Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 720/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_720/2007

Urteil vom 28. April 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Traub.

Parteien
S.________, Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 11.
September 2007.

Sachverhalt:

A.
Die 1962 geborene S.________ bezieht seit November 1991 eine ganze
Invalidenrente auf der Grundlage eines Invaliditätsgrades von 80 Prozent
(Verfügung der Ausgleichskasse des Kantons Bern vom 15. Juli 1993). Gestützt
auf eine interdisziplinäre Begutachtung stellte die IV-Stelle des Kantons Bern
- nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens - die Leistungen mit Wirkung ab
Februar 2007 ein, weil sie von einem Invaliditätsgrad von nunmehr noch 20
Prozent ausging (Verfügung vom 1. Dezember 2006).

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die dagegen erhobene Beschwerde ab
(Entscheid vom 11. September 2007).

C.
S.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt sinngemäss, die strittige Verfügung und der angefochtene Entscheid
seien aufzuheben und die bisherige Rentenleistung sei weiterhin zu erbringen.
Eventuell sei eine neue Begutachtung anzuordnen. Schliesslich ersucht sie um
Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung.

IV-Stelle und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Streitig ist, ob die Beschwerdeführerin unter revisionsrechtlichen
Gesichtspunkten (Art. 17 Abs. 1 ATSG) über Januar 2007 hinaus Anspruch auf eine
Invalidenrente (Art. 28 IVG) hat.

1.1 Das kantonale Gericht hat die zur Beurteilung des Leistungsanspruchs
einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Aus
dem vorinstanzlichen Entscheid geht insbesondere hervor, dass neue medizinische
Festlegungen revisionsrechtlich nur bedeutsam sind, wenn sie eine tatsächliche
Veränderung der - hier gesundheitlichen - Verhältnisse zum Ausdruck bringen.
Hingegen stellt die bloss andere, abweichende Beurteilung eines im Wesentlichen
gleich gebliebenen Sachverhalts keine revisionsbegründende oder im Rahmen der
Revision relevante Änderung dar (BGE 112 V 371 S. 372 unten; SVR 2004 IV Nr. 5
S. 13 E. 2 [I 574/02]).

1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
2.1 Die Beschwerdeführerin litt bereits in den Achtzigerjahren im Gefolge
zweier in den Jahren 1979 und 1984 erlittener Traumen der Halswirbelsäule an
Kopf- und Nackenschmerzen, welche als "Migraine cervicale" bei Hypermobilität
der Halswirbelsäule sowie psychosozialer Problematik interpretiert wurden (vgl.
etwa die Berichte des Rheumatologen Dr. D.________ vom 13. November 1985 und
der Neurologisch-neurochirurgischen Poliklinik am Spital X.________ vom 4.
August 1986). Später wurde eine chronische depressiv-ängstliche Entwicklung
diagnostiziert (Berichte des Psychiatrie-Zentrums B.________ vom 26. Mai und
10. November 1992). Das zuständige Organ der Invalidenversicherung sprach der
Versicherten mit Wirkung ab November 1991 eine ganze Invalidenrente auf der
Grundlage eines Invaliditätsgrades von 80 Prozent zu (Verfügung vom 15. Juli
1993). Im Rahmen eines Verfahrens zur Überprüfung des Rentenanspruchs
berichtete der Rheumatologe Dr. W.________ am 7. Juni 1996, wegen imperativen
Schlafdrangs bei Verdacht auf Narkolepsie seien berufliche Massnahmen kaum
möglich. Zudem bestehe ein Fibromyalgiesyndrom bei andauernder
"biopsychosozialer chronischer Belastungssituation" und ein chronisches
Panvertebralsyndrom bei Hohl-Rundrücken, muskulärer Insuffizienz
(Dekonditionierung) und muskulärer Dysbalance. Der Gesundheitszustand sei nur
bedingt besserungsfähig; in Anbetracht der komplexen Ursachen sei es bisher
nicht möglich gewesen, die Patientin zu einem aufbauenden Bewegungstraining zu
motivieren. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. T.________
bestätigte den Verdacht auf Narkolepsie und legte sich auf die Diagnose einer
depressiv-ängstlichen Entwicklung bei unreifer Persönlichkeit fest. Die
Patientin sei krankhaft müde und könne höchstens eine bis zwei Stunden
arbeiten. Ihr Regenerationsvermögen werde mit zunehmendem Alter schlechter
(Bericht vom 19. August 1996).

2.2 Der Internist Dr. K.________ führte in einem Ärztlichen Zwischenbericht vom
9. November 2005 unter anderem aus, die Schmerzsymptomatik habe sich unter
analgetischer Medikation beruhigt, zumal auch deutlich weniger psychosoziale
Stressoren vorhanden seien. Müdigkeit werde ebenfalls weniger beklagt.
Frustrationstoleranz und Belastungsfähigkeit seien allerdings nach wie vor
reduziert und Somatisierungstendenzen vorhanden. Er habe einen Arbeitsversuch
angeregt ("z.B. 50%"), welchem gegenüber die Patientin "nicht absolut
abgeneigt" sei. Die IV-Stelle holte aufgrund dieser Einschätzungen im Institut
Y.________ ein interdisziplinäres Gutachten vom 20. Juli 2006 ein, mit welchem
im Wesentlichen eine Neurasthenie, chronisch rezidivierende Kopfschmerzen, ein
chronisches Panvertebralsyndrom bei leichter Wirbelsäulenfehlform, ein
myofasziales Schmerzsyndrom des rechten Schultergürtels sowie - anamnestisch -
eine Hypersomnie unbekannter Ursache diagnostiziert wurden. Insgesamt bestehe,
etwa in den Bereichen Verkauf oder Büro, eine Arbeitsunfähigkeit von noch 20
Prozent. Aus rheumatologischer Sicht finde das umfangreiche und subjektiv stark
ausgeprägte Beschwerdebild kein adäquates klinisches Korrelat. Die Diagnose
einer Fibromyalgie könne aufgrund der aktuellen klinischen Befunde nicht
eindeutig gestellt werden. Die diagnostischen Kriterien eines
Chronic-fatigue-Syndroms seien formal nicht erfüllt. Die multilokulären
Schmerzen stünden am ehesten im Zusammenhang mit der Tendenz zu allgemeiner
Hyperlaxität sowie der leichten Wirbelsäulenfehlform mit entsprechender
Überlastung von angrenzenden Muskelstrukturen. In leicht (oder höchstens
intermittierend mittelschwer) belastenden Tätigkeiten bestehe aus rein
rheumatologischer Sicht keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit. Der
psychiatrische Teilgutachter stellte eine Verbesserung des Gesundheitszustandes
fest; abgesehen davon, dass die Versicherte überdurchschnittlich viel Schlaf
benötige, liessen sich keine psychopathologischen Symptome feststellen. Die
Arbeitsfähigkeit betrage, ohne weitere Einschränkung der Leistungsfähigkeit, 80
Prozent.

2.3 Der behandelnde Psychiater Dr. U.________ erhob ein "bisher
therapieresistentes mittelschweres depressives Zustandsbild" und stellte dabei
einen Zusammenhang mit einer "nicht verarbeiteten Belastungssituation in ihrer
Kindheit" her. Offen sei, inwieweit die Arbeitsfähigkeit auf therapeutischem
Weg dauerhaft gesteigert werden könne (Bericht vom 21. August 2007; vgl. auch
das Zeugnis des Dr. K.________ vom 21. Dezember 2006, wonach die
Beschwerdeführerin im Sommer 2006 eine Stelle zu 30 Prozent angetreten habe,
aber vorerst noch keine dieses Pensum übersteigende Arbeitsfähigkeit gegeben
sei).

3.
3.1 Das kantonale Gericht führt im angefochtenen Entscheid aus, die Expertise
des Instituts Y.________ weise alle Merkmale eines beweiswertigen Gutachtens
auf (vgl. BGE 125 V 351 E. 3a S. 352), weshalb darauf abgestellt werden könne.
Bei den gutachtlichen Schlussfolgerungen handle es sich nicht bloss um eine
andere Beurteilung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhaltes. In
neueren Berichten der behandelnden Ärzte, die eine weiterreichende
Arbeitsunfähigkeit auswiesen, werde nicht dargetan, inwiefern die
fachärztlichen Einschätzungen im Gutachten nicht zutreffend sein sollten.

3.2 Die vorinstanzliche Feststellung, der Gesundheitszustand der
Beschwerdeführerin habe sich allgemein verbessert, betrifft eine Tatfrage und
ist, da nicht offensichtlich unrichtig, für das Bundesgericht verbindlich (E
1.2).

4.
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es
kann eine Beschwerde aus anderen als den geltend gemachten rechtlichen Gründen
abweisen oder gutheissen (BGE 132 II 47 E. 1.3 S. 50).

4.1 Die Beschwerdegegnerin hat nach Eingang des Gutachtens des Instituts
Y.________ vom 20. Juli 2006 sogleich am 16. August 2006 den Vorbescheid
erlassen und auf Einspruch hin am 1. Dezember 2006 die Rentenaufhebung verfügt,
ohne die prioritäre Frage der Eingliederung (BGE 113 V 22 E. 4a S. 28 mit
Hinweisen) zu prüfen, was indes auch bei der anlässlich einer Revision nach
Art. 17 ATSG vorzunehmenden Invaliditätsbemessung (Art. 16 ATSG) von Amtes
wegen zu geschehen hat (Urteile I 961/06 vom 19. November 2007, E. 5, I 534/02
vom 25. August 2003, E. 4.1 und I 361/01 vom 5. März 2002, E. 1b; vgl. zur
älteren, unter Art. 41 aIVG [in Kraft bis 31. Dezember 2002] ergangenen
Rechtsprechung ZAK 1980 S. 509 E. 2, 1969 S. 387 E. 3b und Urteile I 160/71 vom
11. November 1971, E. 1 sowie I 99/68 vom 8. August 1968, E. 4, nach welch
letztem die Revision grundsätzlich voraussetzt, dass die Eingliederungsfrage im
Wesentlichen gelöst ist). IV-Stelle und ihr folgend auch die Vorinstanz sind
dabei unausgesprochen davon ausgegangen, dass die Beschwerdeführerin das ihr
ärztlicherseits attestierte funktionelle Leistungsvermögen sogleich in
zumutbarer und rentenausschliessender Weise, somit auf dem Weg der
Selbsteingliederung, erwerblich verwerten kann. Verhielte es sich so, wäre
gegen die verfügte und vorinstanzlich bestätigte Rentenaufhebung auch unter dem
Gesichtswinkel der hinreichenden Eingliederung nichts einzuwenden (vgl. statt
vieler etwa Urteil I 817/05 vom 5. Februar 2007 und aus der Rechtsprechung zu
Art. 41 aIVG Urteil I 32/82 vom 12. August 1982, E. 2b).

4.2 Die Annahme von Beschwerdegegnerin und kantonalem Gericht, die
Beschwerdeführerin könne ohne weiteres wieder ein rentenausschliessendes
Erwerbseinkommen erzielen (so die Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes vom 29.
November 2006), ist nach der Aktenlage nicht gesichert und lässt die besonderen
Umstände und psychischen Auswirkungen von langjähriger Chronifizierung und
Arbeitsabstinenz im Falle der Beschwerdeführerin zu Unrecht ausser Betracht.
Diese zeichnen sich hier dadurch aus, dass die Versicherte aus gesundheitlichen
Gründen zeitlebens nie voll arbeitsfähig gewesen war, wegen der
Müdigkeitsproblematik seit 1996 überhaupt nicht mehr gearbeitet und während 15
Jahren eine ganze Invalidenrente bezogen hatte. Hinzu kommt, dass die
Beschwerdeführerin hinsichtlich Wissen und Fähigkeiten nur über ein sehr
schwaches Leistungsprofil verfügt und auf keine nennenswerten beruflichen
Erfahrungen aus der Zeit vor Invaliditätseintritt zurückzugreifen und für die
ihr - durch die Beschwerdegegnerin nach vielen Jahren nunmehr neu zugemutete -
Arbeitssuche fruchtbar zu machen vermag. Das nach Ansicht aller beteiligten
Ärzte prinzipiell gegebene Potential für eine erwerblich verwertbare Leistung
kann bei ihr offenkundig nur mit Hilfe medizinisch-rehabilitativer sowie
beruflicher Massnahmen (Art. 15 ff. IVG) ausgeschöpft werden (vgl. Urteil I 2/
06 vom 23. Mai 2006, E. 2.2), wie der Arbeitsversuch im Umfang von 30 Prozent
im Sommer 2006 zeigt, als die Beschwerdeführerin umgehend an die Grenzen der
damaligen Belastbarkeit gestossen war (Bericht des Dr. med. K.________ vom 21.
Dezember 2006). Die Akten erlauben die Beurteilung weder der in Betracht
fallenden Massnahmen noch der erforderlichen Einarbeitungs- oder
Angewöhnungszeit. Bis zum massgeblichen Zeitpunkt des Verfügungserlasses am 1.
Dezember 2006 jedenfalls ist die erwerbliche Verwertbarkeit des
Leistungsvermögens von 80 Prozent auf dem für die Beschwerdeführerin in
Betracht fallenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt nicht ausgewiesen, zumal die
Vorinstanz zu diesem revisionsrechtlich ebenfalls erheblichen Punkt keine
Feststellungen getroffen hat, an welche das Bundesgericht gebunden wäre (Art.
105 Abs. 1 BGG). Die Sache ist daher an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie
zur erwerblichen Verwertbarkeit der Arbeitsfähigkeit, die Kooperation der
Beschwerdeführerin vorausgesetzt (Art. 21 Abs. 4 ATSG), die erforderlichen
Vorkehren treffe. Anschliessend hat die Beschwerdegegnerin über die im
Grundsatz gebotene Rentenrevision in zeitlicher und masslicher Hinsicht neu zu
verfügen.

5.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG;
Urteil 8C_67/2007 vom 25. September 2007, E. 6).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 11. September 2007 und die Verfügung
der IV-Stelle Bern vom 1. Dezember 2006 aufgehoben werden und die Sache an die
IV-Stelle zurückgewiesen wird, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 28. April 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Traub