kraft gewesen vom 1. Juli bis
31. Dezember 2006] in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105
Abs. 2 OG).

3.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die
Voraussetzungen und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis
IVG in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen, Art. 28 Abs. 1 IVG der
seit 1. Januar 2004 geltenden Fassung), die Bemessung des Invaliditätsgrades
bei erwerbstätigen Versicherten nach der Einkommensvergleichsmethode (bis
31. Dezember 2002: Art. 28 altAbs. 2 IVG; vom 1. Januar bis 31. Dezember
2003: Art. 1 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG; ab 1. Januar 2004:
Art. 28 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG; BGE 130 V 343 E. 3.4
S. 348, 128 V 29 E. 1 S. 30, 104 V 135 E. 2a und b S. 136), die Aufgabe des
Arztes oder der Ärztin im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 256
E. 4 S. 261) sowie den Beweiswert und die Würdigung medizinischer Berichte
und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352) zutreffend dargelegt. Darauf wird
verwiesen.

4.
Streitig und zu prüfen ist der Rentenanspruch für die Zeit ab 1. Januar 2001.
Für die Invaliditätsbemessung ist von den Verhältnissen im Zeitpunkt des
Rentenbeginns auszugehen, wobei Veränderungen, welche bis zum
Einspracheentscheid vom 20. März 2006 anspruchswirksam werden konnten, zu
berücksichtigen sind (BGE 131 V 407 E. 2.1.2.1 S. 412, 129 V 222 E. 4.1 und
4.2 S. 223 f. mit Hinweisen).

4.1 Gemäss den Feststellungen des kantonalen Gerichts verdrehte sich der
Beschwerdeführer Mitte Januar 2000 beim Heben einer schweren Last das linke
Knie. Dr. med. S.________, Chirurgie FMH, Leitender Arzt am Spital
X.________, nahm am 2. März 2000 eine Arthroskopie vor. Derselbe Arzt
diagnostizierte am 8./11. Dezember 2000 ein seit Januar 2000 bestehendes
präpatellares Schmerzsyndrom bei schwerem retropatellärem Knorpelschaden
links. Dieses Leiden verunmögliche dem Versicherten die Ausübung der
bisherigen Tätigkeit als Bodenleger. Eine alternative Tätigkeit ohne direktes
Knien sowie ohne Heben von Lasten aus den Knien erachtete Dr. med. S.________
dagegen als ganztags zumutbar. Dr. med. G.________, Psychiatrie und
Psychotherapie FMH, gelangte in seinen Gutachten vom 27. August 2003 und
28. Juni 2004 zum Ergebnis, auf Grund einer neurotischen
Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.8) sei der Versicherte in seiner
Arbeitsfähigkeit zu 50 % eingeschränkt. Gestützt auf diese Grundlagen
gelangte die Vorinstanz zum Ergebnis, der Beschwerdeführer sei in einer
leidensangepassten Tätigkeit zu 50 % arbeitsfähig. Diese Feststellung, welche
tatsächlicher Natur und deshalb für das Bundesgericht grundsätzlich
verbindlich ist (E. 2 hiervor; BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398), lässt sich mit
Blick auf die im letztinstanzlichen Verfahren geltende Überprüfungsbefugnis
bezogen auf den Rentenbeginn im Januar 2001 weder als offensichtlich
unrichtig noch als unvollständig bezeichnen. Ebenso wenig basiert sie auf
einer Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften. Die vorinstanzliche
Beweiswürdigung genügt - bezogen auf die Verhältnisse bei Rentenbeginn - auch
den rechtsprechungsgemässen Vorgaben (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352).

4.2 Der Beschwerdeführer lässt geltend machen, die vorhandenen, den
somatischen Aspekt betreffenden Arztberichte (neben demjenigen des Dr. med.
S.________ vom 8./11. Dezember 2000 liege noch ein solcher des Spitals
Y.________ vom 17. Januar 2001 vor) bildeten keine hinreichende Grundlage, um
die Entwicklung bis zum Einspracheentscheid vom 20. März 2006 zu beurteilen.
Er habe schon im Verwaltungsverfahren auf eine zwischenzeitlich eingetretene,
seit Herbst 2004 bestehende Verschlechterung hingewiesen.

4.2.1 Das kantonale Gericht hat dazu erwogen, die vorgebrachte
Verschlechterung des Gesundheitszustandes sei nicht substantiiert dargelegt.
Angesichts der vollständigen, schlüssigen und in ihren Begründungen
nachvollziehbaren Berichte des Dr. med. S.________ und des Dr. med.
G.________ bestehe keine Veranlassung, den Beschwerdeführer neuerlich
rheumatologisch abklären zu lassen. Die IV-Stelle führt in ihrer
Vernehmlassung aus, die geltend gemachte Verschlechterung sei medizinisch in
keiner Weise substantiiert. Weder in den Vorakten noch in der Beschwerde an
die Vorinstanz sei sie mit einem Arztbericht oder einer Stellungnahme
untermauert worden. Es müsse "demnach von einer rein taktischen Behauptung
ausgegangen werden".

4.2.2 Gemäss Art. 61 lit. c ATSG stellt das kantonale Versicherungsgericht
unter Mitwirkung der Parteien die für den Entscheid erheblichen Tatsachen
fest; es erhebt die notwendigen Beweise und ist in der Beweiswürdigung frei.
Der damit statuierte Untersuchungsgrundsatz zählt zu den in Art. 105 Abs. 2
OG erwähnten wesentlichen Verfahrensvorschriften (SZS 2001 S. 560 E. 2a
S. 562, B 61/00; Urteile 2A.271/2005 vom 12. August 2005, E. 2.3, und M. vom
25. Juli 2000, C 93/00, E. 2b/cc; nicht veröffentlichtes Urteil A. vom
18. Mai 1990, 2A.166/1989; vgl. auch RKUV 2003 Nr. U 495 S. 394 E. 5.3.2 und
5.3.3 S. 399 f., U 243/00). Er verpflichtet Verwaltung und kantonales Gericht
- unter Vorbehalt der Mitwirkungspflichten der Parteien - von sich aus für
die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts zu
sorgen (BGE 125 V 193 E. 2 S. 195, 122 V 157 E. 1a S. 158, je mit Hinweisen;
vgl. auch BGE 130 I 180 E. 3.2 S. 183). Insbesondere sind (weitere)
Massnahmen zur Klärung des rechtserheblichen Sachverhalts vorzunehmen oder zu
veranlassen, wenn dazu auf Grund der Parteivorbringen oder anderer sich aus
den Akten ergebender Anhaltspunkte hinreichender Anlass besteht (BGE 117 V
281 E. 4a S. 282; AHI 1994 S. 210 E. 4a S. 212; SVR 1999 IV Nr. 10 S. 27
E. 2c S. 28; Urteil K 11/06 vom 11. Juli 2006, E. 3.1, mit weiteren
Hinweisen). Im Geltungsbereich des Untersuchungsgrundsatzes dürfen Verwaltung
und Gericht rechtserhebliche Parteivorbringen nicht einfach mit der Bemerkung
abtun, sie seien nicht belegt worden (AHI 1994 S. 210 E. 4a S. 212 mit
Hinweis).

4.2.3 Der Versicherte machte in seiner Einsprache vom 21. Februar 2005 und
nochmals in deren ergänzender Begründung vom 6. Mai 2005 geltend, seine
körperliche Verfassung habe sich seit dem 31. Oktober 2004 merklich
verschlechtert. Er leide nunmehr zusätzlich an Schmerzattacken im Rücken,
welche sich in immer kürzeren Abständen wiederholten, und stehe aus diesem
Grund beim Hausarzt Dr. med. R.________ in Behandlung. Als Ursache vermute er
einen Skiunfall vom 1. April 2002. Am 27. Oktober 2005 informierte er die
IV-Stelle telefonisch darüber, dass es ihm gesundheitlich nicht besser gehe
und er deshalb am Folgetag in das Spital Z.________ eintreten werde.
Die IV-Stelle holte im Dezember 2005 eine Stellungnahme des Regionalen
ärztlichen Dienstes (RAD) ein, wobei in der Anfrage lediglich auf die
Argumentation in den Rechtsschriften, nicht aber auf den Spitalaufenthalt
hingewiesen wurde. Frau Dr. med. E.________ vom RAD erklärte, dem WWB-Bericht
von Juli 2002 (gemeint ist der Bericht von T._________,
Berufsberater/Psychologe, Spital Q.________, Eingliederung, vom 8. Juli 2002
an die IV-Stelle) könnten keinerlei Hinweise auf einen Skiunfall entnommen
werden und auch gegenüber dem Gutachter Dr. med. G.________ sei ein solcher
nicht erwähnt worden. Deshalb seien die entsprechenden Angaben ebenso wenig
glaubhaft wie eine dadurch verursachte Verschlechterung der somatischen
Situation ab Oktober 2004. Der Einspracheentscheid vom 20. März 2006
übernimmt diese Betrachtungsweise.
In der vorinstanzlichen Beschwerdeschrift vom 18. April 2006 wurde zusätzlich
vorgebracht, die Hospitalisation im Spital Z.________ habe rund zwei Wochen
gedauert. Es sei eine Coxarthrose rechts diagnostiziert worden und es hätten
sich Diskusprotrusionen im Lendenwirbelbereich gefunden. Die Ärzte hätten
eine orthopädische Beurteilung empfohlen.

4.2.4 Nach dem Gesagten machte der Versicherte bereits in der Einsprache
geltend, sein Gesundheitszustand habe sich in somatischer Hinsicht seit dem
mehr als vier Jahre zuvor verfassten Bericht des Dr. med. S.________
verschlechtert. Er leide nunmehr zusätzlich zu den Kniebeschwerden an
Schmerzattacken im Rücken. Im weiteren Verlauf wies er auf einen vor dem
Einspracheentscheid erfolgten und damit in den zu prüfenden Zeitraum
fallenden zweiwöchigen stationären Spitalaufenthalt hin. Diese Vorbringen
sind rechtserheblich, liefern sie doch Anhaltspunkte für einen zusätzlichen
Gesundheitsschaden, welcher allenfalls bereits vor dem Erlass des
Einspracheentscheids anspruchswirksam geworden sein könnte. Unter diesen
Umständen wären die IV-Stelle und das kantonale Gericht kraft des
Untersuchungsgrundsatzes gehalten gewesen, entsprechende Abklärungen zu
treffen und insbesondere Berichte des Hausarztes sowie des Spitals, in dem
sich der Beschwerdeführer gemäss seinen Aussagen aufgehalten hatte,
beizuziehen. Letzterer wurde seiner Mitwirkungspflicht gerecht, indem er die
Verwaltung über die neu aufgetretenen gesundheitlichen Probleme, die
entsprechende Behandlung und den Spitalaufenthalt informierte.

4.2.5 Der vorinstanzliche Entscheid enthält somit nicht für den gesamten
relevanten Zeitraum Feststellungen zur Arbeitsfähigkeit des
Beschwerdeführers, welchen mit Blick auf Art. 105 Abs. 2 OG Verbindlichkeit
beigemessen werden kann. Der Sachverhalt lässt sich diesbezüglich auch nicht
gestützt auf die Akten vervollständigen. Die Sache ist daher zur Ergänzung
der Abklärungen an die IV-Stelle zurückzuweisen.

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 Satz 2 OG in der vom 1. Juli bis
31. Dezember 2006 gültig gewesenen Fassung). Die Gerichtskosten sind der
IV-Stelle als unterliegender Partei aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 135 OG). Der Beschwerdeführer hat Anspruch auf eine
Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 135 OG; BGE
132 V 215 E. 6.1 S. 235).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts Basel-Stadt vom 13. Dezember 2006 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle Basel-Stadt vom 20. März 2006 werden
aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle Basel-Stadt zurückgewiesen, damit
sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den
Rentenanspruch neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer für das letztinstanzliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt wird über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt,
der Ausgleichskasse Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen
zugestellt.
Luzern, 25. Juni 2007

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: