Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 813/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_813/2007

Urteil vom 9. Juni 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Maillard.

Parteien
G.________, Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 16.
Oktober 2007.

Sachverhalt:

A.
Die IV-Stelle Bern sprach dem 1966 geborenen G.________ mit Verfügung vom 4.
August 2005 ab 1. November 2004 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zu.
Mit Entscheid vom 3. April 2006 hiess die IV-Stelle eine Einsprache teilweise
gut und erhöhte die monatliche Rente um Fr. 28.-. Im Übrigen wies sie die
Einsprache ab, insbesondere auch hinsichtlich des beantragten Rentenbeginns ab
September 1999.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die hiegegen erhobene Beschwerde
mit Entscheid vom 16. Oktober 2007 ab, soweit darauf einzutreten war, und
setzte den Rentenbeginn auf 1. November 2005 fest.

C.
G.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde (recte: Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) mit dem Antrag, der Anspruchsbeginn der
Rente sei auf September 1999, eventualiter sogar August 1993, festzulegen.
Weiter seien ihm Verzugs- und Vergütungszinsen sowie eine
Parteikostenentschädigung zuzusprechen.

Erwägungen:

1.
1.1 Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni
2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit ist unter
anderem auch die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach Art. 128 ff. OG durch die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) abgelöst
worden. Die vom Versicherten - trotz zutreffender Rechtsmittelbelehrung durch
die Vorinstanz - fälschlicherweise noch als Verwaltungsgerichtsbeschwerde
bezeichnete Eingabe vom 17. November 2007 kann indessen als Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten entgegengenommen werden, schadet doch
die falsche Bezeichnung des Rechtsmittels nicht.

1.2 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann nach Art.
95 lit. a BGG die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz
von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG).

2.
Dass der Beschwerdeführer spätestens ab 1. November 2005 Anspruch auf eine
ganze Invalidenrente der Invalidenversicherung hat, ist unbestritten. Streitig
ist einzig, ob bereits früher ein Rentenanspruch entstanden ist. Das kantonale
Gericht hat die zur Beurteilung dieses Anspruchs einschlägigen Rechtsgrundlagen
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Die Vorinstanz hat gestützt auf den Bericht des Dr. med. H.________,
Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 22. Januar 2005, bei dem
der Beschwerdeführer wegen der diagnostizierten querulatorisch-paranoiden
Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.0) seit 26. November 2004 in Behandlung
steht, festgestellt, dass er erst ab diesem Datum vollständig arbeitsunfähig
ist. Diese Feststellung ist tatsächlicher Natur und für das Bundesgericht
grundsätzlich verbindlich (E. 1.2; vgl. BGE 132 V 393). Inwiefern sie
offensichtlich unrichtig oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel
95 BGG beruhen soll, legt der Beschwerdeführer jedenfalls nicht dar und geht
auch sonst nicht aus den Akten hervor.

3.2 Das Bundesgericht bleibt nach dem Gesagten an die Feststellung des
kantonalen Gerichts gebunden, der Beschwerdeführer sei erst ab 26. November
2004 voll arbeitsunfähig gewesen. Dies schliesst indessen nicht aus, dass ein
Rentenanspruch bereits früher entstanden ist, ist dies doch nach Art. 29 Abs. 1
IVG in der bis 31. Dezember 2007 gültig gewesenen Fassung frühestens in dem
Zeitpunkt der Fall, in dem der Versicherte mindestens zu 40 Prozent bleibend
erwerbsunfähig (Art. 7 ATSG) geworden ist (lit. a) oder während eines Jahres
ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens zu 40 Prozent
arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG) gewesen war (lit. b). Bei der Berechnung der
durchschnittlichen Arbeitsunfähigkeit nach Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG wird nach
der Rechtsprechung eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit im Umfang ab 20 %
als erheblich angesehen (AHI 1998 S. 124 E. 3c).

3.3 Die im Zusammenhang mit der Frage der Eröffnung der Wartezeit getroffene
Feststellung des kantonalen Gerichts, vor November 2004 sei keine
Arbeitsunfähigkeit von mindestens 20 % ausgewiesen, ist offensichtlich
unrichtig. Der behandelnde Psychiater hat die Krankheit als seit ca. 1995
bestehend bezeichnet und auf entsprechende Nachfrage der IV-Stelle hin am 13.
Februar 2005 den Zeitpunkt, ab dem der Beschwerdeführer zu mindestens 20 % in
seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt war, auf Mai 1999 festgelegt. Diese
beiden Aussagen, die unterschiedliche Fragen beantworten, stehen entgegen der
Erwägung der Vorinstanz nicht in Widerspruch zueinander. Der Psychiater, auf
dessen Einschätzung ansonsten sowohl die Vorinstanz als auch die IV-Stelle zu
Recht abstellten, begründet durchaus plausibel, dass sich im Mai 1999 die
Querulanz (als Symptom der Krankheit) massiv verschlimmert habe. Steht damit
fest, dass der Beschwerdeführer ab Mai 1999 zu 20 % arbeitsunfähig wurde, ist
die Erheblichkeitsschwelle von 20 %, welche die Wartezeit eröffnet (E. 3.2), zu
diesem Zeitpunkt erreicht. Von diesem Grad der Arbeitsunfähigkeit ist bis am
26. November 2004 auszugehen, ab welchem Datum die Vorinstanz eine vollständige
Einschränkung festgestellt hat.

3.4 Daraus lässt sich, Rz. 2017 f. des Kreisschreibens über Invalidität und
Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH) und dessen Anhang II folgend,
ohne Weiteres errechnen, dass die Wartezeit für den Anspruch auf eine
Viertelsrente Ende Februar 2005 abgelaufen war (9 Monate zu 20 % und 3 Monate
zu 100 %: Durchschnitt 40 %). Ende April 2005 lief die Wartezeit für eine halbe
Rente ab (7 Monate zu 20 % und 5 Monate zu 100 %: Durchschnitt 53,33 %), Ende
Mai jene für eine Dreiviertelsrente (6 Monate zu 20 % und 6 Monate zu 100 %:
Durchschnitt 60 %) und schliesslich Ende Juli 2005 jene für eine ganze Rente (4
Monate zu 20 % und 8 Monate zu 100 %: Durchschnitt 73,33 %). Kann hier der Grad
der Arbeitsunfähigkeit ausnahmseise mit der Erwerbsunfähigkeit gleichgesetzt
werden, hat der Beschwerdeführer nach einem Prozentvergleich (vgl. dazu BGE 104
V 135 E. 2b S. 137) dementsprechend ab 1. März 2005 Anspruch auf eine
Viertels-, ab 1. Mai 2005 auf eine halbe, ab 1. Juni 2005 auf eine
Dreiviertels- und ab 1. August 2005 auf eine ganze Rente der
Invalidenversicherung.

4.
Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass ein, wie vom
Beschwerdeführer beantragter, Rentenanspruch ab September 1999 aus
prozessrechtlichen Gründen von vornherein nicht in Frage kommen kann. Nach
Durchführung des Mahn- und Bedenkzeitverfahrens stellte die IV-Stelle mit
Verfügung vom 26. März 2003 fest, dass der Beschwerdeführer in Verletzung der
Schadenminderungspflicht auf Eingliederungsmassnahmen verzichtet hatte. Da die
Rentenberechtigung nur bei fehlender Eingliederungsfähigkeit besteht (BGE 121 V
193), verneinte sie im Einklang mit dem Rechtsgrundsatz "Eingliederung vor
Rente" in der genannten Verfügung folgerichtig auch ausdrücklich einen
Rentenanspruch. Auf die dagegen eingereichte Einsprache trat die IV-Stelle am
4. Juli 2003 nicht ein. Das kantonale Gericht wies die hiegegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 29. Oktober 2003 ab und das Eidg.
Versicherungsgericht (EVG) trat auf die dagegen eingereichte
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit Urteil vom 16. Dezember 2003 nicht ein. Damit
steht rechtskräftig fest, dass der Beschwerdeführer vor Sommer 2003 keinen
Anspruch auf eine Rente hatte.

5.
Die Gerichtskosten werden den unterliegenden Partein anteilsmässig auferlegt
(Art. 66 Abs. 1 BGG). Der nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführer hat
keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 16. Oktober 2007 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle Bern vom 3. April 2006 werden aufgehoben. Es
wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer ab 1. März 2005 Anspruch auf eine
Viertels-, ab 1. Mai 2005 auf eine halbe, ab 1. Juni 2005 auf eine
Dreiviertels- und ab 1. August 2005 auf eine ganze Rente der
Invalidenversicherung hat. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer zu 4/5 und der
Beschwerdegegnerin zu 1/5 auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, dem Bundesamt für Sozialversicherungen
und der Ausgleichskasse des Kantons Bern schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 9. Juni 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Maillard