Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen C 23/2007
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C 23/07

Urteil vom 2. Mai 2007

I. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Frésard,
Gerichtsschreiberin Polla.

Regionales Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) Oberuzwil, Wiesentalstrasse 22,
9242 Oberuzwil, Beschwerdeführer, vertreten durch das Amt für Arbeit des
Kantons St. Gallen, Unterstrasse 22, 9000 St. Gallen,

gegen

G.________, 1966, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Fürsprecher Marco
Büchel, Freudenbergstrasse 24, 9240 Uzwil.

Arbeitslosenversicherung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen
vom 11. Dezember 2006.

Sachverhalt:

A.
Die 1966 geborene G.________ beantragte ab 1. Juli 2005 Leistungen der
Arbeitslosenversicherung. Mit Verfügung vom 30. März 2006 stellte sie das
Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) Oberuzwil wegen unwahren Angaben
ab 1. März 2006 für die Dauer von 45 Tagen in der Anspruchsberechtigung ein.
Daran hielt es auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 13. April
2006).

B.
Die dagegen gerichtete Beschwerde mit dem sinngemässen Antrag, es sei von der
verfügten Sanktion abzusehen, hiess das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen unter Aufhebung des Einspracheentscheids vom 13. April 2006 insofern
teilweise gut, als es die Dauer der - als solche für richtig befundenen -
Einstellung in der Anspruchsberechtigung auf 16 Tage kürzte (Entscheid vom
11. Dezember 2006).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Amt für Arbeit (AWA) des
Kantons St. Gallen die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.

G. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
und ersucht im Weiteren um unentgeltliche Rechtspflege. Das Staatssekretariat
für Wirtschaft hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Der
angefochtene Entscheid ist indessen vorher ergangen, weshalb sich das
Verfahren noch nach dem Bundesgesetz über die Organisation der
Bundesrechtspflege vom 16. Dezember 1943 (OG) richtet (Art. 132 Abs. 1 BGG;
BGE 132 V 395 E. 1.2).

2.
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen zur Einstellung in
der Anspruchsberechtigung bei Verletzung der Meldepflicht (Art. 30 Abs. 1
lit. e AVIG) und zur verschuldensabhängigen Dauer der Einstellung (Art. 30
Abs. 3 AVIG in Verbindung mit Art. 45 Abs. 2 AVIV) richtig dargelegt. Darauf
wird verwiesen. Bei der Überprüfung der Angemessenheit (vgl. Art. 132 lit. a
OG) der verfügten Einstellungsdauer ist sodann der Grundsatz zu beachten,
dass das Sozialversicherungsgericht sein Ermessen nicht ohne triftigen Grund
an die Stelle desjenigen der Verwaltung setzen darf; das Gericht muss sich
auf Gegebenheiten stützen können, welche seine abweichende Ermessensausübung
als naheliegender erscheinen lassen. Vermag das kantonale Gericht einen
solchen triftigen Grund für den Eingriff in das Ermessen der Verwaltung
darzutun, namentlich indem einem im Verwaltungsverfahren noch unbeachteten
Umstand Rechnung getragen wird, weicht das Bundesgericht seinerseits nicht
ohne triftigen Grund in das der Vorinstanz zustehende Ermessen ein (BGE 126 V
353 E. 5d S. 362, 123 V 150 E. 2 S. 152; Urteil C 43/06 vom 19. April 2006,
E. 1.2).

3.
Es steht fest, dass die Beschwerdegegnerin in den Kontrollmonaten Dezember
2005 bis Februar 2006 auf den Formularen "Nachweis der persönlichen
Arbeitsbemühungen" in sieben Fällen ein falsches Bewerbungsdatum angab und
sich ausserdem bei zwei Arbeitgebern gar nicht schriftlich beworben hat,
obwohl sie dies auf den Nachweisformularen entsprechend deklarierte. Im
vorliegenden Verfahren wird zu Recht nicht mehr bestritten, dass damit der
Tatbestand der unwahren Angaben im Sinne von Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG
erfüllt und eine Einstellung in der Anspruchsberechtigung im Grundsatz
gerechtfertigt ist (vgl. Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, Rz 849 in:
Ulrich Meyer [Hrsg.], Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Band XIV:
Soziale Sicherheit, 2., aktualisierte und ergänzte Auflage, Basel 2007).
Streitig ist letztinstanzlich einzig die verschuldensabhängige Dauer der
Einstellung.

3.1 Nach Auffassung des kantonalen Gerichts trägt die vom RAV verfügte, im
mittleren Bereich des schweren Verschuldens angesiedelte Einstellungsdauer
von 45 Tagen den individuellen Umständen, namentlich der schwierigen
familiären Situation und des angeschlagenen Gesundheitszustandes der
Versicherten nicht hinreichend Rechnung. Aufgrund der zahlreich eingegangenen
Bewerbungen liesse sich ein echtes Bemühen um eine Arbeitsstelle erkennen und
die falschen Angaben seien nicht in Täuschungsabsicht erfolgt, sondern
Ausdruck einer Überforderung.

3.2 Das beschwerdeführende AWA hält letztinstanzlich daran fest, dass das
Verschulden der Versicherten als schwer einzustufen ist. Bei der
individuellen Verschuldensbeurteilung sei es in analoger Anwendung der
höchstrichterlichen Rechtsprechung in einem gleichgelagerten Fall (BGE 123 V
150) vom Mittelwert von 45 Tagen ausgegangen. Ebenso seien bei einem
gefälschten Kündigungsschreiben (Urteil C 152/03 vom 25. Juni 2004) und einem
verschwiegenen Zwischenverdienst (ARV 2006 S. 69, C 158/05) das Verschulden
als schwer gewertet und die versicherten Personen für die Dauer von je 45
Tagen in der Anspruchsberechtigung eingestellt worden. Die von der Vorinstanz
vorgenommene Kürzung der Einstellungsdauer auf 16 Tage, mithin vom unteren
Bereich des schweren zum unteren Bereich des mittleren Verschuldens, stelle
einen unverhältnismässigen Eingriff in das der Verwaltung zustehende Ermessen
dar.

3.3 Entgegen der Ansicht des AWA lässt sich der hier zu beurteilende Fall
nicht mit den in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zitierten Urteilen
vergleichen, denen ein anderer Sachverhalt zu Grunde lag. Im in ARV 2006 S.
69 publizierten Urteil hatte das Gericht einen willentlich über mehrere
Monate hinweg verschwiegenen Zwischenverdienst zu beurteilen und im Urteil C
152/03 vom 25. Juni 2004 ging es um ein gefälschtes Kündigungsschreiben des
Arbeitgebers zwecks Verhinderung einer Einstellung in der
Anspruchsberechtigung wegen selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit.
Demgegenüber lässt die gesamte Aktenlage vorliegend den Schluss nicht zu,
dass sich die Versicherte durch die unwahren Angaben irgend einen Vorteil
hätte verschaffen wollen, indem sie beispielsweise absichtlich mittels
fingierten Bewerbungen über eine ungenügende Anzahl Bewerbungen mangels
Arbeitswille hätte hinweg täuschen wollen, zumal sie in dem hier zu
beurteilenden Zeitraum eine Vielzahl korrekter Bewerbungen auswies. Vielmehr
ist mit der Vorinstanz von einer Überforderung beim Koordinieren der 49
Bewerbungen und Ausfüllen der entsprechenden Nachweisformulare aufgrund einer
schwierigen familiären und gesundheitlichen Situation auszugehen, wobei sich
in den Akten Hinweise auf eine somatische wie auch psychische Problematik
finden. Wie der Diakon der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Niederuzwil
in einem Schreiben vom 21. August 2006 glaubwürdig darlegte, entfalte die
Beschwerdegegnerin zuweilen eine hektische Betriebsamkeit, um die permanente
und intensive Belastung zu reduzieren, die offenbar zulasten von Faktoren wie
Genauigkeit und Effizienz ging und schlussendlich zu den falschen Angaben in
den Nachweisformularen führte, was bei der Verschuldensbeurteilung zu
berücksichtigen ist.
Ebenso wenig lässt sich aus der in BGE 123 V 150 ergangenen Rechtsprechung
schliessen, dass im Falle unwahrer Angaben beim Nachweis persönlicher
Arbeitsbemühungen grundsätzlich von einem schweren Verschulden auszugehen
ist. In Übereinstimmung mit der internen Verwaltungsweisung des seco
(Kreisschreiben über die Arbeitslosenentschädigung, Januar 2003, Sanktionen
[Teil D], Einstellraster) ist bei einer Verletzung der Auskunfts- und
Meldepflicht nach Art. 30 Abs. 1 lit. e AVIG eine einzelfallgerechte,
verschuldensabhängige Einstellungsdauer zu verfügen. Das AWA hat weder in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde noch in den übrigen Akten Bemessungskriterien
hinsichtlich des individuellen Verschuldensgrades der Versicherten genannt.
Wenn die Vorinstanz in Würdigung der konkreten Umstände
verschuldensbeeinflussende Merkmale wie die hohe Anzahl von Bewerbungen, eine
generelle Überforderung, die angeschlagene Gesundheit, die fehlende
Täuschungsabsicht und eine nicht erkennbare Motivation als schuldmildernd
wertete, lässt sich dies daher nicht beanstanden. Damit hat das Gericht zu
Recht in das Verwaltungsermessen eingegriffen, da es sich auf Gegebenheiten
abstützen konnte, die eine abweichende Ermessensausübung als näher liegend
erscheinen liessen.

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend
ist der anwaltlich vertretenen Beschwerdegegnerin eine Parteientschädigung
zuzusprechen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 OG). Das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege, einschliesslich der unentgeltlichen
Verbeiständung, ist damit gegenstandslos.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Das Amt für Arbeit des Kantons St. Gallen hat der Beschwerdegegnerin für das
Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.

Luzern, 2. Mai 2007
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: