Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 870/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_870/2007

Urteil vom 26. März 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
A.________, Beschwerdeführer,
handelnd durch seinen Vater M.________,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom
6. November 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 2002 geborene A.________ leidet an mehreren Geburtsgebrechen. Die IV-Stelle
Luzern sprach ihm deshalb medizinische Massnahmen und Hilfsmittel zu. Hingegen
lehnte sie nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom 10.
Juli 2007 ein von den behandelnden Neuropädiatern Dres. med. S.________ und
C.________ gestelltes Gesuch um Kostenübernahme für eine psychodiagnostische
Untersuchung zwecks Abklärung des Förderbedarfs (insbesondere im Hinblick auf
Kindergarten und Schule) ab. Zur Begründung führte sie an, die
Invalidenversicherung habe die psychodiagnostische Untersuchung nicht
angeordnet. Falls sie nachträglich unerlässlich für die Zusprechung von
allfälligen Leistungen sein sollte, könne erneut ein Gesuch an die
Invalidenversicherung gestellt werden.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, nach zweifachem Schriftenwechsel mit
Entscheid vom 6. November 2007 ab.

C.
Der Vater von A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten und beantragt Kostengutsprache für eine psychodiagnostische
Untersuchung.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Am 1. Januar 2008 sind das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2006 über die Schaffung
und die Änderung von Erlassen zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der
Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) sowie die entsprechende
Verordnung vom 7. November 2007 in Kraft getreten. Damit wurden auch im Bereich
der Invalidenversicherung zahlreiche Bestimmungen aufgehoben, u.a. jene über
Massnahmen für die besondere Schulung (Art. 19 IVG und Art. 8 ff. IVV). Nach
den allgemeinen übergangsrechtlichen Grundsätzen sind diese
materiell-rechtlichen Bestimmungen vorliegend jedoch noch anwendbar (vgl. BGE
130 V 445, 129 V 1 E. 1.2 S. 4; Urteil U 604/06 vom 16. Januar 2008 E. 1.2).

2.
Die Vorinstanz hat den Anspruch des Beschwerdeführers auf Übernahme der Kosten
der beantragten psychodiagnostischen Untersuchung mit der Begründung verneint,
es sei nicht gesagt worden, um welche Abklärungen es sich dabei handle. In der
Replik werde zudem darauf hingewiesen, dass der Knabe inzwischen den
Kindergarten besuche. Somit sei aber davon auszugehen, dass die beantragte
Untersuchung für den Besuch des Kindergartens nicht erforderlich gewesen sei.
Die geforderte Untersuchung sei denn bisher auch nicht durchgeführt worden. Es
müsse daher davon ausgegangen werden, dass zur Zeit keine
entwicklungspsychologische Abklärung notwendig sei. Sollten im Kindergarten
Probleme auftauchen, welche für die spätere Einschulung relevant sein könnten,
könne immer noch eine solche Untersuchung angeordnet werden. Ebenso könne eine
solche Untersuchung kurz vor der Einschulung zur Diskussion stehen, sofern der
Knabe einer Sonderschulung bedürfe. In diesem Sinne müsse sich eine
Abklärungsmassnahme als für die Entscheidfindung unerlässlich erweisen.
Vorliegend seien aber ohnehin noch keine Abklärungsmassnahmen vorgenommen
worden. Die IV-Stelle habe im jetzigen Zeitpunkt die beantragte Untersuchung
nicht zu übernehmen, weil nicht belegt sei, dass zur Zeit eine andere Schulung
oder irgendwelche Therapien erforderlich seien.

3.
Der Beschwerdeführer erblickt in der vorinstanzlichen Argumentation einen
Zirkelschluss und macht geltend, die zu treffenden Untersuchungen dienten ja
gerade der Abklärung, ob Massnahmen nötig seien.

3.1 Nach Art. 78 Abs. 3 IVV werden die Kosten von Abklärungsmassnahmen von der
Versicherung getragen, wenn die Massnahmen durch die IV-Stelle angeordnet
wurden oder, falls es an einer solchen Anordnung fehlt, soweit sie für die
Zusprechung von Leistungen unerlässlich waren oder Bestandteil nachträglich
zugesprochener Eingliederungsmassnahmen bilden.

In Bezug auf Massnahmen für die besondere Schulung (Art. 19 IVG und Art. 8 ff.
IVV) ist zu differenzieren: Die Abklärung der zweckmässigen Schulungsart hat
durch den Kanton, die Abklärung der Sonderschulbedürftigkeit als
invaliditätsmässige Leistungsvoraussetzung durch die Invalidenversicherung zu
erfolgen. Für die Vergütung von Abklärungskosten durch die
Invalidenversicherung ist entscheidend, dass die beantragte Untersuchung
wesentlich auch der Abklärung der Sonderschulbedürftigkeit dient und dass sie,
falls nicht von der IV-Stelle angeordnet, prognostisch gesehen zu einer
Leistungszusprechung zu führen vermag (Urteile I 288/98 vom 22. Juni 1999 E. 4b
und I 341/92 vom 9. Juni 1993 E. 3). Die blosse Möglichkeit einer späteren
Leistungszusprechung genügt allerdings nicht für eine Kostenübernahme.
Zusätzliche Voraussetzung ist, dass die Abklärungsmassnahme indiziert ist, weil
hinreichende Anhaltspunkte für eine Notwendigkeit von Massnahmen für die
besondere Schulung vorliegen, was etwa im Urteil I 288/98 vom 22. Juni 1999 der
Fall war, wo die Invalidenversicherung dem Versicherten bereits vorher
Sonderschulmassnahmen finanziert hatte.

3.2 In Bezug auf die Frage, ob eine invaliditätsbedingte
Sonderschulbedürftigkeit oder Notwendigkeit für andere, insbesondere
pädagogisch-therapeutische Massnahmen besteht oder ob hinreichende
Anhaltspunkte dafür vorliegen, hat die Vorinstanz lediglich festgehalten, es
sei nicht belegt, dass zur Zeit eine andere Schulung (als der Kindergarten)
oder irgendwelche Therapien erforderlich wären. Vorab ist festzustellen, dass
der tatsächliche Besuch des Kindergartens bzw. der Volksschule in einer
Regelklasse nicht ausschliesst, dass Sonderschulbedürftigkeit oder die
Notwendigkeit pädagogisch-therapeutischer Massnahmen vorliegen kann (vgl. Art.
19 Abs. 3 IVG, Art. 8 Abs. 2 und 3 IVV). Im Weiteren finden sich in den Akten
durchaus hinreichend konkrete Hinweise, dass Massnahmen für die besondere
Schulung (und damit entsprechende Abklärungsmassnahmen) erforderlich sein
könnten. So wurde jeweils in den von den Ärzten des Spitals X.________
erstellten Verlaufsberichten vom 22. April 2002, 27. Juni 2003, 14. August
2003, 26. November 2003 und 19. Mai 2005 die Möglichkeit von Auswirkungen des
Gesundheitszustandes auf den Schulbesuch erwähnt. Im Bericht vom 27. April 2004
hielten die behandelnden Neuropädiater sodann fest, eine heilpädagogische
Frühförderung sei "weiterhin nicht indiziert". Dass die gleichen Ärzte am 21.
Mai 2007 um Kostengutsprache für die fragliche Abklärungsmassnahme ersuchten,
ist als weiterer konkreter Hinweis auf die veränderte Situation und die
(mögliche) Notwendigkeit von Massnahmen für die besondere Schulung zu werten.
Schliesslich hatte im bereits erwähnten Urteil I 355/91 vom 24. März 1992 die
Schweizerische Epilepsie-Klinik, eine medizinische Institution, ein Gesuch für
eine psycho-pädagogische Abklärung gestellt, um den Entwicklungsstand oder eine
allfällige Teilleistungsschwäche rechtzeitig erfassen und behandeln zu können
und um zu vermeiden, dass verhaltens- und leistungsmässige Beeinträchtigungen
als Folge des Geburtsgebrechens übersehen und aggraviert würden (vgl. in diesem
Zusammenhang Art. 8 Abs. 1 IVG, wonach auch "von einer Invalidität (Art. 8
ATSG) unmittelbar bedrohte Versicherte" Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen
haben). Das Eidgenössische Versicherungsgericht ist ohne Weiteres von "nach der
Aktenlage in Betracht fallenden und daher von Amtes wegen abzuklärenden
Ansprüchen auf Beiträge an Sonderschulungsmassnahmen" ausgegangen. Vorliegend
besteht kein Anlass, anders zu entscheiden. Die Beschwerde ist begründet.

3.3 Der Klarheit halber ist festzuhalten, dass der Anspruch einzig für die hier
Gegenstand bildende, nach bisheriger Rechtslage zu beurteilende Abklärung gilt
(vgl. E. 1). Für einen allfälligen Anspruch auf Sonderschulung als solche wird
die ab 1. Januar 2008 geänderte Rechtslage zu beachten sein.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 6. November 2007
und die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 10. Juli 2007 werden aufgehoben. Es
wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer Anspruch auf Übernahme der Kosten
für die beantragte psychodiagnostische Untersuchung hat.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 26. März 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann