Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 910/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_910/2007

Urteil vom 6. Juni 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Parteien
W.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Joseph Küng, Hirschmattstrasse 36, 6003
Luzern,

gegen

Ausgleichskasse Nidwalden, Stansstaderstrasse 54, 6370 Stans,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Nidwalden
vom 23. April 2007.

Sachverhalt:

A.
W.________ ist unbeschränkt haftender Gesellschafter/Teilhaber der seit dem 17.
Oktober 2002 tätigen Kommanditgesellschaft X.________ & Cie; diese bezweckt die
Produktion von und den Handel mit Weinen, Spirituosen und anderen
landwirtschaftlichen Produkten und Lebensmitteln, die Führung eines Restaurants
und Beherbergung von Gästen; die Durchführung von Seminarien sowie die
Organisation von Reisen und Vermietung von Fahrzeugen. Am 17. März 2003 reichte
er der Ausgleichskasse Nidwalden den "Fragebogen für Selbstständigerwerbende +
Personengesellschaften" ein, in dem er ein im Betrieb investiertes eigenes
Kapital von Fr. 40'000.- und ein mutmassliches Reineinkommen für die ersten 12
Monate von Fr. 0.- deklarierte. Die Ausgleichskasse erfasste ihn als
selbstständig Erwerbenden und erhob von ihm mit rechtskräftigen Verfügungen vom
2. Mai 2005, 25. Juli 2005 und 27. Dezember 2005 Beiträge (inkl.
Verwaltungskosten) für Selbstständigerwerbende von Fr. 401.70 für das Jahr 2002
und je Fr. 437.60 für die Jahre 2003 und 2004. Am 3. April 2006 stellte sie ihm
für die Jahre 2003 bis 2006 Beitragsverfügungen für Selbstständigerwerbende zu,
in denen sie ihn für die betreffenden Jahre als beitragsfrei bezeichnete, und
zusätzlich für die gleichen Jahre Beitragsverfügungen für Nichterwerbstätige,
mit denen sie jeweils einen auf Grund des Reinvermögens bemessenen jährlichen
Beitrag (inkl. Verwaltungskosten) von Fr. 10'403.- einforderte. Die von
W.________ erhobene Einsprache mit der Forderung, er sei nicht als
Nichterwerbstätiger, sondern als Selbstständigerwerbender zu erfassen, wies die
Ausgleichskasse mit Entscheid vom 28. Juli 2006 im Wesentlichen mit der
Begründung ab, der Versicherte sei nicht als nach der bundesrechtlichen
Definition dauernd voll erwerbstätige Person zu betrachten und erfülle das
Erfordernis nicht, dass die Beiträge aus Erwerbstätigkeit zumindest mehr als
die Hälfte des Nichterwerbstätigenbeitrages ausmachen, weshalb er
beitragsrechtlich als Nichterwerbstätiger zu behandeln sei.

B.
Die vom Versicherten gegen den Entscheid erhobene Beschwerde mit dem Antrag, er
sei für die Jahre 2003 bis 2006 als selbstständig Erwerbender zu qualifizieren
und habe deshalb (mangels Einkommen) lediglich den doppelten Mindestbeitrag zu
bezahlen, hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden teilweise gut; es
hob den Einspracheentscheid insoweit auf, als W.________ damit für die Jahre
2005 und 2006 als Nichterwerbstätiger qualifiziert wurde, und es stellte fest,
der Versicherte sei für die Jahre 2005 und 2006 als Selbstständigerwerbender zu
erfassen (Entscheid vom 23. April 2007).

C.
W.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt, der vorinstanzliche Entscheid sei insoweit aufzuheben, als die
vorinstanzlich gestellten Anträge nicht gutgeheissen worden seien; er sei auch
für die Jahre 2003 und 2004 als Selbstständigerwerbender zu qualifizieren und
habe mangels steuerbarem Einkommen für diese Jahre den doppelten Mindestbeitrag
von Fr. 850.- zu entrichten.
Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Vorinstanz und
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Feststellungen der Vorinstanz hinsichtlich Umfang und Dauer einer
Arbeitstätigkeit betreffen Tatfragen, soweit sie auf der Würdigung konkreter
Umstände beruhen. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Überdies muss die Behebung des Mangels für
den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG).

2.
Nichterwerbstätige bezahlen je nach ihren sozialen Verhältnissen einen Beitrag
von 324 (seit 1. Januar 2007: 370) bis 8400 Franken pro Jahr (Art. 10 Abs. 1
erster Satz AHVG). Die Beiträge der Nichterwerbstätigen, für die nicht der
jährliche Mindestbeitrag (Art. 10 Abs. 2 AHVG) vorgesehen ist, bemessen sich
auf Grund ihres Vermögens und Renteneinkommens (Art. 28 Abs. 1 erster Satz
AHVV). Personen, die nicht dauernd voll erwerbstätig sind, leisten die Beiträge
wie Nichterwerbstätige, wenn ihre Beiträge vom Erwerbseinkommen zusammen mit
denen ihres Arbeitgebers in einem Kalenderjahr nicht mindestens der Hälfte des
Beitrages nach Artikel 28 entsprechen (Art. 28bis Abs. 1 erster Satz AHVV).
Nach der Verwaltungspraxis gilt die Erwerbstätigkeit als nicht dauernd, die
während weniger als neun Monaten im Kalenderjahr ausgeübt wird. Als nicht voll
erwerbstätig gelten Versicherte, die nicht während mindestens der halben
üblichen Arbeitszeit tätig sind (Rz. 2035 und 2039 der Wegleitung über die
Beiträge der Selbstständigerwerbenden und Nichterwerbstätigen in der AHV, IV
und EO [WSN] in der seit 1. Januar 2004 geltenden Fassung). Nach der
Rechtsprechung fällt die in der AHVV nicht näher umschriebene Voraussetzung für
die Erhebung von Nichterwerbstätigenbeiträge der nicht dauernd voll
Erwerbstätigen im Sinne von Art. 10 Abs. 1 dritter Satz AHVG gemäss Rz. 2035
und 2039 WSN weder aus dem gesetzlichen Rahmen noch widerspricht sie dem
Normzweck (Urteil vom 6. Februar 2007 [H 29/06] E. 5.2).

3.
Wie Verwaltung und Vorinstanz zu Recht erwägen, genügt es für die Qualifikation
als selbstständig erwerbende Person für sich alleine noch nicht, dass der
Beitragspflichtige subjektiv eine Erwerbsabsicht für sich in Anspruch nimmt.
Die behauptete persönliche Absicht muss auf Grund konkreter wirtschaftlicher
Tatsachen, wie sie für selbstständige Erwerbstätigkeit kennzeichnend sind, auch
nachgewiesen sein (BGE 115 V 161 E. 9 S. 170 mit Hinweisen; ZAK 1987 S. 418
Erw. 3c). Der Beginn selbstständiger Erwerbstätigkeit ist unter Umständen nicht
leicht festzustellen. Immerhin kann gesagt werden, dass selbstständige
Erwerbstätigkeit jedenfalls dann vorliegt, wenn sie als solche im
Wirtschaftsverkehr wahrnehmbar wird. Unter diesem Blickwinkel ist es relevant,
ob ein Beitragspflichtiger im Hinblick auf die Erzielung von Erwerbseinkommen
Arbeit geleistet, ein eigenes Büro eröffnet, Personal angestellt und
Investitionen getätigt hat (BGE 115 V 161 E. 10 S. 172).

4.
Im Rahmen einer erstmaligen Beitragsveranlagung wäre die vorinstanzliche
Sachverhaltsfeststellung, der Beschwerdeführer sei in den Jahren 2003 und 2004
nicht mindestens halbzeitig beschäftigt gewesen, nicht offensichtlich
unrichtig. Hier geht es aber - was die Vorinstanz übersehen hat - um eine
Wiedererwägung, nachdem die Ausgleichskasse den Beschwerdeführer zunächst
rechtskräftig als Selbstständigerwerbenden veranlagt hatte. Es müsste darum
dargelegt werden, dass die ursprüngliche Veranlagung zweifellos unrichtig war
(Art. 53 Abs. 2 ATSG). Die Vorinstanz hat sich dazu nicht geäussert und damit
den Sachverhalt unvollständig festgestellt, sodass das Bundesgericht selber den
Sachverhalt frei feststellen kann (Art. 105 Abs. 2 BGG). Der sinngemäss geltend
gemachte Wiedererwägungsgrund liegt nicht in einer falschen Rechtsanwendung,
was in der Regel zur zweifellosen Unrichtigkeit führen würde, sondern im
Bereich von Sachverhaltsfragen, deren Beurteilung Ermessenszüge aufweist;
erscheint die Beurteilung solcher Aspekte als vertretbar, scheidet die Annahme
zweifelloser Unrichtigkeit aus (Urteil vom 10. Oktober 2007 [9C_575/2007] E.
2.2 mit Hinweisen). Mit den vorinstanzlich eingelegten Unterlagen und den dazu
gemachten Ausführungen hat der Versicherte plausibel dargelegt, dass er nicht
nur in den letzten zwei der vier von der Beitragskorrektur betroffenen Jahren
bedeutende Umtriebe im Hinblick auf den Beginn der Geschäftstätigkeit auf sich
genommen hat und er bereits 2003 und 2004 mehrheitlich für sein Weingut
arbeitete. Dass retrospektiv in diesen Jahren ein Verlust resultierte, kann
nicht ausschlaggebend sein (AHI 2003 S. 416 [Urteil vom 16. Juli 2003, H 2/02,
E. 5.3]). Auch die Steuerbehörden haben den Beschwerdeführer als
Selbstständigerwerbenden betrachtet. Die den ursprünglichen Verfügungen
zugrunde liegende Annahme einer vollen Erwerbstätigkeit im Sinne von Art. 28bis
AHVV ist insgesamt vertretbar, weshalb eine Wiedererwägung nicht zulässig ist
(vgl. auch Urteil vom 14. September 1999 [H 64/98] E. 5c). Es ist auch kein
Revisionsgrund (Art. 53 Abs. 1 ATSG) ersichtlich: Die Beschwerdegegnerin hat
die neue Verfügung erlassen, nachdem sie festgestellt hat, dass der
Beschwerdeführer über ein hohes Vermögen verfügt. Das ist aber einzig von
Bedeutung für die Höhe der nach Art. 28bis Abs. 1 in Verbindung mit Art. 28
AHVV bei nicht voller Erwerbstätigkeit geschuldeten Beiträge, betrifft jedoch
nicht die hier rechtserhebliche Tatfrage, ob im betreffenden Zeitraum eine
volle Erwerbstätigkeit vorlag. Nach dem Gesagten war die Beschwerdegegnerin
nicht befugt, mit Verfügungen vom 3. April 2006 eine neue beitragsrechtliche
Qualifikation vorzunehmen und höhere Beiträge nachzuverlangen. Die
nachträglichen Verfügungen vom 3. April 2006 sind zu Unrecht ergangen. Damit
richtet sich die Beitragshöhe für die Jahre 2003 und 2004 nach den
ursprünglichen Verfügungen vom 25. Juli 2005 bzw. 27. Dezember 2005. Dass der
Beschwerdeführer in der Beschwerde an das Bundesgericht den Antrag stellt, es
sei der doppelte Mindestbeitrag zu erheben, steht dieser Konsequenz trotz Art.
107 Abs. 1 BGG nicht entgegen.

5.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdegegnerin als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG), die zudem dem Beschwerdeführer eine
Parteientschädigung auszurichten hat (Art. 68 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Nidwalden vom 23. April 2007 wird aufgehoben, soweit darin die
Beschwerde abgewiesen wurde. Es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer
für die Jahre 2003 und 2004 Beiträge von je Fr. 437.60 (inkl.
Verwaltungskosten) schuldet.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 1800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 6. Juni 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz