Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 733/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_733/2007

Urteil vom 3. April 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

Parteien
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

M.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Werner Bodenmann,
Brühlgasse 39, 9000 St. Gallen.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 12. September 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1955 geborene M.________ hatte in der Zeit vom 1. Februar 1996 bis 28.
Februar 1997 Anspruch auf eine halbe Rente und vom 1. März bis 30. Juni 1997
auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung. Zur Ausrichtung gelangten eine
Ehepaar-Invalidenrente sowie zwei, ab 1. Februar 1997 eine Kinderrenten. Im
September 2002 ersuchte M.________ um Einleitung eines neuen Verfahrens, weil
sich sein Gesundheitszustand seit 1998 verschlechtert habe. Nach Abklärungen
(u.a. Einholung eines interdisziplinären Gutachtens) verneinte die IV-Stelle
des Kantons St. Gallen mit Verfügung vom 29. September 2005 den Anspruch auf
eine Invalidenrente, was sie mit Einspracheentscheid vom 1. Juni 2006
bestätigte.

B.
In Gutheissung der Beschwerde des M.________ hob das Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen den Einspracheentscheid vom 1. Juni 2006 auf und sprach ihm
ab dem 14. Mai 2002 eine Viertelrente zu (Entscheid vom 12. September 2007).

C.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 12. September 2007
sei aufzuheben.
M.________ lässt die Abweisung der Beschwerde beantragen. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Wurde eine Rente wegen eines zu geringen Invaliditätsgrades verweigert, wird
eine neue Anmeldung nur geprüft, wenn die gesuchstellende Person glaubhaft
macht, dass sich der Grad der Invalidität in einer für den Anspruch erheblichen
Weise geändert hat (Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV). Tritt die IV-Stelle auf eine
Neuanmeldung ein, hat sie und im Beschwerdefall das kantonale
Versicherungsgericht (Art. 57 ATSG) wie bei einer Revision nach Art. 17 Abs. 1
ATSG (resp. Art. 41 IVG in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2002) zu prüfen, ob
sich die tatsächlichen Verhältnisse seit Erlass der letzten, auf einer
materiellen Prüfung des Rentenanspruchs mit rechtskonformer
Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und Ermittlung des Invaliditätsgrades
beruhenden Verfügung, allenfalls des diesen bestätigenden Einspracheentscheids,
verändert haben (BGE 130 V 71 E. 3.2.3 S. 75 ff.; vgl. auch BGE 133 V 108).
Kommt sie zum Schluss, es sei keine erhebliche Tatsachenänderung bis zum
Zeitpunkt der Neuanmeldung eingetreten, weist sie das Gesuch mit dieser
Begründung ab (Urteil I 96/06 vom 26. Mai 2006 E. 2); andernfalls hat sie zu
prüfen, ob auf Grund der festgestellten Veränderung nunmehr eine
anspruchsbegründende Invalidität besteht (BGE 117 V 198 E. 3a S. 198).

2.
Die Beschwerde führende IV-Stelle rügt, die Vorinstanz habe in Verletzung ihrer
Prüfungspflicht den für den Anspruch auf eine Rente und dessen Umfang
entscheidenden Invaliditätsgrad ermittelt, ohne vorgängig zu prüfen, ob die
tatsächlichen Verhältnisse seit der Aufhebung der Rente zum 30. Juni 1997 resp.
seit der entsprechenden Verfügung vom 24. April 1998 geändert hätten. Dies sei
auf Grund der Akten aber zu verneinen mit der Folge, dass die Beschwerde ohne
Vornahme eines Einkommensvergleichs abzuweisen gewesen wäre.

Die IV-Stelle hatte weder in der Verfügung das erneut gestellte Gesuch um eine
Rente mit der Begründung abgelehnt, die tatsächlichen Verhältnisse hätten sich
im massgebenden Zeitraum nicht wesentlich verändert, noch verteidigte sie in
der vorinstanzlichen Vernehmlassung ihren Standpunkt mit diesem Argument. Das
rechtliche Vorbringen der Verwaltung ist somit neu, entgegen der Auffassung des
Beschwerdegegners aber im Rahmen der Rechtsanwendung von Amtes wegen durch das
Bundesgericht zulässig (Art. 106 Abs. 1 BGG).

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat festgestellt, die IV-Stelle sei zu Recht auf die
Neuanmeldung vom 24. September 2002 eingetreten. Der Versicherte habe glaubhaft
machen können, dass es seit der rentenaufhebenden Verfügung vom 24. April 1998
zu einer Sachverhaltsänderung gekommen sei. So habe der Hausarzt bescheinigt,
dass zu den bestehenden Beschwerden als Folge einer Thoraxkontusion neue
Schmerzen hinzugekommen seien und sich neu eine somatoforme Schmerzstörung
entwickelt habe. Ob die Verhältnisse sich tatsächlich geändert haben und sich
auf die Arbeitsfähigkeit auswirken, hat die Vorinstanz nicht geprüft und
diesbezüglich auch keine Feststellungen getroffen. Der rechtserhebliche
Sachverhalt ist damit unvollständig festgestellt. Diese Frage ist somit frei zu
prüfen (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG e contrario).

3.2 Der IV-Stelle ist darin beizupflichten, dass das MZR-Gutachten vom 24.
August 2005 die Frage einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes seit der
Verfügung vom 24. April 1998 nicht schlüssig beantwortet. Zwar bildete gemäss
Abklärungsauftrag an die Gutachterstelle ein Schwerpunkt der Exploration der
Verlauf des Gesundheitszustandes seit 1995. Dieser Punkt wurde indessen in der
Expertise nicht eigens abgehandelt. Der Beschwerdegegner wirft zu Recht unter
Hinweis auf den Aktenauszug die Frage auf, ob die Gutachter dazu überhaupt in
der Lage gewesen seien. Ebenfalls ist nicht auszuschliessen, dass die Ärzte des
MZR Arbeits- und Erwerbsfähigkeit verwechselt haben, wie die IV-Stelle geltend
macht. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass neue Diagnosen nur
beachtlich sind, soweit sie Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit haben. Sodann
stellt die lediglich unterschiedliche Einschätzung der Arbeitsfähigkeit bei
einem im Wesentlichen unverändert gebliebenen Gesundheitszustand für sich
allein genommen keinen Revisionsgrund dar. Diesbezüglich besteht vorliegend
insoweit Unklarheit, als ab 1. Juli 1997 die Arbeitsfähigkeit in leichten
vorwiegend sitzenden Tätigkeiten 100 % betrug (Verfügung vom 25. April 1998).
Gemäss MZR-Gutachten sind sämtliche körperlich leichten, wechselbelastenden
Tätigkeiten ohne längere Gehstrecken, ohne repetitives Treppen- oder
Leitergehen und ohne Einnahme von Zwangshaltungen mit einem Pensum von 75 %
zumutbar. Diese Einschätzungen beziehen sich auf verschiedene
Anforderungsprofile und lassen keine hinreichend sicheren Schlüsse zur
interessierenden Frage einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes im
massgebenden Zeitraum zu.

3.3 Die Akten erlauben keine zuverlässige Beurteilung der Frage, ob sich die
tatsächlichen Verhältnisse seit der rentenaufhebenden Verfügung vom 24. April
1998 in anspruchsrelevanter Weise geändert haben. Entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführerin kann aufgrund der vorliegenden Akten eine Verschlechterung
des Gesundheitszustandes auch nicht abschliessend verneint werden. Es bedarf
hierzu weiterer Abklärungen durch die IV-Stelle. In diesem Sinne ist die
Beschwerde begründet und verletzt der angefochtene Entscheid Bundesrecht (Art.
95 lit. a BGG). Bei diesem Ergebnis ist auf die vorinstanzliche
Invaliditätsbemessung nicht weiter einzugehen.

4.
Der Beschwerdegegner hat als unterliegende Partei die Gerichtskosten zu tragen
(Art. 66 Abs. 1 BGG).

Entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses wird das kantonale
Gericht die Parteikosten für das vorinstanzliche Verfahren neu zu verlegen
haben (BGE 132 V 215 E. 6 S. 235).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 12. September 2007 und der
Einspracheentscheid vom 1. Juni 2006 aufgehoben werden und die Sache an die
IV-Stelle des Kantons St. Gallen zurückgewiesen wird, damit sie nach
Abklärungen im Sinne der Erwägungen über den Anspruch des Beschwerdegegners auf
eine Rente der Invalidenversicherung neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse Schweiz. Baumeisterverband, Zürich, und dem
Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 3. April 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler