Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 694/2007
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9C_694/2007

Urteil vom 10. Dezember 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

D. ________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. André Largier, Sonneggstrasse 55,
8006 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 23. August 2007.

Sachverhalt:

A.
Die 1965 geborene D.________ meldete sich im Februar 2005 bei der
Invalidenversicherung an und beantragte u.a. eine Rente. Nach Abklärung der
gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse verneinte die IV-Stelle des
Kantons Zürich mit Verfügung vom 4. November 2005 den Anspruch der
Gesuchstellerin auf eine Invalidenrente, was sie mit Einspracheentscheid vom
23. Januar 2006 bestätigte.

B.
Die Beschwerde der D.________ wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 23. August 2007 ab.

C.
D.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 23. August 2007 sei aufzuheben und
es sei ihr rückwirkend ab Januar 2005 eine angemessene Invalidenrente
zuzusprechen oder es sei die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit
diese nach ergänzenden Abklärungen über den Anspruch auf die gesetzlichen
Leistungen neu entscheide.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).

2.
Das kantonale Gericht hat durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG sowie BGE
128 V 29 E. 1 S. 30 in Verbindung mit BGE 130 V 343) einen Invaliditätsgrad
von 34 % ermittelt, was keinen Anspruch auf eine Rente ergibt (Art. 28 Abs. 1
IVG). Das Invalideneinkommen hat es auf der Grundlage der Schweizerischen
Lohnstrukturerhebung 2004 des Bundesamtes für Statistik (LSE 04) bestimmt
(vgl. dazu BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 und BGE 124 V 321). Dabei ist die
Vorinstanz von einer Arbeitsfähigkeit von mindestens 75 % in einer leichten,
behinderungsangepassten Tätigkeit entsprechend dem Gutachten des Spitals
X.________ vom 28. April 2005 mit Bericht vom 17. März 2005 zur Evaluation
der arbeitsbezogenen funktionellen Leistungsfähigkeit ausgegangen.

3.
In der Beschwerde wird eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes gerügt.
Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht seien
ungenügend abgeklärt. Weder sei die psychiatrische Diagnose gesichert noch
die Dauerhaftigkeit der psychischen Beeinträchtigungen fachärztlich
beurteilt.

3.1 Nach Art. 43 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 IVG prüft die
IV-Stelle die Begehren, nimmt die notwendigen Abklärungen vor und holt die
erforderlichen Auskünfte ein. Gemäss Art. 61 lit. c ATSG stellt das kantonale
Versicherungsgericht unter Mitwirkung der Parteien die für den Entscheid
erheblichen Tatsachen fest [Untersuchungsgrundsatz: BGE 125 V 193 E. 2 S.
195]; es erhebt die notwendigen Beweise und ist in der Beweiswürdigung frei.
Welche konkreten Abklärungsmassnahmen in gesundheitlicher und
beruflich-erwerblicher Hinsicht für eine rechtsgenügliche
Sachverhaltsermittlung geboten sind, lässt sich angesichts der Besonderheiten
jedes einzelnen Falles nicht allgemein sagen (Urteil I 281/06 vom 24. Juli
2006 E. 3.2.1). Gelangt die Verwaltung oder das Sozialversicherungsgericht
zur Überzeugung, die Akten erlaubten die richtige und vollständige
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts oder eine behauptete Tatsache
sei für die Entscheidung der Streitsache nicht von Bedeutung, kann es auf die
Erhebung weiterer Beweise verzichten. In dieser antizipierten Beweiswürdigung
kann keine Gehörsverletzung und auch kein Verstoss gegen den
Untersuchungsgrundsatz erblickt werden (BGE 124 V 90 E. 4b S. 94, 122 V 157
E. 1d S. 162; Urteile I 46/07 vom 29. Oktober 2007 E. 3.3, I 801/06 vom 5.
Oktober 2007 E. 6.2.1 und I 106/07 vom 24. Juli 2007 E. 4.1).

Ob die Akten die abschliessende Prüfung der streitigen Fragen erlauben,
beurteilt sich aufgrund des vorinstanzlich festgestellten, soweit
offensichtlich unrichtig oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95
BGG beruhend entsprechend berichtigten Sachverhalts. Die Nichtbeachtung des
Untersuchungsgrundsatzes durch die IV-Stelle oder das kantonale
Versicherungsgericht stellt eine Verletzung von Bundesrecht im Sinne von
Art. 95 lit. a BGG dar (Urteil 9C_188/2007 vom 25. Juni 2007 E. 1).

3.2 Nach Auffassung des kantonalen Gerichts ist der rechtserhebliche
Sachverhalt hinreichend abgeklärt und erlauben die Akten die zuverlässige
Beurteilung der Frage, ob die Arbeitsfähigkeit von 75 % aus rheumatologischer
Sicht zusätzlich psychisch bedingt eingeschränkt ist. Die Vorinstanz hat
erwogen, der seit März 2005 behandelnde Arzt Dr. med. A.________, FMH für
Psychiatrie und Psychotherapie, habe in seinem Bericht vom 29. August 2005
als Diagnose mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit eine Anpassungsstörung
mit vorwiegender Beeinträchtigung anderer Gefühle (Sorge, Ängste) nach ICD-10
F43.23 genannt. Eine Anpassungsstörung dauere in der Regel nicht lange Zeit
(nicht mehr als sechs Monate) an, weshalb es sich dabei grundsätzlich nicht
um eine schwere invalidisierende Störung handle. Dies treffe auch hier zu,
sei doch seit der Diagnosestellung im März 2005 bis zum Zeitpunkt des
Berichts vom 29. August 2005 noch kein halbes Jahr vergangen. Auch in den
späteren Berichten des Dr. med. A.________ fänden sich keine Anhaltspunkte
für ein Andauern der Störung. Diese weise auch nicht ausnahmsweise eine
besondere Schwere auf, welche bei objektiver Betrachtung die erwerbliche
Verwertung der aus rheumatologischer Sicht noch bestehenden Arbeitsfähigkeit
als unzumutbar erscheinen liesse. Es bestehe daher keine Veranlassung für
eine ergänzende psychiatrische Untersuchung. Was die im Gutachten des Spitals
X.________ vom 28. April 2005 erwähnte Verdachtsdiagnose einer somatoformen
Schmerzstörung (recte: Schmerzverarbeitungsstörung) betreffe, sei in
Übereinstimmung mit der Rechtsprechung (BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 354) zu
vermuten, dass eine solche oder ihre Folgen mit einer zumutbaren
Willensanstrengung zu überwinden wäre.

3.3 Die vorinstanzlichen Tatsachenfeststellungen, insbesondere zur Schwere
der Anpassungsstörung, sind als solche nicht offensichtlich unrichtig. Damit
ist aber nicht gleichzeitig auch gesagt, der rechtserhebliche Sachverhalt sei
vollständig festgestellt:

3.3.1 Bei Störungen aus dem psychosomatischen Formenkreis ist in der Regel
eine psychiatrische Expertise einzuholen (BGE 130 V 352 E. 2.2.2 S. 353). Für
ein solches Vorgehen spricht vorliegend bereits der Umstand, dass im
rheumatologischen Gutachten vom 28. April 2005, welchem die Vorinstanz - zu
Recht - vollen Beweiswert zuerkannt hat, ausdrücklich festgehalten wurde,
dass bei der Verdachtsdiagnose einer Schmerzverarbeitungsstörung eine
psychiatrische Begutachtung sinnvoll sei; eine zusätzliche Verstärkung der
durch den organischen Befund erklärbaren Symptomatik durch
psychische/psychiatrische Pathologien könne nicht beurteilt werden, dazu
bedürfe es einer fachspezifischen Begutachtung. In diesem Zusammenhang ist zu
beachten, dass schon im Bericht vom 21. Oktober 2004 über die ärztliche,
physiotherapeutische, ergotherapeutische und psychologische Abklärung im
Rahmen der Rheumatologischen Interdisziplinären Schmerz-Sprechstunde im
Spital X.________ neben einem beidseitigen chronischen zervikospondylogenen
sowie einem linksbetonten lumbospondylogenen Schmerzsyndrom die volle
Diagnose einer Schmerzverarbeitungsstörung gestellt worden war.

3.3.2 Im Weitern spielt die auf die medizinische Empirie gestützte Vermutung,
dass eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung oder ein sonstiger
vergleichbarer pathogenetisch (ätiologisch) unklarer syndromaler Zustand mit
zumutbarer Willensanstrengung überwindbar ist (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397
ff. in fine), erst, wenn die psychiatrisch relevanten Verhältnisse im
Wesentlichen geklärt sind. Dies trifft bei der gegebenen Aktenlage nicht zu.
Der auf die erwähnte Vermutung gestützte rechtliche Schluss des kantonalen
Gerichts, die Schmerzverarbeitungsstörung habe nicht invalidisierenden
Charakter (Urteil 9C_255/2007 vom 9. August 2007 E. 3.2), wird einzig durch
die Annahme getragen, die Anpassungsstörung stelle keine schwere, die
Arbeitsfähigkeit von 75 % aus rheumatologischer Sicht zusätzlich
einschränkende Störung dar. Indessen sind auch die Gegebenheiten im
Zusammenhang mit der Anpassungsstörung hinsichtlich Schweregrad/ Dauer
ungeklärt, und es ist diagnostisch völlig offen, ob dieses oder ein anderes
vergleichbares psychisches Leiden vorliegt. Wie dargelegt, war schon
anlässlich der Abklärung im Rahmen der Rheumatologischen Interdisziplinären
Schmerz-Sprechstunde im Spital X.________ im Oktober 2004 eine
Schmerzverabeitungsstörung in Zusammenhang mit Anpassungsproblemen bei
Veränderungen der Lebensumstände diagnostiziert worden. Sodann kann weder aus
dem Arztzeugnis vom 10. November 2005 noch dem Arztbericht vom 1. Dezember
2005 des Dr. med. A.________ zuhanden der «Zürich» herausgelesen werden, dass
die Störung spätestens damals abgeklungen war oder zumindest keine
Auswirkungen (mehr) auf die Arbeitsfähigkeit hatte. Der behandelnde
Psychiater und Psychotherapeut äusserte sich jedenfalls nicht in diesem
Sinne. Gegenteils hielt er im Arztzeugnis vom 10. November 2005 fest, trotz
der Behandlung sei der psychische Zustand beeinträchtigt durch die Schmerzen.
Im Arztbericht vom 1. Dezember 2005 hielt er fest, die Schmerzen im
Nackenbereich und im ganzen Körper hätten sich seit dem Bericht vom 29.
August 2005 an die IV-Stelle verschlechtert.

3.4 Entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts ist der rechtserhebliche
Sachverhalt somit in psychiatrischer Hinsicht nicht vollständig abgeklärt. Im
Sinne des Vorstehenden wird die IV-Stelle ein psychiatrisches Gutachten
einzuholen haben. Dieses hat sich zur Frage zu äussern, ob der
Beschwerdeführerin willensmässig zumutbar ist, trotz der Schmerzen im Rahmen
der aus rheumatologischer Sicht bestehenden Arbeitsfähigkeit von 75 %
erwerbstätig zu sein. Dabei wird der psychiatrische Experte die
Rechtsprechung zum invalidisierenden Charakter anhaltender somatoformer
Schmerzstörungen und damit vergleichbarer Störungen (BGE 132 V 65, 131 V 49,
130 V 352 und 396) sowie zur Bedeutung psychosozialer und soziokultureller
Faktoren im Kontext psychischer Leiden (BGE 127 V 294 und Urteil I 514/06 vom
25. Mai 2007 E. 2.2.2.2) zu berücksichtigen haben. Danach wird die IV-Stelle
über den Anspruch eine Rente oder gegebenenfalls andere Leistungen der
Invalidenversicherung, insbesondere Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art,
neu verfügen.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die IV-Stelle die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine
Parteieintschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 23. August 2007 und der
Einspracheentscheid vom 23. Januar 2006 aufgehoben werden und die Sache an
die IV-Stelle des Kantons Zürich zurückgewiesen wird, damit sie nach
Abklärungen im Sinne der Erwägungen über den Anspruch auf Leistungen der
Invalidenversicherung, insbesondere eine Rente, neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Zürich
auferlegt.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat die Beschwerdeführerin für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hat die Parteientschädigung
für das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses festzusetzen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse Berner Arbeitgeber und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 10. Dezember 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler