Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 722/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_722/2007

Urteil vom 11. April 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Maillard.

Parteien
K.________, Beschwerdeführerin,

gegen

Ausgleichskasse Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 30.
August 2007.

Sachverhalt:

A.
A.a Die V.________ AG mit Sitz in A.________ war der Ausgleichskasse Zug
angeschlossen. Einzige Verwaltungsrätin dieser Firma war K.________. Am 25. Mai
2005 wurde die Gesellschaft in O.________ AG umbenannt und ihr Sitz nach
B.________ verlegt. Dort wurde sie am 27. Februar 2006 in Anwendung von Art.
708 Abs. 4 OR von Amtes wegen aufgelöst. Mit Verfügung vom 25. April 2006,
bestätigt durch Einspracheentscheid vom 2. Juni 2006, verpflichtete die
Ausgleichskasse Zug K.________, ihr für entgangene paritätische
Sozialversicherungsbeiträge Schadenersatz im Betrage von Fr. 24'363.65 zu
bezahlen. Die Forderung betraf im Umfang von Fr. 2'379.40 Schadenersatz für
kantonalrechtliche Beiträge an die Familienausgleichskasse (FAK-Beiträge), im
Übrigen für die bundesrechtlichen Beiträge.
A.b Hinsichtlich der bundesrechtlichen Beiträge erhob K.________ Beschwerde
beim Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. Dieses wies die Beschwerde am
3. Oktober 2006 ab. Eine dagegen erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde wies
das Bundesgericht im Verfahren H 8/07 mit Urteil vom 23. April 2007 ab, soweit
es darauf eintrat.

B.
In Bezug auf die FAK-Beiträge erhob K.________ Beschwerde beim
Verwaltungsgericht des Kantons Zug, welches die Beschwerde mit Entscheid vom
30. August 2007 abwies.

C.
K.________ erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Antrag, der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 30. August
2007 sei aufzuheben.

Das kantonale Gericht und die Ausgleichskasse beantragen Abweisung der
Beschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine
Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1.
1.1 Das kantonale Gericht stützt die streitige Verpflichtung zu Schadenersatz
auf kantonales Recht, nämlich auf § 28 des kantonalen Gesetzes vom 16. Dezember
1982 über die Kinderzulagen (KZG/ZG, BGS 844.4). Anders als die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach altem Recht (Art. 97 und 128 OG in
Verbindung mit Art. 5 VwVG) ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten an das Bundesgericht auch zulässig gegen Entscheide, die sich
auf kantonales Recht stützen (Art. 82 lit. a BGG; Seiler/von Werdt/Güngerich,
Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, N 5 zu Art. 82). Je nach
Verfügungsgrundlage ist jedoch die Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts
unterschiedlich: Während Bundesrecht frei überprüft wird (Art. 95 lit. a BGG),
kann die Anwendung von kantonalem Recht, von hier nicht interessierenden
Ausnahmen (Art. 95 lit. c und d BGG) abgesehen, nur auf eine Verletzung von
Bundesrecht oder Völkerrecht hin gerügt werden (Art. 95 lit. a und b BGG). Das
Bundesgericht kann nur eingreifen, wenn die Anwendung kantonalen Rechts
zugleich eine Verletzung von Bundesrecht (mit Einschluss von
Bundesverfassungsrecht) oder Völkerrecht darstellt (BGE 133 II 249 E. 1.2.1;
Seiler/von Werdt/Güngerich, a.a.O., N 21 f. zu Art. 95).

1.2 Das Bundesgericht wendet das Recht grundsätzlich von Amtes wegen an (Art.
106 Abs. 1 BGG). Für die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und
interkantonalem Recht gilt demgegenüber ein qualifiziertes Rügeprinzip. Das
Bundesgericht prüft diese Verletzungen nur insofern, als eine solche Rüge in
der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).
Insoweit gelten die gleichen Begründungsanforderungen wie früher bei der
staatsrechtlichen Beschwerde nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG (BGE 133 III 589 E.
2 S. 591 f.; 133 IV 286 E. 1.4). Das Bundesgericht untersucht nicht von sich
aus, ob der angefochtene kantonale Entscheid die Grundrechte oder kantonales
und interkantonales Recht verletzt, sondern prüft nur rechtsgenügend
vorgebrachte, klar erhobene und, soweit möglich, belegte Rügen; die erhobenen
Rügen müssen zudem in der Beschwerdeschrift selber enthalten sein; der blosse
Verweis auf Ausführungen in anderen Rechtsschriften oder auf die Akten reicht
nicht aus (BGE 133 II 396 E. 3.2 mit Hinweisen).

2.
2.1 Die Erhebung von öffentlich-rechtlichen Abgaben bedarf grundsätzlich einer
formellgesetzlichen Grundlage (Art. 127 Abs. 1 BV; BGE 133 V 402 E. 3; 132 I
117 E. 4). Das Bundesgericht hat in E. 6 des zur Publikation in der Amtlichen
Sammlung vorgesehenen Urteils 9C_704/2007 vom 17. März 2008 erkannt, dass § 28
KZG/ZG keine genügende gesetzliche Grundlage darstellt, um Schadenersatz für
entgangene FAK-Beiträge zu erheben. Aufgrund dessen wäre der angefochtene
Entscheid mangels gesetzlicher Grundlage (Verletzung des Legalitätsprinzips)
ohne weiteres aufzuheben.

2.2 Indessen rügt die Beschwerdeführerin - anders als noch im kantonalen
Verfahren, in welchem sie anwaltlich vertreten war - keine Verletzung des
Legalitätsprinzips. Ob die Beschwerde Erfolg hat, hängt somit davon ab, ob das
Legalitätsprinzip ein Grundrecht im Sinne von Art. 106 Abs. 2 BGG ist. Ist dies
zu bejahen, kann das Bundesgericht mangels erhobener Rüge auf diese Frage nicht
eingehen. Ist es zu verneinen, kann die Verletzung des Legalitätsprinzips
gemäss Art. 106 Abs. 1 BGG von Amtes wegen berücksichtigt werden.

3.
3.1 Grundrechte im Sinne von Art. 106 Abs. 2 BGG sind zunächst die in den Art.
7 - 33 BV gewährleisteten Rechte und analoge Rechte aufgrund internationaler
Menschenrechtskonventionen, namentlich der EMRK, mit Ausschluss von blossen
Zielbestimmungen wie Art. 8 Abs. 3 Satz 2 sowie Abs. 4 BV (Seiler/von Werdt/
Güngerich, a.a.O., N 9 zu Art. 106; Meyer, in: Basler Kommentar zum
Bundesgerichtsgesetz, Basel 2008, N 16 zu Art. 106). Den Grundrechten
gleichgestellt hat die Rechtsprechung sodann unter Hinweis auf die frühere
Rechtslage bei der staatsrechtlichen Beschwerde (Art. 84 Abs. 1 lit. a und Art.
90 Abs. 1 lit. b OG) sowie auf die Botschaft des Bundesrates vom 28. Februar
2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege (BBl 2001 4344) auch andere
verfassungsmässige Rechte wie die derogatorische Kraft des Bundesrechts (Art.
49 Abs. 1 BV; BGE 134 I 23 E. 6.1 S. 31, 133 III 638 E. 2 S. 640).

3.2 Das in Art. 5 Abs. 1 BV enthaltene Legalitätsprinzip ist grundsätzlich
nicht ein verfassungsmässiges Grundrecht, sondern ein Verfassungsprinzip. Nach
der zur ehemaligen staatsrechtlichen Beschwerde ergangenen Rechtsprechung
konnte die Verletzung des Legalitätsprinzips daher nicht selbstständig gerügt
werden, sondern nur im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Gewaltentrennung oder
einem anderen verfassungsmässigen Recht, indem geltend gemacht wurde, in dieses
werde ohne genügende gesetzliche Grundlage eingegriffen (BGE 130 I 1 E. 3.1,
123 I 1 E. 2b). Als selbstständiges verfassungsmässiges Recht wurde jedoch das
Legalitätsprinzip im Abgaberecht betrachtet; seine Verletzung konnte
unmittelbar gestützt auf Art. 127 Abs. 1 BV geltend gemacht werden (BGE 128 I
317 E. 2.2.1, 128 II 112 E. 5a).

3.3 Nach den dargelegten Grundsätzen könnte an sich die Verletzung des
Legalitätsprinzips im Abgaberecht vom Bundesgericht nicht von Amtes wegen,
sondern nur auf entsprechende Rüge hin beurteilt werden, was freilich
unbefriedigend erscheinen mag, weil damit auch die Gesetzmässigkeit der
Abgabeforderung nicht von Amtes wegen überprüft würde. Wie es sich damit
verhält, kann jedoch mit Blick auf das Folgende offen bleiben.

4.
Der angefochtene Entscheid datiert vom 30. August 2007. Das Urteil des
Bundesgerichts BGE 9C_704/2007 vom 17. März 2008, in welchem erkannt wurde,
dass § 28 KZG/ZG keine genügende gesetzliche Grundlage für die Erhebung von
Schadenersatz für entgangene FAK-Beiträge darstellt, erging erst später und
konnte der Vorinstanz nicht bekannt sein. Hätte sie vom bundesgerichtlichen
Urteil bereits Kenntnis gehabt, hätte sie die Beschwerde gutgeheissen. Es
erschiene stossend, die Beschwerdeführerin, die im kantonalen Verfahren die
(wie sich im Verfahren 9C_704/2007 herausstellte) berechtigte Rüge der
fehlenden gesetzlichen Grundlage erhoben hatte, einzig wegen der Zufälligkeit
der zeitlichen Abläufe zu einer Schadenersatzpflicht zu verurteilen. Die
Beschwerde ist daher gutzuheissen.

5.
Die unterliegende Beschwerdegegnerin, die in ihrem Vermögensinteresse handelt,
trägt die Kosten des Verfahrens (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Die nicht
anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin hat keinen Anspruch auf
Parteientschädigung.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Zug vom 30. August 2007 und der Einspracheentscheid der Ausgleichskasse
Zug vom 2. Juni 2006 werden aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 600.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 11. April 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Maillard