Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 663/2007
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2007
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2007


Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_663/2007

Urteil vom 12. September 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Traub.

Parteien
S.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Stefan Gerber, Thunstrasse 12,
3612 Steffisburg,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 15.
August 2007.

Sachverhalt:

A.
S.________ war vom 16. November 2000 bis 30. Januar 2003 als Mitglied des
Verwaltungsrates der Firma N.________ AG im Handelsregister eingetragen. Im
Oktober 2003 wurde über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet; der
Konkursrichter stellte das Verfahren im Januar 2004 mangels Aktiven ein. Die
Ausgleichskasse des Kantons Bern forderte von S.________ Schadenersatz in Höhe
von Fr. 69'645.90 für von der konkursiten Gesellschaft nicht bezahlte
Sozialversicherungsbeiträge und Gebühren betreffend die Jahre 1998, 2000 und
2001 (durch Einspracheentscheid vom 25. Mai 2004 bestätigte Verfügung vom 12.
Februar 2004).

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die gegen den Einspracheentscheid
erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 15. August 2007).

C.
S.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.

Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf
eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
1.1 Die II. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts ist zuständig zum
Entscheid über die streitige Schadenersatzpflicht nach Art. 52 AHVG. Dies gilt
auch bezüglich entgangener Beiträge an die kantonale Familienausgleichskasse
(Urteil 9C_465+473/2007 vom 20. Dezember 2007, E. 1).

1.2 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen
nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG;
vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde an das Bundesgericht zu prüfen, ob
der angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen
materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen (unter anderem) Bundesrecht
verletzt (Art. 95 lit. a BGG), einschliesslich einer allfälligen
rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
Das Bundesgericht darf nicht über die Begehren der Parteien hinausgehen (Art.
107 Abs. 1 BGG).

1.3 Nach Art. 52 AHVG hat ein Arbeitgeber, der durch absichtliche oder
grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften einen Schaden verschuldet, diesen
der Ausgleichskasse zu ersetzen. Ist der Arbeitgeber eine juristische Person,
so können subsidiär gegebenenfalls die verantwortlichen Organe in Anspruch
genommen werden (BGE 123 V 12 E. 5b S. 15; 122 V 65 E. 4a S. 66; 119 V 401 E. 2
S. 405, je mit Hinweisen). Die Vorinstanz hat die zu den einzelnen
Haftungsvoraussetzungen nach Art. 52 AHVG (Schaden, Widerrechtlichkeit,
Kausalität, qualifiziertes Verschulden) ergangene Rechtsprechung, soweit für
die Beurteilung der Sache im vorliegenden Fall von Belang, zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.
2.1 In tatsächlicher Hinsicht gilt es die grundsätzliche Verbindlichkeit der
vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung für das Bundesgericht zu
berücksichtigen (oben E. 1.2). Das kantonale Gericht hat erkannt, dass die
nachmals konkursite Arbeitgeberfirma (Aktiengesellschaft) der ihr obliegenden
Beitragsablieferungspflicht (Art. 14 Abs. 1 AHVG) während längerer Zeit in
widerrechtlicher und schuldhafter Weise nicht nachgekommen ist, was sich (unter
anderen) der Beschwerdeführer anrechnen lassen muss, soweit er als Mitglied des
Verwaltungsrates (Kollektivunterschrift zu zweien) formelle Organstellung
innehatte.

2.2 Streitig ist unter mehreren Aspekten, ob der Beschwerdeführer bei der Firma
N.________ AG formelle Organstellung hatte (vgl. dazu Marco Reichmuth, Die
Haftung des Arbeitgebers und seiner Organe nach Art. 52 AHVG, Diss. Zürich
2008, Rz. 203 ff.). Faktische (materielle) Organqualität fällt ausser Betracht,
da der Beschwerdeführer keine Geschäftsführungsfunktionen wahrgenommen hat.

3.
Der Beschwerdeführer macht zunächst geltend, dass die auf die formelle
Organstellung gestützte Haftung entfalle, soweit er nicht auch Aktionär gewesen
sei.

3.1 Nach der im rechtserheblichen Zeitraum gültigen Fassung von Art. 707 Abs. 1
OR besteht der Verwaltungsrat aus einem oder mehreren Mitgliedern, die
Aktionäre sein müssen. Werden andere Personen gewählt, so können sie ihr Amt
erst antreten, nachdem sie Aktionäre geworden sind (Abs. 2).
Aktionärseigenschaft ist also Voraussetzung für den Amtsantritt, nicht jedoch
für die Wählbarkeit in den Verwaltungsrat (Martin Wernli, in: Honsell/Vogt/
Watter (Hrsg.), Basler Kommentar zum Obligationenrecht II, 2. Aufl. 2002, Art.
707 Rz. 1). Das Erfordernis einer "Pflicht-" oder "Qualifikationsaktie" ist mit
der auf anfangs 2008 in Kraft getretenen Anpassung im Aktienrecht vom 16.
Dezember 2005 (AS 2007 S. 4826; BBl 2002 S. 3228, 2004 S. 3969) aufgegeben
worden.

3.2 Das kantonale Gericht weist darauf hin, dass der gewählte Nichtaktionär
formell Mitglied des Verwaltungsrates ist, wenn auch intern ohne
Geschäftsführungsrecht, und er deshalb der aktienrechtlichen Verantwortlichkeit
nach Art. 754 OR unterliegt (Wernli, a.a.O., Art. 707 Rz. 10; Marc Bauen/Silvio
Venturi, Der Verwaltungsrat, Zürich 2007, S. 11 f. Rz. 25). Das Bundesgericht
hat festgehalten, dass die Veräusserung der Pflichtaktie die Stellung als
Mitglied des Verwaltungsrates nicht tangiert (Urteil 4C.41/2004 vom 3. Mai
2004, E. 3.3). Nach der überwiegenden aktienrechtlichen Lehre ist Art. 707 Abs.
2 OR (in der bis Ende 2007 geltenden Fassung) eine Ordnungsvorschrift, deren
Verletzung nur die interne Geschäftsführungsbefugnis betrifft; sie bewirkt
nicht die Nichtigkeit der Handlungen des betreffenden Verwaltungsratsmitglieds
(Peter Böckli, Schweizer Aktienrecht, 3. Aufl., Zürich 2004, S. 1444 Rz. 33;
Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel, Schweizerisches Aktienrecht, Bern 1996, S. 279;
Georg Krneta, Praxiskommentar Verwaltungsrat, 2. Aufl., Bern 2005, S. 10 Rz.
47; Katja Roth Pellanda, Organisation des Verwaltungsrates, Diss. Zürich 2007,
S. 117 Rz. 217; Meinrad Vetter, Der verantwortlichkeitsrechtliche Organbegriff
gemäss Art. 754 Abs. 1 OR, Diss. Zürich 2007, S. 145). Zudem wird aus
praxisbezogener Sicht selbst die Auffassung, das gewählte
Verwaltungsratsmitglied habe, solange es nicht Aktionär sei, kein internes
Geschäftsführungsrecht, kritisiert; die Überprüfung vor jeder Abstimmung des
Verwaltungsrates gestalte sich vor allem bei Inhaberaktien schwierig (Krneta,
a.a.O., S. 10 Rz. 45 f. mit Hinweisen). Der Nachweis, ob eine nach Art. 52 AHVG
ins Recht gefasste Person zu einem bestimmten Zeitpunkt Aktionär war, ist denn
auch vorab bei Inhaberaktien kaum zu führen. Mithin haben alle gültig gewählten
Mitglieder eines Verwaltungsrates, so auch der Beschwerdeführer (sogleich E.
4), formelle Organstellung (Reichmuth, a.a.O., S. 50 Fn. 308; Harald Bärtschi,
Verantwortlichkeit im Aktienrecht, Diss. Zürich 2001, S. 97) und können
aufgrund ihres Handelns - oder Nichthandelns - nach Art. 52 AHVG haftbar
werden, auch wenn sie intern eigentlich nicht zur Geschäftsführung befugt
wären.

Die Haftung des Beschwerdeführers kann somit nicht schon mit seiner fehlenden
Aktionärseigenschaft verneint werden.

4.
4.1 Der Beschwerdeführer beanstandet weiter, die Vorinstanz habe den
rechtserheblichen Sachverhalt unrichtig festgestellt, indem sie ausser Acht
gelassen habe, dass er tatsächlich gar nie Mitglied des Verwaltungsrates der
Firma N.________ AG geworden sei. Er sei weder zu der ausserordentlichen
Generalversammlung eingeladen worden, bei welcher der - ihm wiederum nicht zur
Kenntnis gebrachte - Antrag zur Wahl behandelt worden sei, noch habe er eine
Annahmeerklärung unterzeichnet. Die nach einem Gespräch, in welchem er seine
Bereitschaft erklärt habe, Mitglied des Verwaltungsrates zu werden, erfolgte
Blankounterzeichnung einer Handelsregisteranmeldung allein reiche nicht aus, um
formelle Organstellung zu erlangen. Die Eintragung in das Handelsregister sei
mithin "unlauter" und als nichtig zu betrachten. Zwar habe das kantonale
Gericht beim zuständigen Notar ein Dokument eingeholt, welches eine
Wahlannahmeerklärung enthalte; obwohl der Beschwerdeführer bestreite, eine
solche abgegeben zu haben, verweigere die Vorinstanz aber die Abnahme des
Beweisantrags, den Notar - welchen er nie gesehen habe - als Zeugen zu
vernehmen. Damit verletze sie den Anspruch auf rechtliches Gehör.

4.2 Die Vorinstanz hat beim Notar, der im Juni 2000 mit der Anmeldung der
Mutationen im Verwaltungsrat der Firma N.________ AG beim Handelsregister mit
der Sache befasst war, Unterlagen einverlangt. Der Notar legte seinem Schreiben
vom 23. Mai 2007 eine vom Beschwerdeführer am 24. Mai 2000 unterzeichnete
Annahmeerklärung sowie ein Personalienblatt mit Kopie der Identitätskarte bei.
Ebenfalls bei den Akten befindet sich eine Kopie der von allen Beteiligten
unterzeichneten, undatierten Anmeldung an das Handelsregisteramt
Berner-Oberland, wonach unter anderen der Beschwerdeführer als Mitglied des
Verwaltungsrates einzutragen sei. In der Anmeldung wird unter anderem auf die
Annahmeerklärung des Beschwerdeführers verwiesen. Mit am 14. Juni 2000
ausgefertigter Beglaubigung beurkundete der Notar die Anerkennung der neu
einzutragenden Personen, dass es sich bei den betreffenden Unterschriften um
die jeweils eigene handle. Unter diesen Umständen ist die Annahme der
Vorinstanz, der Beschwerdeführer sei mit seinem Einverständnis zum Mitglied des
Verwaltungsrates gewählt worden, nicht offensichtlich unrichtig (oben E. 1.2).

4.3 Die Rüge einer Gehörsverletzung ändert an dieser Schlussfolgerung nichts.
Das kantonale Gericht durfte den Beweisantrag, der Notar sei als Zeuge zu
vernehmen, übergehen, weil die Aktenlage klar ist und die von der Urkundsperson
am 23. Mai 2007 eingereichten Belege keinen Interpretationsspielraum
offenlassen. Von einer zusätzlichen Befragung wären keine neuen oder anderen
Erkenntnisse zu erwarten gewesen. Der Beschwerdeführer greift im Weiteren eine
vorinstanzliche Erwägung auf, wonach aus dem Umstand, dass ein in den Akten des
Handelsregister befindliches Kündigungsschreiben vom 22. März 2001 seine
Unterschrift als Mitglied des Verwaltungsrates trage, abzuleiten sei, er sei
sich "entgegen seinen Angaben des Verwaltungsratsmandats bewusst" gewesen (S.
13 E. 6.1). Ob dem Beschwerdeführer in diesem spezifischen Punkt Gelegenheit
zur Stellungnahme einzuräumen gewesen wäre, bleibe dahingestellt: Bei der
betreffenden Folgerung des kantonalen Gerichts handelt es sich jedenfalls nicht
um ein konstitutives Element der Entscheidfindung, sondern um eine
Zusatzbegründung, welche das bereits anderweitig hergeleitete Ergebnis stützt.
In diesem Sinne ist sie nicht entscheidungserheblich.

4.4 Nach dem Gesagten besteht die Schadenersatzforderung zu Recht.

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 BGG). Die Gerichtskosten
werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 4000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. September 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Traub