Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 106/2007
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I 106/07

Urteil vom 24. Juli 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Kernen,
Gerichtsschreiber Fessler.

Z. ________, 1952, Beschwerdeführer,
vertreten durch den Rechtsdienst Integration
Handicap, Schützenweg 10, 3014 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern vom 21. Dezember 2006.

Sachverhalt:

A.
Der 1952 geborene Z.________ meldete sich im Dezember 2004 bei der
Invalidenversicherung und ersuchte um Berufsberatung und Arbeitsvermittlung.
Die IV-Stelle Bern liess den Versicherten u.a. in der Behindertenwerkstätte
A.________ (BEWA) beruflich abklären (Bericht vom 20. Dezember 2005). Ferner
holte sie bei den Psychiatrischen Diensten des Spitals Y.________ den Bericht
vom 17. August 1990 über die ambulanten Behandlungen von Z.________ seit 1984
ein. Gestützt auf die Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD)
vom 17. März 2006, wonach «kein IV-relevanter Gesundheitsschaden mit
Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit vorliegt», verneinte die IV-Stelle mit
Verfügung vom 24. März 2006 den Anspruch auf berufliche Massnahmen und eine
Rente. Nach Einholung einer weiteren Stellungnahme des RAD vom 3. Juli 2006
bestätigte die Verwaltung mit Einspracheentscheid vom 18. Juli 2006 die
Leistungsablehnung.

B.
Die Beschwerde des Z.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 21. Dezember 2006
ab.

C.
Z.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
Gerichtsentscheid und Einspracheentscheid seien aufzuheben und die Sache sei
zu ergänzender Abklärung und zu neuer Entscheidung über den Leistungsanspruch
zurückzuweisen.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Der angefochtene Entscheid ist am 21. Dezember 2006 ergangen. Das
Verfahren richtet sich somit nach dem Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege (OG). Das am 1. Januar 2007 in Kraft getretene
Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG [AS 2006 1205 ff.,
1243]) ist insoweit nicht anwendbar (Art. 132 Abs. 1 BGG).

1.2 Da die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach dem 1. Juli 2006 anhängig
gemacht worden ist, bestimmt sich die Kognition im Streit um eine Rente der
Invalidenversicherung nach Art. 132 OG, in der ab 1. Juli 2006 gültig
gewesenen Fassung (BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). Es ist daher nur zu prüfen,
ob der angefochtene Entscheid Bundesrecht verletzt, einschliesslich
Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens (Art. 104 lit. a OG), oder ob
das kantonale Gericht den Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig
oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt hat
(Art. 104 lit. b OG und Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde
ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit
Art. 1 Abs. 1 IVG). Die Invalidität kann Folge von Geburtsgebrechen,
Krankheit oder Unfall sein (Art. 4 Abs. 1 IVG). Krankheit ist jede
Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit, die
nicht Folge eines Unfalles ist und die eine medizinische Untersuchung oder
Behandlung erfordert oder eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (Art. 3 Abs.
1 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 IVG).

Ist ein Versicherter zu mindestens 40 Prozent invalid, so hat er Anspruch auf
eine Rente (Art. 28 Abs. 1 erster Satz IVG). Für die Bemessung der
Invalidität von erwerbstätigen Versicherten ist Artikel 16 ATSG anwendbar
(Art. 28 Abs. 2 erster Satz IVG). Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades
wird das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der
Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und
allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei
ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum
Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden
wäre (Art. 16 ATSG).

3.
Das kantonale Gericht hat festgestellt, auf Grund der beruflichen Abklärung
durch die BEWA wäre eine Eingliederung des Versicherten höchstens an einem
Nischenplatz möglich. Es sei nicht zu bestreiten, dass die so genannten
Nischenarbeitsplätze mehr und mehr verschwänden, so dass eine Eingliederung
in der freien Wirtschaft unrealistisch erscheine. Auf Grund der überzeugenden
Beurteilung des Regionalen Ärztlichen Dienstes sei indessen davon auszugehen,
dass kein invalidisierender Gesundheitsschaden bestehe. Der Versicherte sei
denn auch während rund dreissig Jahren als Hilfsarbeiter erwerbstätig
gewesen. Die namhaft eingeschränkten Chancen auf dem Arbeitsmarkt beruhten
auf invaliditätsfremden Umständen (unterdurchschnittliche Intelligenz,
gewisse Eigenheiten der Persönlichkeit, fortgeschrittenes Alter). Es fänden
sich in den Akten keine einlässlichen Diagnosen betreffend ein
(krankheitswertiges) Leiden nach ICD-10, so dass kein Anlass für eine
medizinische Abklärung der Arbeitsfähigkeit bestehe. Abgesehen davon hätten
die vom Beschwerdeführer bis zum Verlust der letzten Stelle als
Allrounder/Magaziner in der Firma S.________ AG Ende Januar 2003 erzielten
Einkommen jeweils um weniger als 40 % unter dem Durchschnittslohn für
Berufsleute gleicher Qualifikation und vergleichbarer Funktion gelegen.
Selbst wenn daher von einer gesundheitlich bedingten Einschränkung auszugehen
wäre, könnte keine rentenbegründende Einkommenseinbusse angenommen werden.

In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gerügt, das kantonale Gericht habe
den rechtserheblichen Sachverhalt unter Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes festgestellt. Die Vorinstanz habe ohne Durchführung
der gebotenen medizinischen Abklärungen einzig gestützt auf den Bericht des
RAD vom 8. (recte: 3.) Juli 2006 einen invalidisierenden Gesundheitsschaden
verneint. Es bestünden genügend Anhaltspunkte in den Akten, dass der
Beschwerdeführer unter erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen leide.
Insbesondere sei im Bericht der Psychiatrischen Dienste des Spitals
Y.________ vom 17. August 1990 eine infantile, retardierte Persönlichkeit mit
unterdurchschnittlicher Intelligenzstruktur festgehalten worden. Der
behandelnde Arzt habe diese Diagnosen in seinem Bericht vom 21. Dezember 2004
bestätigt. Ebenfalls sei im Abklärungsbericht der BEWA vom 20. Dezember 2005
mit aller Klarheit festgehalten worden, dass dem Beschwerdeführer wegen
seiner geistigen und psychischen Beeinträchtigungen nur noch eine
Beschäftigung in geschütztem Rahmen zuzumuten sei.

4.
4.1 Nach Art. 61 lit. c ATSG stellt das kantonale Versicherungsgericht unter
Mitwirkung der Parteien die für den Entscheid erheblichen Tatsachen fest
[Untersuchungsgrundsatz: BGE 125 V 193 E. 2 S. 195]; es erhebt die
notwendigen Beweise und ist in der Beweiswürdigung frei. Welche konkreten
Abklärungsmassnahmen in gesundheitlicher und beruflich-erwerblicher Hinsicht
für eine rechtsgenügliche Sachverhaltsermittlung geboten sind, lässt sich
angesichts der Besonderheiten jedes einzelnen Falles nicht allgemein sagen
(Urteil I 281/06 vom 24. Juli 2006 E. 3.2.1). Gelangt das Gericht zur
Überzeugung, die Akten erlaubten die richtige und vollständige Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts oder eine behauptete Tatsache sei für die
Entscheidung der Streitsache nicht von Bedeutung, kann es auf die Erhebung
weiterer Beweise verzichten. In dieser antizipierten Beweiswürdigung kann
keine Gehörsverletzung erblickt werden (BGE 124 V 90 E. 4b S. 94, 122 V 157
E. 1d S. 162; Urteil H 59/04 vom 14. Dezember 2004 E. 3.3).
4.2 Die vom kantonalen Gericht angeführten Gründe, weshalb von weiteren
Abklärungen insbesondere zum Gesundheitszustand abgesehen werden kann,
überzeugen nicht. Es trifft zu, dass in den Akten eine einlässliche Diagnose
nach ICD-10 fehlt. Ausser dem Bericht des Hausarztes vom 21. Dezember 2004
und den Stellungnahmen des RAD vom 17. März und 3. Juli 2006 umfassen die
medizinischen Unterlagen indessen einzig den rund sechzehn Jahre früher
verfassten Bericht der Psychiatrischen Dienste des Spitals Y.________ vom
17. August 1990. Dieses mit Zusammenfassung der Krankengeschichte
überschriebene Dokument erwähnte von den Strafbehörden u.a. wegen
exhibitionistischem Verhalten vor Kindern angeordnete ambulante Behandlungen
im Zeitraum 1984 bis 1988 und wiederum ab April 1990 für die Dauer von fünf
Jahren. Eine Diagnose fehlte. Zum Befund wurde u.a. festgehalten, in der
psychologischen Testung habe sich Z. als infantile, retardierte
Persönlichkeit mit unterdurchschnittlicher Intelligenz gezeigt. Ob der Grund
für das Fehlen einer Diagnose darin liegt, dass keine solche gestellt werden
konnte, wie die Vorinstanz implizit annimmt, ist fraglich, kann aber offen
bleiben. Tatsache bleibt, dass der Beschwerdeführer sich einer insgesamt neun
Jahre dauernden psychiatrischen Behandlung unterziehen musste. Dies stellt
ein gewichtiges Indiz für eine gesundheitliche Beeinträchtigung mit
Krankheitswert dar. Abgesehen davon genügt eine im Zeitpunkt des
Leistungsbegehrens fehlende Diagnose allein nicht, um von weiteren
Abklärungen abzusehen, jedenfalls wenn und solange eine Diagnose nach ICD-10
nicht ausdrücklich verneint wurde (Urteil I 281/06 vom 24. Juli 2006 E. 3.2).
In diesem Sinne müssen die im Bericht der BEWA vom 20. Dezember 2005
erwähnten Defizite (u.a. fehlendes Qualitätsbewusstsein, teilweise
auffälliges Sozialverhalten, eingeschränkte Auffassungsvermögen und kognitive
Fähigkeiten) für das Vorliegen eines IV-relevanten Gesundheitsschadens nicht
beweisend sein, um Anlass für Abklärungen zur Arbeitsfähigkeit zu sein, wie
der RAD in seiner Stellungnahme vom 3. Juli 2006 sinngemäss festhielt.

Im Weitern ist der Hinweis, der Beschwerdeführer sei während rund dreissig
Jahren als Hilfsarbeiter erwerbstätig gewesen, schon deshalb nicht
stichhaltig, weil auch nach Auffassung der Vorinstanz eine Eingliederung des
Beschwerdeführers in der freien Wirtschaft unrealistisch ist und lediglich
eine Beschäftigung im geschützten Rahmen in Betracht fällt. Abgesehen davon
wird dabei ausgeblendet, dass der Versicherte im Zeitraum September 1969 bis
März 1971 in den Werkstätten X.________ im Rahmen einer erstmaligen
beruflichen Ausbildung zu Lasten der Invalidenversicherung eine Anlehre in
Richtung qualifizierter Industrie-Hilfsmechaniker absolviert hatte. Es kommt
dazu, dass an den später innegehabten Stellen seine Leistung nicht durchwegs
positiv bewertet wurde. Im Zeugnis der Firma B.________ AG vom 30. Januar
1976 etwa wurde bestätigt, er habe alle ihm übertragenen Arbeiten
bereitwillig übernommen. Im Arbeitszeugnis der Firma E.________ vom 11. Juni
1981 stand, er habe sich bemüht, die ihm übertragenen Aufgaben zu unserer
Zufriedenheit auszuführen. In beiden Fällen und noch anderen fehlte der
Hinweis, dass der Beschwerdeführer die Firma auf eigenen Wunsch verliess, was
auf eine Kündigung durch den Arbeitgeber schliessen lässt.

Schliesslich handelt es sich bei der unterdurchschnittlichen Intelligenz
sowie den im Bericht des RAD vom 17. März 2006 so bezeichneten gewissen
Eigenheiten der Persönlichkeit des Versicherten nicht um invaliditätsfremde
Gründe im eigentlichen Sinne für die realistischerweise nicht (mehr) in Frage
kommende Eingliederung in der freien Marktwirtschaft. Sie können im
Unterschied etwa zum Alter und Geschlecht Zeichen (Symptom) eines geistigen
oder psychischen Gesundheitsschadens im Sinne von Art. 4 IVG sowie Art. 3, 6
und 7 ATSG sein. Weitere Umstände, welche die fehlende Einsetzbarkeit in der
freien Wirtschaft erklären könnten, sind keine ersichtlich. Insbesondere
fehlt es dem Beschwerdeführer nicht an Arbeitswillen. Das Alter fällt als
wesentliche Ursache ausser Betracht.

4.3 Unter diesen Umständen stellt sich gebieterisch die Frage nach einem
invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschaden und allenfalls
inwiefern dadurch Arbeits- und Erwerbsfähigkeit eingeschränkt werden. Die auf
antizipierender Beweiswürdigung beruhende gegenteilige Auffassung des
kantonalen Gerichts verletzt den Untersuchungsgrundsatz.
Die IV-Stelle wird Abklärungen insbesondere zum psychischen und geistigen
Gesundheitszustand des Beschwerdeführers vorzunehmen haben. Danach wird sie
über dessen Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung
(Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art, Rente) neu verfügen.

5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der IV-Stelle
aufzuerlegen (Art. 134 OG, in der ab 1. Juli 2006 gültig gewesenen Fassung).
Zudem hat die Verwaltung dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu
bezahlen (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG in Verbindung mit Art. 135 OG). Das Gesuch
um unentgeltliche Rechtspflege ist demzufolge gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 21. Dezember 2006 und der
Einspracheentscheid vom 18. Juli 2006 aufgehoben. Die Sache wird an die
IV-Stelle Bern zurückgewiesen, damit sie nach Abklärungen im Sinne der
Erwägungen über den Anspruch des Beschwerdeführers auf Leistungen der
Invalidenversicherung (Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art, Rente) neu
verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle Bern auferlegt.

3.
Die IV-Stelle Bern hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem
Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hat die Parteientschädigung für das
kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses
festzusetzen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 24. Juli 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: