Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 815/2007
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9C_815/2007

Urteil vom 20. Februar 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

M.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Fürsprecher Andreas Bandi, Marktgasse 46, 4900 Langenthal,

gegen

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung,
Speichergasse 12, 3011 Bern, Beschwerdegegner.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen die Verfügung des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 15. Oktober 2007.

Sachverhalt:

A.
Nachdem ein erstes Gesuch abgelehnt und auf ein zweites Gesuch nicht
eingetreten worden war, meldete sich die 1951 geborene M.________ im April
2005 erneut bei der Invalidenversicherung zum Bezug einer Rente an. Nach
Abklärungen und nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens lehnte die
IV-Stelle Bern mit Verfügung vom 5. Februar 2007 das Leistungsbegehren ab.

B.
M.________ liess beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern Beschwerde
einreichen und zur Hauptsache die Zusprechung mindestens einer halben
Invalidenrente beantragen. Mit Verfügung vom 15. Oktober 2007 wies die
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung des Gerichts ihr Gesuch um
unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung ab und verpflichtete sie zur
Bezahlung eines Kostenvorschusses von Fr. 700.- bis 16. November 2007.

C.
M.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
gleichzeitig in derselben Eingabe Verfassungsbeschwerde erheben mit dem
Rechtsbegehren, die Verfügung vom 15. Oktober 2007 sei aufzuheben und ihr das
Recht zur unentgeltlichen Prozessführung, unter Beiordnung eines amtlichen
Anwaltes, für das vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern hängige
Verfahren um eine Invalidenrente zu gewähren; eventualiter sei die Sache zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen, unter Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege.
Das kantonale Verwaltungsgericht verzichtet auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid verneint den Anspruch der Beschwerdeführerin auf
unentgeltliche Rechtspflege für das vorinstanzlich hängige Verfahren
betreffend eine Rente der Invalidenversicherung und verpflichtet sie
gleichzeitig zur Leistung eines Kostenvorschusses. Dabei handelt es sich um
einen Zwischenentscheid nach Art. 93 Abs. 1 BGG, der einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil im Sinne von lit. a dieser Bestimmung bewirken kann
(BGE 128 V 199 E. 2b S. 202 mit Hinweisen; Urteil 2D_1/2007 vom 2. April 2007
E. 3.2). Da auch die übrigen formellen Gültigkeitserfordernisse gegeben sind,
ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zulässig und
darauf einzutreten. Damit kommt der gleichzeitig in der selben Rechtsschrift
eingereichten (subsidiären) Verfassungsbeschwerde keine selbständige
Bedeutung zu. Die Verletzung verfassungsmässiger Rechte kann auch mit der
ordentlichen Beschwerde gerügt werden (Art. 113, 116 und 117 BGG in
Verbindung mit Art. 95 lit. a BGG).

2.
Die Vorinstanz hat den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege für das bei
ihr hängige Verfahren mangels Prozessarmut im Sinne der einschlägigen
kantonalen Vorschriften verneint (vgl. Art. 77 Abs. 1 ZPO und Art. 111 Abs. 1
VRPG sowie dazugehöriges Kreisschreiben des Appellationshofs des Kantons Bern
und des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern; Art. 61 lit. f ATSG und BGE 125
V 201 E. 4a S. 202). Sie ermittelte bei einem Einkommen des Ehemannes von
Fr. 5157.40 (Rente der Invalidenversicherung und Invalidenleistungen der
beruflichen Vorsorge) und Ausgaben von Fr. 4875.- einen Überschuss von
Fr. 282.40 im Monat. Damit könnten die Kosten dieses Prozesses innert zweier
Jahre getilgt werden.

3.
In der Beschwerde wird in verschiedener Hinsicht eine Verletzung von Art. 29
Abs. 3 BV sowie von Art. 77 Abs. 1 ZPO und Art. 111 Abs. 1 VRPG gerügt.
Art. 29 Abs. 3 BV garantiert einen verfassungsrechtlichen Mindestanspruch der
bedürftigen Partei auf unentgeltliche Rechtspflege. Dieser Anspruch umfasst
einerseits die Befreiung von den Verfahrenskosten, anderseits - soweit
notwendig - das Recht auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand (BGE 122 I 322
E. 2b S. 324 mit Hinweisen; Urteil 5P.432/2006 vom 14. Mai 2007 E. 5.1).
3.1
3.1.1 Es wird geltend gemacht, die Beschwerdeführerin erziele kein eigenes
Einkommen. Sie und ihr Ehegatte verfügten auch über kein Vermögen. Durch die
Anrechnung des gesamten Renteneinkommens des Ehemannes werde vorausgesetzt,
dass dieser sich zur Finanzierung des Verfahrens auf sein Existenzminimum
setzen lassen müsse. Damit gehe die Vorinstanz zu Unrecht davon aus, der
Ehemann müsse sich mit dem zivilprozessualen Zwangsbedarf zufrieden geben.
Diese Argumentation verkennt, dass nach ständiger Praxis die
familienrechtlichen Beistands- und Unterstützungspflichten der
unentgeltlichen Rechtspflege vorgehen und bei einem Ehepaar der Zwangsbedarf
gemeinsam berücksichtigt wird (BGE 119 Ia 11 E. 3a S. 12; Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts U 289/05 vom 20. März 2006 E. 3.2 [in BGE 132 V 241
nicht publiziert]). Der von der Vorinstanz in Anschlag gebrachte prozessuale
Zuschlag von 30 % zum betreibungsrechtlichen Grundbedarf wird im Übrigen - zu
Recht - nicht beanstandet.

3.1.2 Sodann wird vorgebracht, vier Monate nach Gesuchseinreichung am 3. Juli
2007 sei im Rahmen der Betreibung für ausstehende Steuerforderungen die
Pfändung der Invalidenleistungen der beruflichen Vorsorge in der Höhe von
monatlich Fr. 1800.- verfügt worden. Dabei handelt es sich um eine neue
Tatsache, welche nach dem einschlägigen kantonalen Verfahrensrecht aber vor
Erlass der angefochtenen Verfügung hätte geltend gemacht werden können.
Gemäss Art. 25 VRPG dürfen die Parteien solange neue Tatsachen und
Beweismittel in das Verfahren einbringen, als weder verfügt noch entschieden
noch mit prozessleitender Verfügung das Beweisverfahren förmlich geschlossen
worden ist. Die Vorinstanz hat mit Verfügung vom 29. März 2007 zwar den
Schriftenwechsel, nicht aber das Beweisverfahren geschlossen. Die Pfändung
eines Teils der Invalidenleistungen der beruflichen Vorsorge stellt somit ein
unzulässiges Novum dar (Art. 99 BGG; Urteil 9C_167/2007 vom 21. Juni 2007
E. 3.3) und hat daher unbeachtet zu bleiben.

3.2
3.2.1 Im Weitern wird die Nichtberücksichtigung von Zins und Amortisation
eines Privatkredites beider Ehegatten gerügt. Dies entspricht indessen
ständiger Rechtsprechung. Danach ist die Tilgung gewöhnlicher Schulden bei
der Berechnung des Zwangsbedarfs grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Die
unentgeltliche Prozessführung darf nicht dazu dienen, auf Kosten des
Gemeinwesens Gläubiger zu befriedigen, die nicht oder nicht mehr zum
Lebensunterhalt beitragen (Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts U 234/01
vom 14. Februar 2002 E. 4b/aa und des Bundesgerichts 2P.90/1997 vom
7. November 1997 E. 3d; vgl. auch Seiler/von Werdt/Güngerich, Kommentar zum
Bundesgerichtsgesetz [BGG], N 18 zu Art. 64 und dortige Hinweise). Dies gilt
entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin auch, wenn die Schuld bereits
bei Einleitung des Verfahrens bestand.

3.2.2 Nicht zu beanstanden ist die Nichtberücksichtigung der Telefon-, TV-
und Radioanschlussgebühren durch die Vorinstanz. Diese in der Beschwerde als
«unumgänglich» bezeichneten Ausgaben sind im erweiterten Grundbedarf
mitenthalten. Ob dies auch für die Prämien für eine
Privathaftpflichtversicherung gilt, ist insofern fraglich, als gemäss
SVR 2007 AHV Nr. 7 S. 19 E. 4.2.1 (H 27/05) Prämien für eine
Krankentaggeldversicherung anrechenbar sind. Dieser Punkt kann indessen offen
bleiben. Schliesslich wird nicht begründet, inwiefern die Berücksichtigung
von Krankheitskosten lediglich im Rahmen der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung (in der Höhe von Selbstbehalt und Franchise)
Bundesrecht verletzt. Die diesbezügliche Rüge ist somit grundsätzlich
unzulässig.
Selbst wenn jedoch vorliegend die Prämien für die beiden
Privathaftpflichtversicherungen von insgesamt Fr. 37.- im Monat und die nicht
von der Krankenkasse übernommenen Arztrechnungen von monatlich Fr. 300.-
gemäss aufgelegter Abzahlungsvereinbarung ausgabenseitig berücksichtigt
würden, ergäbe sich daraus nichts zu Gunsten der Beschwerdeführerin. Die
Vorinstanz hat für die ratenweise Bezahlung der laufenden Steuerschulden
Fr. 843.- veranschlagt. Tatsächlich bezahlen aber die Ehegatten lediglich
Fr. 500.- an ihre Steuerausstände.

3.3 Schliesslich wird argumentiert, die vorinstanzliche Auffassung, dass bei
einem monatlichen Einnahmenüberschuss von Fr. 282.40 die Kosten des
Verfahrens innert einer Frist von zwei Jahren getilgt werden könnten, zwinge
die Beschwerdeführerin zur Prozessaufgabe. Sie sei nicht einmal in der Lage,
den Gerichtskostenvorschuss von Fr. 700.- fristgerecht zu leisten, geschweige
denn allfällige Anwaltskostenvorschüsse zu bezahlen, welche den gebotenen
Zeitaufwand deckten. Es bestehe weder dem Gericht noch dem Anwalt gegenüber
ein Rechtsanspruch auf Ratenzahlung.
Nach der Rechtsprechung ist Prozessarmut resp. Bedürftigkeit nicht erst dann
zu verneinen, wenn aktuell genügend Mittel zur Verfügung stehen, sondern
bereits dann, wenn der Einnahmenüberschuss erlaubt, innert absehbarer Zeit
die mutmasslich anfallenden Kosten zu decken. Dabei ist gegebenenfalls die
ratenweise Bezahlung des Kostenvorschusses zu bewilligen (BGE 85 I 1 E. 3
S. 6; Pra 2006 Nr. 143 S. 987 E. 1.2 [5P.441/2005]). Die Beschwerdeführerin
macht nicht geltend, bei einem über den erweiterten Grundbedarf
hinausgehenden Einnahmenüberschuss von Fr. 282.40 sei es ihr nicht möglich,
innerhalb von zwei Jahren die zu erwartenden Gerichts- und Anwaltskosten zu
bezahlen (BGE 118 Ia 369 E. 4a S. 370 f.). Ebenfalls wird zu Recht nicht
gerügt, diese Zeitspanne sei zu lang. Bereits mit fünfzehn monatlichen
Ratenzahlungen zu Fr. 250.- könnten Anwaltskosten von mehr als Fr. 3000.-
bezahlt werden. Dass höhere Kosten anfallen würden, wird nicht geltend
gemacht. Fünfzehn Monate sind absehbar (vgl. Pra 2006 Nr. 143 S. 987 E. 1.2
[5P.441/2005]).
Die Beschwerde, soweit zulässig, ist somit unbegründet.

4.
Die Beschwerdeführerin hat um unentgeltliche Rechtspflege für das
bundesgerichtliche Verfahren ersucht. Diesem Begehren kann entsprochen
werden, da die Voraussetzungen hiefür gegeben sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG;
BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Insbesondere ist die Bedürftigkeit zu bejahen.
Die Pfändung von Invalidenleistungen der beruflichen Vorsorge des Ehemannes
der Beschwerdeführerin in der Höhe von Fr. 1800.- seit Juli 2007 ist für
dieses Verfahren zu berücksichtigen, was zu einem Ausgabenüberschuss führt.
Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen. Danach hat
die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später
dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt,
indes einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Fürsprecher Andreas Bandi, Langenthal, wird als unentgeltlicher Anwalt der
Beschwerdeführerin bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2000.-
ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle Bern und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 20. Februar 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler