Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 803/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_803/2007

Urteil vom 29. Mai 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Maillard.

Parteien
Bundesamt für Sozialversicherungen, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

F.________, Beschwerdegegner,
vertreten durch Rechtsanwältin Karin Caviezel, Reichsgasse 65, 7000 Chur.

Gegenstand
Berufliche Vorsorge,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden
vom 28. August 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1973 geborene F.________ war seit Lehrbeginn am 1. August 1992 bis 30.
September 2000 bei der Bauunternehmung X.________ AG (nachfolgend Firma) tätig,
zunächst als Strassenbauer und zuletzt als Vorarbeiter. Dadurch war er bei der
BVG-Sammelstiftung der Rentenanstalt (nachfolgend Stiftung) obligatorisch
berufsvorsorgeversichert. Nachdem die IV-Stelle des Kantons Graubünden ein
erstes Leistungsbegehren mit Einspracheentscheid vom 13. Januar 2004 abgewiesen
hatte, sprach sie F.________ mit Verfügung vom 25. Februar 2005 basierend auf
einem Invaliditätsgrad von 89 % eine ganze Rente der Invalidenversicherung ab
1. August 2003 zu. Die Stiftung lehnte es daraufhin mit Schreiben vom 13.
Oktober 2005 ab, F.________ eine Invalidenrente aus der beruflichen Vorsorge zu
gewähren, weil der zeitliche Zusammenhang zwischen der während des
Arbeitsverhältnisses bei der Firma eingetretenen Arbeitsfähigkeit und der
Invalidität unterbrochen worden sei.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden hiess die Klage von F.________
mit Entscheid vom 28. August 2007 teilweise gut und verpflichtete die Stiftung,
ihm ab 1. August 2002 eine obligatorische Invalidenrente im Betrag von Fr.
14'681.- jährlich (zuzüglich reglementarische Teuerung und Zins) zu erbringen.
Im überobligatorischen Bereich wies es die Klage hingegen ab.

C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Beschwerde mit dem Antrag,
der angefochtene Entscheid sei in Bezug auf den Rentenbeginn aufzuheben und die
Sache zur diesbezüglichen Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Stiftung verzichtet auf eine Stellungnahme, während F.________ auf
Abweisung der Beschwerde schliessen und um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege ersuchen lässt. Eventualiter wird beantragt, der Rentenbeginn sei
in Gutheissung der Beschwerde auf 13. November 2001 festzulegen.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann deren Sachverhaltsdarstellung
von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2 Auf den Eventualantrag des Beschwerdegegners, der Rentenbeginn sei in
Gutheissung der Beschwerde auf 13. November 2001 festzulegen, kann nicht
eingetreten werden, da das Bundesgerichtsgesetz das Institut der
Anschlussbeschwerde nicht kennt und der Beschwerdegegner nicht selbstständig
Beschwerde erhoben hat.

2.
Der vorinstanzliche Entscheid ist nur in Bezug auf den Rentenbeginn
angefochten. Hinsichtlich des überobligatorischen Bereichs blieb die Abweisung
der Klage unangefochten. Unbestritten ist weiter, dass zwischen der während der
Anstellung bei der Firma eingetretenen Arbeitsunfähigkeit und der Invalidität
der von der Rechtsprechung geforderte enge zeitliche und sachliche Zusammenhang
(siehe dazu BGE 130 V 270 E. 4.1 S. 275) gegeben ist.

3.
3.1 Nach der Rechtsprechung ist ein Entscheid der IV-Stelle für die Einrichtung
der beruflichen Vorsorge verbindlich, sofern diese durch Eröffnung der
entsprechenden Verfügung in das invalidenversicherungsrechtliche Verfahren
einbezogen wurde und soweit die konkrete Fragestellung für die Beurteilung des
Rentenanspruchs gegenüber der Invalidenversicherung entscheidend war. Diese
Bindungswirkung findet ihre Grundlage in den Art. 23, 24 Abs. 1 und 26 Abs. 1
BVG, welche an die Regelung des IVG anknüpfen oder diese übernehmen. Die
Orientierung an der Invalidenversicherung bezieht sich insbesondere auf die
Voraussetzungen des Rentenanspruchs, die Rentenhöhe und den Rentenbeginn. Mit
der Bindungswirkung wird einerseits eine gewisse (nicht uneingeschränkte)
materiellrechtliche Koordinierung zwischen erster und zweiter Säule angestrebt.
Anderseits sollen die Organe der beruflichen Vorsorge von eigenen aufwändigen
Abklärungen freigestellt werden (BGE 133 V 67 E. 4.3.2 S. 69 mit Hinweis).

3.2 Eine Bindungswirkung entfällt, wenn die Vorsorgeeinrichtung nicht
spätestens im Einspracheverfahren angelegentlich der Verfügungseröffnung in das
invalidenversicherungsrechtliche Verfahren einbezogen wird (BGE 129 V 73). Hält
sich die Vorsorgeeinrichtung jedoch im Rahmen des
invalidenversicherungsrechtlich Verfügten, ja stützt sie sich - wie auch im
hier zu beurteilenden Fall - darauf ab, ist das Problem des Nichteinbezugs des
Vorsorgeversicherers ins IV-Verfahren gegenstandslos. In diesem Fall kommt ohne
Weiterungen die vom Gesetzgeber gewollte, in den Art. 23 ff. BVG zum Ausdruck
gebrachte Verbindlichkeitswirkung unter Vorbehalt offensichtlicher
Unrichtigkeit des IV-Entscheids zum Zuge (BGE 130 V 270 E. 3.1 S. 273, 129 V 73
mit Hinweisen).

4.
4.1 Zu Recht wendet das beschwerdeführende Bundesamt ein, die Vorinstanz habe
sich zur Bindungswirkung der IV-Verfügung für die Vorsorgeeinrichtung nicht
explizit geäussert. Sie hat vielmehr frei geprüft, ab wann die BVG-Rente zu
leisten ist und den Rentenbeginn - um ein Jahr abweichend von der IV-Verfügung
- auf den 1. August 2002 rückverlegt. Nicht gefolgt werden kann hingegen den
rechtlichen Schlüssen, welche das BSV aus diesem rechtsfehlerhaften Vorgehen
der Vorinstanz zieht:
4.1.1 Das Bundesamt geht davon aus, dass das Ergebnis der
Verbindlichkeitsprüfung Einfluss auf die Leistungspflicht der Stiftung an sich
haben könnte, diese gar entfallen könnte, falls mit der IV-Verfügung der
Eintritt der massgeblichen Arbeitsunfähigkeit auf den 1. August 2002 (Beginn
der einjährigen IV-Wartezeit) festzulegen wäre. Zu diesem Zeitpunkt sei der
Beschwerdegegner aber nicht mehr bei der Stiftung versichert gewesen. Damit
übersieht das Bundesamt, dass nach Art. 23 BVG (in der früheren und aktuellen
Fassung) der massgebende Zeitpunkt einzig der Eintritt der relevanten
Arbeitsunfähigkeit ist, unabhängig davon, in welchem Zeitpunkt und in welchem
Masse daraus ein Anspruch auf Invalidenleistungen entsteht. Die
Versicherteneigenschaft muss nur bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit gegeben
sein, dagegen nicht notwendigerweise auch im Zeitpunkt des Eintritts oder der
Verschlimmerung der Invalidität. Diese wörtliche Auslegung steht in Einklang
mit Sinn und Zweck der Bestimmung, nämlich denjenigen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern Versicherungsschutz angedeihen zu lassen, welche nach einer
längeren Krankheit aus dem Arbeitsverhältnis ausscheiden und erst später
invalid werden. Für eine einmal aus - während der Versicherungsdauer
aufgetretene - Arbeitsunfähigkeit geschuldete Invalidenleistung bleibt die
Vorsorgeeinrichtung somit leistungspflichtig, selbst wenn sich nach Beendigung
des Vorsorgeverhältnisses der Invaliditätsgrad ändert. Entsprechend bildet denn
auch der Wegfall der Versicherteneigenschaft kein Erlöschungsgrund (Art. 26
Abs. 3 BVG e contrario; BGE 123 V 263 E. 1a, 118 V 45 E. 5).
4.1.2 Die Vorinstanz hat - was unwidersprochen blieb - in für das Bundesgericht
verbindlicher Weise (E. 1.1) festgestellt, dass zwischen der während der
Anstellung bei der Firma eingetretenen Arbeitsunfähigkeit und der Invalidität
ein enger zeitlicher und sachlicher Zusammenhang besteht. Das versicherte
Ereignis - der Eintritt der relevanten Arbeitsunfähigkeit - ist damit während
der Zugehörigkeit zur Stiftung eingetreten. Dass die
invalidenversicherungsrechtlich massgebende Invalidität erst später eingetreten
ist, hat auf die grundsätzliche Leistungspflicht der Stiftung keinen Einfluss.

4.2 Die vom kantonalen Gericht unter falschem Blickwinkel vorgenommene
Beurteilung ändert nichts daran, dass die Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts
auf die Frage beschränkt ist, ob die Feststellung der IV-Stelle bzw. der
Vorinstanz zum Eintritt der invalidisierenden Arbeitsunfähigkeit offensichtlich
unhaltbar sei oder nicht (siehe Urteil 9C_211/2007 vom 19. Oktober 2007, E.
3.1). Das kantonale Gericht hat sich zwar nicht ausdrücklich zur
offensichtlichen Unrichtigkeit der Verfügung der IV-Stelle vom 25. Februar 2005
geäussert, aber in für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlicher Weise (E.
1.1) festgestellt, der Beschwerdegegner sei seit anfangs Oktober 2000
durchgehend arbeitsunfähig gewesen. Damit hat es jedoch implizit die Verfügung
der IV-Stelle vom 25. Februar 2005 als offensichtlich unrichtig beurteilt.
Inwiefern diese vorinstanzliche Betrachtungsweise ihrerseits offensichtlich
unrichtig sein soll, legt das beschwerdeführende Bundesamt nicht dar.

5.
Dem unterliegenden Bundesamt dürfen keine Gerichtskosten auferlegt werden (Art.
66 Abs. 4 BGG), hingegen hat es dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung
zu entrichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG), womit dessen Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege gegenstandslos ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat den Beschwerdegegner für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden
und der BVG-Sammelstiftung der Rentenanstalt schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 29. Mai 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Maillard