Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 69/2007
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9C_69/2007

Urteil vom 27. Februar 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

C. ________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap, Schützenweg 10, 3014 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 1. Februar 2007.

Sachverhalt:

A.
Die 1957 geborene C.________ arbeitete seit 1994 als Pflegehelferin im Heim
A.________. Unter Hinweis auf eine Depression meldete sie sich am 30. Oktober
2000 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Gestützt auf die
beigezogenen Unterlagen, u.a. ein Gutachten der Frau Dr. med. L.________ und
des Dr. med. H.________ vom 29. Januar/2. Februar 2001 ermittelte die
IV-Stelle Bern einen Invaliditätsgrad von 40 %, worauf sie der Versicherten
rückwirkend ab 1. Januar 2001 eine Viertelsrente der Invalidenversicherung
zusprach, wobei zufolge eines wirtschaftlichen Härtefalls eine halbe Rente
ausgerichtet wurde. Seit 1. Januar 2004 war C.________ nach absolvierter
Zusatzausbildung im Wohn- und Pflegeheim B.________, in einem Pensum von 60 %
als Krankenschwester tätig. Am 2. Mai 2005 machte die Versicherte im Rahmen
eines von Amtes wegen eingeleiteten Revisionsverfahrens eine Verschlimmerung
ihres Gesundheitszustandes geltend. Nach neuerlichen Abklärungen setzte die
IV-Stelle den Invaliditätsgrad auf 28 % fest, weil auf Grund der neuen
Erwerbstätigkeit von einem Invalideneinkommen von Fr. 43'580.- auszugehen
sei; verglichen mit dem hypothetischen Einkommen ohne Invalidität von
Fr. 60'830.- resultierten eine Erwerbseinbusse von Fr. 17'250.- und ein
Invaliditätsgrad von 28 %. Dementsprechend hob die IV-Stelle die
Invalidenrente mit Verfügung vom 4. Januar 2006 rückwirkend auf den
31. Dezember 2003 auf. Im Weiteren verpflichtete die IV-Stelle die
Versicherte mit Verfügung vom 12. Januar 2006 die in der Zeit vom 1. Januar
2004 bis 31. Januar 2006 ausbezahlten Renten zurückzuerstatten, weil sie die
Meldepflicht verletzt habe. Auf Einsprache hin hielt die IV-Stelle mit
Entscheid vom 28. Februar 2006 an ihren beiden Verfügungen fest.

B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher C.________ hatte beantragen
lassen, unter Aufhebung des Einspracheentscheides sei ihr ab Januar 2004
weiterhin eine Viertelsrente der Invalidenversicherung zuzusprechen, wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 1. Februar 2007 ab.

C.
Die Versicherte lässt "Verwaltungsgerichtsbeschwerde" führen mit dem
Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die Sache
sei zur Abklärung des hypothetischen Einkommens ohne Invalidität und zu
anschliessender neuer Verfügung über den Rentenanspruch ab 1. Januar 2004 an
die IV-Stelle zurückzuweisen.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichten auf
eine Vernehmlassung.

D.
Mit Eingabe vom 11. Mai 2007 reicht die Versicherte eine Bescheinigung des
Medizinischen Gesundheitszentrums X._________, Republik Y.________, vom
29. März 2007 ein.
Der IV-Stelle und dem BSV wurde Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelenheiten kann u.a. Die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und
wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur
soweit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass
gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Ferner darf das Bundesgericht nicht über die Begehren der Parteien
hinausgehen (Art. 107 Abs. 1 BGG).

2.
Streitig ist auf Grund der Anträge der Beschwerdeführerin die Höhe des
hypothetischen Einkommens ohne Invalidität (Valideneinkommen), welches beim
Einkommensvergleich nach Art. 16 ATSG zu berücksichtigen ist. Während das
kantonale Gericht das der rentenzusprechenden Verfügung vom 11. April 2002 zu
Grunde liegende Jahreseinkommen von Fr. 56'000.- heranzog, womit sich nach
Aufrechnung der Lohnentwicklung bezogen auf das Jahr 2004 ein Betrag von
Fr. 59'154.- ergab, vertritt die Versicherte die Auffassung, das
Valideneinkommen sei ab 1. Januar 2004 auf Grund des Verdienstes einer
Pflegefachfrau festzusetzen. Sie habe im Juli 2004 vom Schweizerischen Roten
Kreuz den Anerkennungsausweis für die in ihrem Heimatstaat
Bosnien-Herzegowina von 1986 bis 1990 absolvierte Ausbildung als
Krankenschwester erhalten. Dieses Diplom hätte sie auch ohne gesundheitliche
Beeinträchtigung erwerben wollen, weshalb die in diesem Beruf erreichbaren
Einkünfte massgebend für die Festsetzung des Valideneinkommens seien. In der
Beschwerdeschrift stellte sie in Aussicht, Belege über die in den Jahren 1986
- 1990 absolvierte Ausbildung nachzureichen.

3.
Mit Eingabe vom 11. Mai 2007 reichte die Beschwerdeführerin nachträglich eine
Bescheinigung des Medizinischen Gesundheitszentrums X.________, Republik
Y.________, vom 29. März 2007 ein. Daraus geht hervor, dass die Versicherte
vom 1. Januar 1986 bis 31. Dezember 1990 als Krankenschwester "in dieser
gesundheitlichen Anstalt" festangestellt war. Gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG
handelt es sich bei dieser Bestätigung um ein zulässiges neues Beweismittel,
sah sich doch die Beschwerdeführerin durch den angefochtenen Entscheid mit
dem darin festgesetzten Valideneinkommen und der Begründung der Vorinstanz,
mit welcher ihr Standpunkt verworfen worden war, veranlasst, die Bestätigung
in ihrer Heimat einzuholen. Schliesslich steht auch der Umstand, dass sie die
Bescheinigung des Medizinischen Gesundheitszentrum X.________ erst nach
Ablauf der Beschwerdefrist aufgelegt hat, einer Würdigung dieses
Beweismittels nicht entgegen, handelt es sich doch um ein neues Aktenstück,
das auch unter revisionsrechtlichem Gesichtswinkel (vgl. Art. 123 Abs. 2
lit. a BGG) erheblich wäre, so dass es rechtsprechungsgemäss auch bei
verspäteter Einreichung in die Beurteilung Eingang finden kann (s. BGE 127 V
353 E. 4b S. 357 betr. Art. 137 lit. b OG). Ob die Rechtsprechung gemäss BGE
127 V 353 E. 4b S. 357 auch unter der Herrschaft des BGG anwendbar bleibt,
wie das Bundesgericht im Urteil 9C_40/2007 vom 31. Juli 2007 erkannt, dann
aber im Urteil 9C_436/2007 E. 6.1.2 wieder offen gelassen hat, braucht hier
nicht entschieden zu werden.
Mit Blick auf Art. 99 Abs. 1 BGG gilt es nämlich zu beachten, dass die
Beschwerdeführerin die entscheidende Tatsache, wonach sie in jedem Fall, auch
ohne gesundheitliche Beeinträchtigung, das Diplom als Pflegefachfrau erwerben
wollte, bereits im kantonalen Verfahren vorbrachte. In einem an die IV-Stelle
gerichteten, am 17. Januar 2007 beim Verwaltungsgericht eingegangenen
Schreiben vom 18. Dezember 2006 schilderte die Versicherte, dass sie zwischen
1986 und 1990 in Bosnien und Herzegowina ihre medizinische Ausbildung
absolviert habe; infolge des Kriegsausbruchs im Jahr 1990 habe sie diese
jedoch nicht abschliessen können. Im Weiteren beschrieb sie ihren beruflichen
Werdegang bis zum erfolgreichen Abschluss der Ausbildung im Jahr 2003. Wenn
die Vorinstanz zu diesen in Bezug auf das streitige Valideneinkommen
wesentlichen tatsächlichen Vorbringen unter Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes (Art. 61 lit. c ATSG; BGE 125 V 193 E. 2 S. 195, 122
V 157 E. 1a S. 158; Urteil I 110/07 vom 25. Juni 2007) keine Beweismassnahmen
angeordnet hat, muss sich die Beschwerdeführerin jedenfalls auch unter diesem
Gesichtswinkel nicht entgegenhalten lassen, sie habe die neuen Beweismittel
(Art. 99 Abs. 1 BGG) in Form der beweiskräftigen Urkunden aus ihrem
Heimatland verspätet, weil nicht innerhalb der Beschwerdefrist, eingereicht.

4.
Auf Grund der nachgereichten Bescheinigung ist erstellt, dass die
Beschwerdeführerin von 1986 bis 1990 als Krankenschwester in
Bosnien-Herzegowina tätig war. Falls sie in jenem Zeitraum, wie in der
Beschwerde und wiederum in der Eingabe vom 11. Mai 2007 behauptet, die
Ausbildung zur Krankenschwester absolvierte, wäre dem Einkommensvergleich in
der Tat ein höheres Valideneinkommen zu Grunde zu legen. Wie es sich damit
und mit den einzelnen Vorbringen zur Ausbildung in der Eingabe vom 11. Mai
2007 verhält, wird die Vorinstanz, an welche die Sache zurückzuweisen ist
(Art. 107 Abs. 2 BGG), abklären. Hernach wird sie über die Beschwerde gegen
den Einspracheentscheid der IV-Stelle vom 28. Februar 2006 neu entscheiden.

5.
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten der
unterliegenden IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat der
Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68
Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern vom 1. Februar 2007 aufgehoben, und die Sache wird an die
Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der
Erwägungen über die Beschwerde neu entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle Bern auferlegt.

3.
Die IV-Stelle Bern hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 27. Februar 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer