Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 854/2007
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9C_854/2007

Urteil vom 18. Januar 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Schmutz.

S. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Franz Fischer,
Seehofstrasse 9,
6004 Luzern,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom
30. Oktober 2007.

Sachverhalt:

A.
S. ________, geboren 1943, war wegen Coxarthrose links ab 10. November 2004
arbeitsunfähig. Für den 25. Februar 2005 war eine Hüftoperation geplant. Am
19. Januar 2005 erlitt er einen Unfall, bei welchem er sich eine
pertrochantäre Trümmerfraktur des linken Oberschenkels zuzog. Seither war
mehrfach eine Operation erforderlich und S.________ bezieht bei einer
Arbeitsunfähigkeit von 100 % Taggeld der SUVA.

Am 19. Oktober 2005 meldete sich S.________ bei der IV-Stelle Luzern zum
Leistungsbezug an. Mit Schreiben vom 10. November 2006, 5. Februar 2007 und
1. Mai 2007 ersuchte er, vertreten durch Rechtsanwalt Franz Fischer, Luzern,
um Erlass des Rentenbeschlusses. Die IV-Stelle führte am 3. Mai 2007
gegenüber dem Rechtsvertreter insbesondere aus, dass der medizinische
Sachverhalt noch nicht geklärt sei und deshalb zugewartet werde.

Mit Schreiben vom 26. Juli 2007 teilte Rechtsanwalt Franz Fischer der
IV-Stelle mit, dass sich S.________ Anfang August 2007 einem weiteren
Eingriff (Revision der Pseudoarthrose an der Trochanterspitze links)
unterziehen müsse. Es sei somit mit einer noch länger andauernden
Arbeitsunfähigkeit zu rechnen. Es könne unter diesen Umständen ein weiteres
Zuwarten der IV-Stelle nicht akzeptiert werden; es werde
Rechtsverzögerungsbeschwerde eingereicht, falls die Verfügung nicht bis 15.
August 2007 vorliege. Mit Schreiben vom 10. August 2007 antwortete die
IV-Stelle, dass sich der medizinische Sachverhalt noch nicht geklärt habe und
sie deshalb nicht entscheiden könne.

B.
S.________ liess am 12. September 2007 beim Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern Rechtsverzögerungsbeschwerde erheben und beantragen, die IV-Stelle sei
zu verurteilen, innert spätestens 30 Tagen über das Leistungsbegehren vom 19.
Oktober 2005 zu entscheiden. Mit Entscheid vom 30. Oktober 2007 wies das
Verwaltungsgericht die Rechtsverzögerungsbeschwerde ab mit der Begründung, da
die medizinische Behandlung im Zeitpunkt der Erhebung der Beschwerde noch
nicht beendet und der Gesundheitszustand noch nicht stabil gewesen sei, habe
noch keine Rentenverfügung erlassen werden können.

C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt S.________
Aufhebung des kantonalen Entscheides und Feststellung der Rechtsverweigerung
der IV-Stelle Luzern beantragen; diese sei anzuweisen, umgehend über das
Leistungsbegehren vom 19. Oktober 2005 zu entscheiden.

Vorinstanz und IV-Stelle schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Gemäss Art. 56 Abs. 2 ATSG kann auch dann Beschwerde erhoben werden, wenn der
Versicherungsträger entgegen dem Begehren der betroffenen Person keine
Verfügung oder keinen Einspracheentscheid erlässt. Gegenstand einer solchen
Rechtsverweigerungs- oder Rechtsverzögerungsbeschwerde bilden - wie bereits
vor Inkrafttreten des ATSG (RKUV 2000 KV Nr. 131 S. 243 E. 2d, K 25/00) -
nicht die materiellen Rechte und Pflichten, sondern einzig die Frage der
Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung (SVR 2005 IV Nr. 26 S. 101,
I 328/03; vgl. auch Kieser, ATSG-Kommentar, Rz. 12 zu Art. 56).

2.
Das kantonale Gericht begründete seinen Entscheid im Wesentlichen damit, die
Prüfung des Leistungsanspruches erfordere grundsätzlich die Berechnung des
Invaliditätsgrades der versicherten Person. Diese setze voraus, dass das
Invalideneinkommen beziffert werden könne und somit die medizinische
Behandlung durchgeführt und abgeschlossen worden sei. Im Falle des
Beschwerdeführers sei die medizinische Behandlung im Zeitpunkt der Erhebung
der Rechtsverzögerungsbeschwerde noch nicht beendet und der
Gesundheitszustand noch nicht stabil gewesen. In diesem Verfahrensstadium
habe eine allenfalls bestehende Erwerbsfähigkeit in anderen Tätigkeiten als
der angestammten noch nicht geprüft und somit auch noch keine Rentenverfügung
erlassen werden können. Selbst nach Ablauf der einjährigen Wartezeit für den
Rentenanspruch könne für die Zukunft keine befristete Rente zugesprochen
werden. Es könne der IV-Stelle unter diesen Umständen nicht vorgeworfen
werden, sie habe das Verfahren unnötig verzögert.

3.
Der Beschwerdeführer hält im Wesentlichen dagegen, gemäss Art. 29 Abs. 1 lit.
b IVG entstehe der Rentenanspruch in dem Zeitpunkt, in dem der Versicherte
während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich zu 40 %
arbeitsunfähig gewesen ist. Dies sei in seinem Falle seit November 2005
erfüllt. Die SUVA habe die 100-prozentige Arbeitsunfähigkeit durch
Ausrichtung eines vollen Taggeldes, welche auch im Zeitpunkt der Einreichung
der letztinstanzlichen Beschwerde noch andauere, anerkannt. Damit erfülle er
offensichtlich die gesetzlichen Voraussetzungen für den Bezug einer
Invalidenrente. Es gehe nicht an, einem seit Jahren vollständig
arbeitsunfähigen Versicherten nur deswegen keine Rente zuzusprechen, weil die
Heilbehandlung noch andauere und ungewiss sei, ob und in welchem Ausmass es
in einem späteren Zeitpunkt allenfalls zu einer Heilung kommen werde.

4.
Nach der Rechtsprechung kann der Rentenanspruch gegebenenfalls vor Abschluss
der medizinischen Behandlung entstehen (BGE 127 V 294 E. 4b/bb, cc S. 296
ff.). Ändert sich der Invaliditätsgrad in der Folge erheblich, so wird die
Invalidenrente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft
entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs. 1 ATSG). Dies
kann nicht nur bei einer Änderung des Gesundheitszustandes, sondern auch bei
einer Veränderung der erwerblichen Komponente erfolgen (zur Rentenrevision
vgl. auch die Präzisierung der Rechtsprechung in BGE 133 V 545 E. 7). Im
Lichte dieser Rechtslage hat die IV-Stelle dem Beschwerdeführer zu Unrecht
den Erlass einer Verfügung über den Rentenanspruch verweigert, zumal auch
keine Eingliederungsmassnahmen getroffen worden sind, von deren Ausgang ein
Rentenanspruch allenfalls beeinflusst werden könnte.

5.
Die Beschwerde ist offensichtlich begründet und im vereinfachten Verfahren
(Art. 109 Abs. 2 lit. b und Abs. 3 BGG) zu erledigen.

6.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdegegnerin als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts
des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom
30. Oktober 2007 aufgehoben; die Sache wird an die Beschwerdegegnerin
zurückgewiesen, damit sie über das Gesuch vom 19. Oktober 2005 unverzüglich
materiell entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen
Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, zurückgewiesen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. Januar 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz