Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 74/2007
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9C_74/2007

Urteil vom 19. Oktober 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Schmutz.

Helsana Versicherungen AG, Schadenrecht, Zürichstrasse 130, 8600 Dübendorf,
Beschwerdeführerin,

gegen

R.________, Beschwerdegegner,
vertreten durch Rechtsanwalt Benvenuto Savoldelli, Hauptgasse 20, 4600 Olten.

Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons
Solothurn
vom 16. April 2007.

Sachverhalt:

A.
R. ________ war bei der Helsana Versicherungen AG (nachfolgend: Helsana) in
der Kollektiv-Krankentaggeldversicherung Business Salary nach KVG versichert.
Er war in seiner angestammten Tätigkeit als Maurer vom 13. Dezember 1999 bis
5. März 2000 zu 100 % und vom 6. März 2000 bis zum 30. Juni 2002 zu 50 %
arbeitsunfähig geschrieben. Die Helsana erbrachte Krankentaggeldleistungen,
die sie per 1. Dezember 2001 mit der Begründung einstellte, der Anspruch für
die laufende Arbeitsunfähigkeit sei erschöpft, die Versicherungsdeckung für
die restliche Arbeitsfähigkeit bleibe jedoch bestehen. Da R.________ ab
1. Juli 2002 bis auf weiteres wieder zu 100 % arbeitsunfähig geschrieben
wurde, erbrachte die Helsana von Juli 2002 bis August 2003 weitere
Krankentaggeldleistungen. Mit Schreiben vom 8. Juni 2004 hielt sie fest, dass
sie vorerst keine Taggeldleistungen mehr erbringe, weil R.________ in einer
körperlich leichten Tätigkeit zu 50 % arbeitsfähig sei. Daran hielt sie mit
Verfügung vom 15. Juli 2004 und Einspracheentscheid vom 26. Oktober 2005
fest.

B.
Die von R.________ mit dem Antrag auf Ausrichtung der gesetzlichen Leistungen
ab 1. September 2003, eventualiter Rückweisung der Sache zur Neubeurteilung
erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
teilweise gut. Es hob den Einspracheentscheid vom 26. Oktober 2005 auf und
wies die Sache an die Helsana zurück, damit sie eine Restschadensberechnung
vornehme und erneut über das Leistungsbegehren befinde. Dabei werde
allenfalls darüber zu erkennen sein, ob R.________ während einer angemessenen
Anpassungszeit zum Berufswechsel der Anspruch auf ein Übergangskrankentaggeld
einzuräumen sei (Entscheid vom 16. April 2007).

C.
Die Helsana erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt die Aufhebung des kantonalen Entscheides.

R. ________ beantragt Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Da der angefochtene Entscheid nach dem 31. Dezember 2006 ergangen ist,
richtet sich das Verfahren nach dem Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das
Bundesgericht (BGG; SR 173.110; vgl. Art. 132 Abs. 1 BGG).

2.
Der angefochtene Entscheid ist ein Rückweisungsentscheid und damit ein
Zwischenentscheid, der nur unter den Voraussetzungen von Art. 92 oder 93 BGG
anfechtbar ist. Der hier in Frage kommende Zulässigkeitstatbestand gemäss
Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG (nicht wieder gutzumachender Nachteil) ist nur
erfüllt, wenn das Rückweisungsurteil durch materielle Vorgaben den
Beurteilungsspielraum der unteren Instanz wesentlich einschränkt und davon in
der Folge nicht mehr abgewichen werden kann (BGE 129 I 313 E. 3.2 S. 317;
Urteil E. vom 25. Juni 2007, 9C_276/2007, E. 2). Das kann namentlich der Fall
sein, wenn der Rückweisungsentscheid von einer Rechtsauffassung ausgeht, die
nach Ansicht des beschwerdeführenden Versicherungsträgers unzutreffend ist,
aber für diesen mit Rechtskraft des Rückweisungsentscheids verbindlich würde,
weshalb eine auf Grund der vorzunehmenden weiteren Abklärungen allenfalls
rechtswidrig zu erbringende Leistung nicht mehr rechtsmittelmässig korrigiert
werden könnte (BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483).

3.
3.1 Nach Art. 67 Abs. 1 KVG kann, wer in der Schweiz Wohnsitz hat oder
erwerbstätig ist und das 15., aber noch nicht das 65. Altersjahr zurückgelegt
hat, bei einem Versicherer nach Art. 68 KVG eine Taggeldversicherung
abschliessen. Diese kann von Arbeitgebern für sich und ihre Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen als Kollektivversicherung abgeschlossen werden (Art. 67
Abs. 3 lit. a KVG). Das Gesetz enthält in Art. 72 KVG Bestimmungen
insbesondere zum Anspruchsbeginn (Abs. 2), zur Dauer des Anspruchs (Abs. 3)
sowie zur Kürzung der Leistung bei teilweiser Arbeitsunfähigkeit (Abs. 4) und
bei Überentschädigung (Abs. 5). Nach Abs. 2 Satz 1 dieser Bestimmung entsteht
der Taggeldanspruch, wenn die versicherte Person mindestens zur Hälfte
arbeitsunfähig ist. Reglementarisch kann jedoch schon bei einer
Arbeitsunfähigkeit von unter 50 % ein Taggeldanspruch statuiert werden (vgl.
Art. 73 Abs. 1 KVG; Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in: SBVR/Soziale
Sicherheit, 2. Aufl., Rz. 1124 S. 783). Die Beschwerdeführerin hat von dieser
Möglichkeit Gebrauch gemacht und in Art. 13 Abs. 1 ihrer Allgemeinen
Versicherungsbedingungen (AVB) für die Business Salary
Kollektiv-Taggeldversicherung nach KVG, Ausgabe 1. Januar 2004, festgehalten,
dass das Taggeld bei einer nachgewiesenen Arbeitsunfähigkeit von mindestens
25 % anteilsmässig entsprechend dem Grad der Arbeitsunfähigkeit ausgerichtet
wird.

3.2 Die Definition der Arbeitsunfähigkeit ist die gleiche wie unter dem KUVG,
weshalb die bisherige Rechtsprechung zu den einzelnen Begriffselementen auch
unter dem neuen Recht Gültigkeit hat (BGE 128 V 149 E. 2a S. 152; RKUV 1998
Nr. KV 45 S. 430 mit Hinweisen zum Begriff der Arbeitsunfähigkeit [BGE 114 V
281 E. 1c S. 283, 111 V 235 E. 1b S. 239], zur Bestimmung des Grades der
Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit [BGE 114 V 281 E. 1c S. 283, 111 V 235
E. 1b S. 239] sowie zur Zumutbarkeit eines Berufswechsels bei dauernder
Arbeitsunfähigkeit im bisherigen Tätigkeitsgebiet auf Grund des Gebotes der
Schadenminderung [BGE 114 V 281 E. 1d S. 283 und E. 3a S. 285]; vgl. auch
Gebhard Eugster, Zum Leistungsrecht der Taggeldversicherung nach KVG, in:
LAMal-KVG, Recueil de travaux en l'honneur de la société suisse de droit des
assurances, Lausanne 1997, S. 511 ff., S. 516 ff., je mit Hinweisen; zur
Weiterführung dieser Rechtsprechung unter ATSG BGE 130 V 343 E. 3.1.1 sowie -
für die Krankenversicherung - RKUV 2005 Nr. KV 342, E. 1.3). Nach dieser
Rechtsprechung ist der Grad der Arbeitsunfähigkeit unter Berücksichtigung des
bisherigen Berufes festzusetzen, solange von der versicherten Person
vernünftigerweise nicht verlangt werden kann, ihre restliche Arbeitsfähigkeit
in einem anderen Berufszweig zu verwerten. Nach Ablauf einer angemessenen
Anpassungszeit von drei bis fünf Monaten ab Ansetzung der Frist hängt der
Taggeldanspruch sodann davon ab, ob und wie sich die Verwertung der
Restarbeitsfähigkeit auf den krankheitsbedingten Erwerbsausfall im bisherigen
Beruf und auf den damit zusammenhängenden Taggeldanspruch auswirkt. In
Konkretisierung dieses Grundsatzes hat die Beschwerdeführerin in Art. 3
Abs. 4 ihrer AVB normiert, dass Arbeitsunfähigkeit die durch eine
Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit bedingte volle
oder teilweise Unfähigkeit ist, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich
zumutbare Arbeit zu leisten. Bei langer Dauer wird auch die zumutbare
Tätigkeit in einem anderen Beruf oder Aufgabenbereich berücksichtigt. In
Art. 14 Abs. 5 der AVB wird ferner statuiert, dass die versicherte Person,
die in ihrem angestammten Beruf vorübergehend oder dauernd voll oder
teilweise arbeitsunfähig bleibt, verpflichtet ist, ihre restliche
Arbeitsfähigkeit in einem anderen Berufszweig zu verwerten, wobei der
Krankenversicherer die versicherte Person zu einem zumutbaren Berufswechsel
auffordert und sie auf die Rechtsfolgen aufmerksam macht.

4.
4.1 Umstritten ist einzig der Anspruch auf Krankentaggelder ab September 2003,
wobei ein solcher unstreitig nur auf die Deckung für die Restarbeitsfähigkeit
von 50 % bestehen kann. Unumstritten ist, dass der Beschwerdegegner in seiner
früheren Tätigkeit als Maurer vollständig arbeitsunfähig ist. Die
Beschwerdeführerin ist jedoch im Einspracheentscheid davon ausgegangen, der
Beschwerdegegner sei in einer angepassten Tätigkeit 50 % arbeitsfähig; eine
solche andere Tätigkeit sei ihm auf Grund von Art. 6 Satz 2 ATSG zumutbar. Es
bestehe daher im Rahmen der versicherten Restarbeitsfähigkeit keine
Arbeitsunfähigkeit.

4.2 Die Vorinstanz hat als für das Bundesgericht grundsätzlich verbindliche
Sachverhaltsfeststellung (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG)
festgehalten, es sei nicht zu bemängeln, dass die Beschwerdeführerin von
einer 50-prozentigen Arbeitsfähigkeit des Beschwerdegegners in einer
angepassten Tätigkeit ausgehe. Sie hat sodann erwogen, wenn auf einen
zumutbaren Berufswechsel verwiesen werde, sei nicht bloss auf die
medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit abzustellen, sondern ein konkreter
Einkommensvergleich vorzunehmen. Einen solchen habe die Beschwerdeführerin
nicht angestellt, weshalb der Sachverhalt ungenügend abgeklärt und die Sache
zur weiteren Abklärung an die Beschwerdeführerin zurückzuweisen sei.

4.3 Soweit die Beschwerdeführerin vorbringt, der Beschwerdegegner sei in
angepasster Tätigkeit zu 50 % arbeitsfähig, zielen ihre Ausführungen ins
Leere, da sich ihre Auffassung mit derjenigen der Vorinstanz deckt.

4.4 In Wirklichkeit differieren die Standpunkte in der Frage, ob für die
Feststellung der einen Anspruch auf Taggeld begründenden Arbeitsunfähigkeit
auf die medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit (so die Beschwerdeführerin)
oder auf einen konkreten Einkommensvergleich (so die Vorinstanz und der
Beschwerdegegner) abzustellen sei. Im ersten Fall hat der Beschwerdegegner
auf Grund des massgeblichen Sachverhalts (vgl. E. 4.2 hievor) keinen Anspruch
auf das streitige Taggeld. Im zweiten Fall kann sich je nach Ergebnis des
noch durchzuführenden Einkommensvergleichs ein solcher Anspruch ergeben.
Insoweit ist in Anwendung der dargelegten Rechtslage (vgl. E. 2 hievor) auf
die Beschwerde einzutreten.

5.
5.1 Nach der Rechtsprechung zu Art. 12bis KUVG und Art. 72 KVG ist auf den
konkreten Verdienstausfall abzustellen und daher ein konkreter
Einkommensvergleich (Restschadensberechnung, als Ausfluss der
Schadenminderungspflicht) vorzunehmen (BGE 114 V 281 E. 3c; ebenso Urteil
RKUV 1994 Nr. K 935 S. 114 E. 1; nicht veröffentlichtes Urteil C. vom
7. August 1998, K 126/97, E. 2; Urteil D. vom 10. März 2003, K 85/02,
E. 3.2). Dies gilt unter Art. 6 Abs. 2 ATSG weiterhin (RKUV 2005 Nr. KV 342
S. 356, K 42/05, E. 1.3; Gebhard Eugster, Krankenversicherung a.a.O.,
Rz. 1127 S. 785; Kieser, ATSG-Kommentar, N 14 und 17 zu Art. 6). Dabei deckt
sich die Arbeitsunfähigkeit nach Art. 72 Abs. 2 und Abs. 4 KVG nicht mit der
rentenrechtlichen Invalidität nach Art. 28 Abs. 2 IVG. Es besteht daher
grundsätzlich keine Bindung des Krankenversicherers an die
Invaliditätsbemessung der Invalidenversicherung (BGE 114 V 281 E. 4b; Urteil
C. vom 7. August 1998, K 126/97, E. 2b). Der von der Invalidenversicherung
angenommene Invaliditätsgrad von 60 % ist daher nicht ohne weiteres
massgeblich. Auch haben grundsätzlich nicht die Krankenversicherer das Risiko
der schwierigen Vermittelbarkeit zu übernehmen (BGE 129 V 460 E. 4.3, 114 V
281 E. 5b).

5.2 Die Vorinstanz ist daher mit Recht davon ausgegangen, dass die blosse
medizinisch-theoretische Arbeitsunfähigkeit von 50 % nicht ausreicht, um den
Taggeldanspruch zu verneinen, sondern eine konkrete Restschadensberechnung
vorzunehmen ist. Dass eine solche bisher nicht durchgeführt worden ist, ist
unbestritten.

6.
Bei diesem Ausgang kann offen bleiben, ob der vorinstanzliche Vorwurf an die
Beschwerdeführerin, im Einspracheentscheid die Begründungspflicht verletzt zu
haben, berechtigt ist.

7.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdeführerin hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem
Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 19. Oktober 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz