Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 778/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_778/2007

Urteil vom 11. April 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.

Parteien
B.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Michael Nonn,
Pestalozzistrasse 2, 9000 St. Gallen,

gegen

Ausgleichskasse Gewerbe St. Gallen, Lindenstrasse 137, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 24. September 2007.

Sachverhalt:

A.
B.________ war seit 30. Juni 1989 Verwaltungsrat der E.________ AG. Am 15.
Januar 2003 zeigte die für die E.________ AG zuständige Ausgleichskasse Gewerbe
St. Gallen (im Folgenden: Ausgleichskasse) der Firma die Akontobeiträge für das
Jahr 2003 an, basierend auf einer Lohnsumme von Fr. 1'251'600.-. Gleichzeitig
liess sie der E.________ AG eine - unbenutzt gebliebene - "Änderungsmeldung der
Pauschallohnsummen" zukommen. Am 26. März 2003 stellte die Ausgleichskasse der
E.________ AG die Jahresabrechnung für das Jahr 2002 zu, welcher eine Lohnsumme
von Fr. 1'609'290.35 zu Grunde lag. Die Akontobeiträge von Januar bis November
2003 in Höhe von monatlich Fr. 15'696.90 (basierend auf der Lohnsumme von Fr.
1'251'600.-) bezahlte die E.________ AG fristgerecht. Am 31. Dezember 2003
stellte die E.________ AG der Ausgleichskasse die Jahresabrechnung 2003 zu, die
eine Lohnsumme von Fr. 1'949'140.70 auswies. Am 9. Januar 2004 verkaufte
B.________ sämtliche Aktien der in finanzielle Schwierigkeiten geratenen
E.________ AG - zu einem symbolischen Preis von einem Euro - an W.________.
Frau W.________ nahm ebenfalls Einsitz im Verwaltungsrat. Die Akontobeiträge
für Dezember 2003 und Januar 2004 entrichtete die E.________ AG erst nach
entsprechender Mahnung. Per 3. März 2004 legte B.________ sein
Verwaltungsratsmandat nieder.

Nachdem im April 2004 über die E.________ AG der Konkurs eröffnet worden war,
verpflichtete die Ausgleichskasse B.________ mit Verfügung vom 19. April 2006
zur Bezahlung von Schadenersatz für entgangene Beiträge in Höhe von Fr.
130'145.20 (Ausgleich der Akontobeiträge für das Jahr 2003; Lohnbeiträge vom 1.
Januar bis 20. April 2004; Verwaltungskosten; Beiträge an die
Arbeitslosenversicherung und die Militärersatzkasse; Mahngebühren und
Verzugszinsen) und bestätigte diese mit Einspracheentscheid vom 17. November
2006.

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die hiegegen erhobene
Beschwerde des B.________ mit Entscheid vom 24. September 2007 in dem Sinne
teilweise gut, als es die Schadenersatzforderung masslich um die ausgefallenen
Akontobeiträge für Februar bis April 2004 reduzierte.

C.
B.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt in teilweiser Aufhebung des angefochtenen Entscheides die Abweisung
der bundesrechtliche Beiträge betreffenden Schadenersatzforderung (in Höhe von
nunmehr Fr. 89'467.80). Eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz
zurückzuweisen zur Feststellung, in welchem Umfang er den Schaden zu
verantworten habe. Gleichzeitig ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen
Prozessführung und beantragt, der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung
zuzuerkennen.
Die Ausgleichskasse beantragt Abweisung der Beschwerde. Vorinstanz und
Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

Mit Verfügung vom 4. Februar 2008 erkennt der Instruktionsrichter der
Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu.

Erwägungen:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig
ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105
Abs. 2 BGG) und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel
dürfen nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz
dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von
Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).

2.
Im angefochtenen Entscheid werden die Bestimmung über die Arbeitgeberhaftung
(Art. 52 AHVG) sowie die dazu ergangene Rechtsprechung, insbesondere betreffend
die subsidiäre Haftung der Organe eines Arbeitgebers (BGE 129 V 11 E. 3), die
erforderliche Widerrechtlichkeit (BGE 118 V 193 E. 2a S. 195 mit Hinweisen),
die Voraussetzung des Verschuldens und den dabei zu berücksichtigenden -
differenzierten - Sorgfaltsmassstab (BGE 108 V 199 E. 3a S. 202; Urteil des
Eidgenössischen Versicherungsgerichtes H 211/04 vom 17. März 2005 E. 2 mit
Hinweisen) zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat eine Schadenersatzpflicht des Beschwerdeführers
als ehemaligem Verwaltungsrat der Konkurs gegangenen Firma E.________ AG
bejaht. In masslicher Hinsicht hat es den von der Ausgleichskasse auf Fr.
130'145.20 bezifferten Forderungsbetrag insoweit reduziert, als es eine Haftung
für die nach der Niederlegung des Verwaltungsratsmandates am 3. März 2004
fällig gewordenen Akontobeiträge verneinte.

3.2 Der Beschwerdeführer bestreitet die Schadenersatzpflicht auch für den
Restbetrag. Er bringt vor, die Meldung einer höheren Lohnsumme nach Art. 35
Abs. 2 AHVV sei an keine spezielle Form gebunden. Die Beschwerdeführerin
(recte: Beschwerdegegnerin) hätte deshalb die Jahresabrechnung 2002 als
Anpassungsmeldung betrachten und entgegennehmen müssen. Bezüglich des Betrages
von Fr. 357'690.35 (Differenz zwischen der beitragspflichtigen Lohnsumme 2002
und der den Akontozahlungen für 2003 zu Grunde liegenden Lohnsumme) fehle es
daher an einer Missachtung der gesetzlichen Vorschriften. Weiter seien gestützt
auf Art. 35 Abs. 2 AHVV von der verbleibenden Summe nochmals 10 % abzuziehen,
so dass sich die Schadenshöhe auf lediglich noch Fr. 39'455.28 belaufe. Was den
Restbetrag betreffe, könne die Unterlassung weiterer Meldungen während des
Jahres 2003 nicht als absichtliche oder grobfahrlässige Verletzung von
Vorschriften angesehen werden, da eine Meldung nach Art. 35 Abs. 2 AHVV nur
einmal im Jahr erfolgen müsse. Im Sinne eines Eventualstandpunktes sei zu
beachten, dass seine Bemühungen zum Ausgleich des Saldos entgegen den
vorinstanzlichen Erwägungen relevant seien, da andernfalls eine Kausalhaftung
bestünde, was anerkanntermassen nicht zutreffe. Schliesslich könne ihm nicht
als Grobfahrlässigkeit angelastet werden, dass er in der Person von Frau
W.________ einer Betrügerin zum Opfer gefallen sei; er habe sich in guten
Treuen darauf verlassen dürfen, dass die Käuferin ihren Verpflichtungen
nachkommen werde.

4.
4.1 Gemäss den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz unterliess es der
Beschwerdeführer, der Ausgleichskasse eine Änderung der Pauschallohnsumme zu
melden, obwohl der Anzeige der Akontobeiträge vom 15. Januar 2003 ein
entsprechendes Formular beilag. Weiter steht fest, dass die der Berechnung der
Akontobeiträge für das Jahr 2003 zu Grunde liegende Lohnsumme 56 % unter den
tatsächlich ausbezahlten Löhnen lag. Wenn die Ausgleichskasse davon absah, die
Akonto-Zahlungen für das Jahr 2003 nach Eingang der Jahresabrechnung 2002,
welche eine AHV-pflichtige Lohnsumme von Fr. 1'609'290.35 auswies, nach oben
anzupassen, liegt darin jedenfalls keine grobe Pflichtverletzung, die eine
Herabsetzung der Schadenersatzpflicht wegen Mitverschuldens der
Beschwerdegegnerin rechtfertigte (AHI 2002 S. 52 E. 3b [H 200/01] mit
Hinweisen). Die gegenteilige Auffassung vertrüge sich nicht mit Art. 35 Abs. 2
AHVV, wonach die Arbeitgeber wesentliche Änderungen der Lohnsumme während des
laufenden Jahres zu melden haben. Dass diese Vorschrift der E.________ AG
bekannt war, steht ausser Frage, zumal sie bereits für die Beiträge 2002 eine
Ausgleichszahlung zu leisten hatte. Die Verwaltung durfte somit davon ausgehen,
dass die aktuellen Lohnzahlungen keine Anpassung der Akonto-Beiträge
erforderten. Dies gilt umso mehr, als - wie der Beschwerdeführer zutreffend
ausführt - im Baugewerbe die Lohnsumme notorisch starken saisonalen und
konjunkturellen Schwankungen unterliegt, weshalb selbst die im Jahre 2002
ausbezahlte höhere Lohnsumme nicht ohne Weiteres darauf schliessen liess, von
einer solchen sei auch im Jahre 2003 auszugehen. Der Ausgleichskasse kann somit
kein Mitverschulden angelastet werden, welches eine Herabsetzung der
Schadenminderungspflicht in masslicher Hinsicht rechtfertigte.

4.2 Die weiteren Vorbringen des Beschwerdeführers vermögen keine
Bundesrechtsverletzung darzutun. Soweit er die Ansicht vertritt, die
Schadenssumme sei um 10 % zu reduzieren, da bei Änderungen in diesem Rahmen
selbst nach Ansicht der Beschwerdegegnerin keine Mitteilung erforderlich ist,
zielen seine Ausführungen an der Sache vorbei. Dass eine Änderung erst dann im
Sinne von Art. 35 Abs. 2 AHVV als wesentlich gilt, wenn sie um mindestens 10 %
von der jährlichen Lohnsumme abweicht (und Fr. 20'000.- überschreitet; vgl.
Wegleitung über den Bezug der Beiträge [WBB] in der AHV, IV und EO, Rz. 2046),
hat seinen Sinn einzig darin, zu grosse Abweichungen der Akontobeiträge von den
geschuldeten Beiträgen zu verhindern (vgl. WBB, Rz. 2049). Sie stellt
jedenfalls keinen Freibetrag dar, in dessen Rahmen bei schuldhafter Verletzung
der Meldepflicht von Art. 35 Abs. 2 AHVV keine Arbeitgeberhaftung besteht.
4.3
Dass die Beitragsrechnungen noch bis anfangs 2004 bezahlt wurden, exkulpiert
den Beschwerdeführer nicht. Entscheidend ist einzig, dass die monatlichen
Akontorechnungen (und damit die Zahlungen) um 56 % zu tief festgesetzt waren
und damit nicht den tatsächlichen, aktuellen Lohnsummen entsprachen. Ebenso
wenig hilft es dem Beschwerdeführer, dass er sich seit Sommer 2003 intensiv um
eine Rettung der E.________ AG bemüht und nach dem Verkauf der Firma auf die
Zahlungen der Käuferin vertraut hat (welche sich im Nachhinein als Betrügerin
entpuppte). Haftungsbegründend ist nicht sein Verhalten zu diesem Zeitpunkt,
sondern die Unterlassung der bereits früher erforderlichen Meldung nach Art. 35
Abs. 2 AHVV, welche kausal zum Schaden ist: Nach den zutreffenden Erwägungen im
angefochtenen Entscheid hätte die Ausgleichskasse die Akontozahlungen bereits
während des Jahres 2003 angepasst, wenn sie von der höheren Lohnsumme gewusst
hätte. Da die nachmalige Konkursitin immerhin bis anfangs 2004 Zahlungen
leistete und der neuen Eigentümerin anfangs 2004 sogar noch Beträge von EUR
25'000.- (Zahlung vom 5. Februar 2004) und Fr. 65'000.- (Zahlung vom 3. März
2004) überwies, kann mit überwiegender Wahrscheinlichkeit angenommen werden,
dass in diesem Fall zumindest der grösste Teil der Beiträge rechtzeitig bezahlt
worden wäre. Dementsprechend haftet der Beschwerdeführer für die ausstehenden,
das Jahr 2003 betreffenden (bundesrechtlichen) Beiträge.

5.
Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann entsprochen werden, da die
entsprechenden Voraussetzungen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG) erfüllt sind. Es wird
ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach die Partei der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten für das bundesgerichtliche Verfahren von Fr. 500.- werden
dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Dr. iur. Michael Nonn, St. Gallen, wird als unentgeltlicher Anwalt
des Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2000.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 11. April 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Bollinger Hammerle