Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen H 8/2007
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{T 7}
H 8/07

Urteil vom 23. April 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Maillard.

K. ________, 1941, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Evalotta Samuelsson, Seefeldstrasse 45, 8008
Zürich,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug,
Beschwerdegegnerin.

Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Graubünden vom 3. Oktober 2006.

Sachverhalt:

A.
Mit Urteil vom 27. April 2005 bestätigte das Eidgenössische
Versicherungsgericht (heute Bundesgericht), dass die bei der Firma V.________
AG tätigen sogenannten Enhancerinnen (Telefondienstanbieterinnen) eine
unselbstständige Erwerbstätigkeit im Sinne von Art. 5 Abs. 2 AHVG ausüben und
die Firma daher zu Recht mit drei Verfügungen vom 12. Dezember 2003 zur
Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen für in den Jahren 2000 bis 2002
an 84 Enhancerinnen ausgerichtete Entschädigungen verpflichtet wurde. Nachdem
die Firma am 27. Februar 2006 von Amtes wegen aufgelöst worden war,
verpflichtete die Ausgleichskasse des Kantons Zug K.________, die einzige
Verwaltungsrätin der Firma war, mit Verfügung vom 25. April 2006, bestätigt
durch Einspracheentscheid vom 2. Juni 2006, zur Bezahlung von Schadenersatz
für entgangene Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von Fr. 24'363.65.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden wies die hiegegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 3. Oktober 2006 ab.

C.
K.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, der
angefochtene Entscheid sei aufzuheben; eventualiter seien die geforderten
Beiträge angemessen herabzusetzen.

Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgericht, während
das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG [SR 173.110])
ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205 und 1243). Da der
angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch
nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

2.
Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur so weit eingetreten werden,
als Sozialversicherungsbeiträge kraft Bundesrechts streitig sind. Es ist
daher nicht zu prüfen, wie es sich bezüglich der Beitragsschuld gegenüber der
Ausgleichskasse für kantonale Familienzulagen verhält (BGE 124 V 145 E. 1 mit
Hinweis).

3.
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Bundesgericht prüft daher nur, ob
das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich
Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche
Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung
wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 in
Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

4.
Das kantonale Gericht hat die Voraussetzungen der Haftung nach Art. 52 AHVG
und die dazu ergangene einschlägige Rechtsprechung zutreffend dargelegt. Es
wird darauf verwiesen.

5.
Die Kritik der Beschwerdeführerin am Verfügungs- und Einspracheverfahren ist
unerheblich. Trotz der Untersuchungsmaxime muss sie aufgrund der
Mitwirkungspflicht (siehe dazu BGE 125 V 193 E. 2 S. 195) diejenigen Aspekte
vorbringen, die in ihrem Einflussbereich liegen, namentlich solche, die die
Nichtzahlung der Beiträge erklärbar und entschuldbar erscheinen lassen
könnten. Zudem ist letztinstanzlicher Anfechtungsgegenstand (siehe dazu BGE
130 V 501) nicht der Einspracheentscheid, sondern der Entscheid des
kantonalen Gerichts, welches mit freier Kognition prüfen und allfällige
Gehörsverletzungen heilen konnte (siehe dazu BGE 127 V 431 E. 3d/aa S. 438).

6.
Die Argumentation der Beschwerdeführerin, sie kenne sich im Geschäftsleben
nicht aus, ist unbehelflich. Wie das kantonale Gericht richtig erkannt hat,
muss bei  - wie hier - einfachen Verhältnissen von der einzigen
Verwaltungsrätin und faktischen Geschäftsführerin einer Aktiengesellschaft,
die als solche die Verwaltung der Gesellschaft als einzige Person in
Organstellung zu besorgen hat, der Überblick über alle wesentlichen Belange
der Firma verlangt werden, und dies selbst dann, wenn sie ihre Befugnisse
weitgehend an Dritte delegiert hat (BGE 108 V 199 E. 3b S. 203).

7.
Trotzdem stellt sich die Frage, worin das widerrechtliche und grobfahrlässige
Verhalten besteht.

7.1 Die Vorinstanz erblickt dies offenbar darin, dass die Beschwerdeführerin
über den sozialversicherungsrechtlichen Status der Arbeitnehmerinnen nicht
Bescheid gewusst habe. Dem kann in dieser Form nicht gefolgt werden. Die
Beschwerdeführerin hat ihre Abrechnungspflicht immerhin insoweit erfüllt, als
sie der Ausgleichskasse regelmässig die Jahresabrechnung geschickt hat mit
dem Vermerk, sie habe keine Löhne ausbezahlt. Sie war offensichtlich bis zur
Nachtragsverfügung der Ausgleichskasse vom 12. Dezember 2003 der Meinung, die
Enhancerinnen seien selbstständigerwerbend. Die Gerichte haben dann zwar
anders entschieden, aber es ist noch nicht grobfahrlässig, wenn eine
Rechtsauffassung vertreten wird, die in guten Treuen vertreten werden kann
(Urteil G. vom 2. Februar 2005, H 86/02, E. 5.5.1 mit Hinweisen). Dies ist
hier der Fall, denn es gab immerhin Argumente, mit denen der Status als
Selbstständige begründet werden konnte. Soweit der Beschwerdeführerin
vorgeworfen wird, sie hätte sich nach der rechtlichen Qualifikation
erkundigen sollen, ist zu beachten, dass sie immerhin eine Treuhandfirma als
Revisionsstelle beigezogen hat und dass nach der Rechtsprechung nicht
voraussetzungslos von der Ausgleichskasse eine Feststellungsverfügung über
den Beitragsstatus verlangt werden kann (BGE 132 V 257 E. 2, 129 V 289).
Anzufechten ist in der Regel erst die Beitragsverfügung. Es kann aber auch
nicht verlangt werden, dass jemand entgegen seiner eigenen Rechtsauffassung
Löhne deklariert und dann die Beitragsverfügung anficht. Die Ausgleichskasse
hat jahrelang auf die Jahresabrechnungen der Beschwerdeführerin nicht
reagiert. Erst auf den Revisionsbericht vom 28. November 2003 hin, der der
Ausgleichskasse empfahl, die Entgelte nachzuerfassen, weil es sich um
selbstständige Tätigkeit handle, hat sie die Nachtragsverfügung erlassen. Der
Beschwerdeführerin kann nach dem Gesagten nicht Grobfahrlässigkeit
vorgeworfen werden, wenn sie bis zum Eintreffen einer solchen
Beitragsverfügung so gehandelt hat, wie sie oder ihr Treuhänder die Sache
beurteilte.

7.2 Hingegen hätte die Beschwerdeführerin aufgrund der drei
Nachtragsverfügungen vom 12. Dezember 2003 Rückstellungen bilden müssen
(siehe Urteil C. vom 4. August 2005, H 29/05, E. 3). Die Unterlassung solcher
Rückstellungen ist ein grober Fehler. Dieser ist auch mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit kausal für den Schaden. Die Firma hat immerhin nach dieser
Verfügung noch rund 1 ? Jahre bestanden und hätte damit ausreichend Zeit
gehabt, Mittel für die Eventualverbindlichkeit bereitzustellen, auch wenn in
der Erfolgsrechnung per 31. Dezember 2003 ein Verlust ausgewiesen wird. Eine
dauernde Überschuldung ist nicht anzunehmen, hätte doch sonst die
Beschwerdeführerin als Verwaltungsrätin nach Art. 725/725a OR vorgehen
müssen, was sie offensichtlich nicht getan hat.

8.
Schliesslich ist auch das Argument des Mitverschuldens der Kasse
unerheblich. Zum Einen ist der vierjährige Revisionsrhythmus gemäss Art. 162
AHVV nur "in der Regel" vorgeschrieben. Zum Andern geht es ja nur um die
Beiträge für die Jahre 2000 bis 2002; im Jahre 2003 wurde eine Revision
durchgeführt; selbst wenn ein vierjähriger Rhythmus zwingend wäre, würde die
Kasse bezüglich der hier zur Diskussion stehenden Beiträge somit kein
Verschulden treffen.

9.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die unterliegende Beschwerdeführerin
kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario in Verbindung mit Art. 156 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt
und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons
Graubünden und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 23. April 2007
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: