Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 628/2007
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9C_628/2007

Urteil vom 19. November 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

S. ________, 1952, Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsdienst Integration Handicap, Schützenweg 10, 3014 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 9. Juli 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1952 geborene S.________ arbeitete seit Mai 1971 als
Produktionsmitarbeiter in der Firma X.________ AG. Nachdem er seit 18. April
2003 ständig mindestens zu 50 % arbeitsunfähig gewesen war, wurde das
Arbeitsverhältnis auf Ende September 2004 aufgelöst. Im August 2002 hatte
sich S.________ wegen Hüft- und Kniebeschwerden bei der Invalidenversicherung
angemeldet und Berufsberatung sowie eine Rente beantragt. Nach Abklärung der
gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse (u.a. Begutachtung durch Prof.
Dr. med. H.________, Spezialarzt für orthopädische Chirurgie FMH) verneinte
die IV-Stelle Bern mit Verfügung vom 10. August 2005 den Anspruch auf eine
Rente. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 1. Februar 2006 fest.

B.
Die Beschwerde des S.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 9. Juli 2007 ab.

C.
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 9. Juli 2007 sei aufzuheben und die
Sache sei zur näheren Abklärung der restlichen Arbeitsfähigkeit sowie zu
neuer Verfügung über den Rentenanspruch an die IV-Stelle zurückzuweisen,
unter Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf die Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Das kantonale Gericht hat den für den Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung und dessen Umfang massgeblichen Invaliditätsgrad
(Art. 28 Abs. 1 IVG) durch Einkommensvergleich ermittelt (vgl. Art. 16 ATSG
sowie BGE 128 V 29 E. 1 S. 30 und BGE 130 V 343). Das Valideneinkommen
(Fr. 55'783.-) hat es dem Verdienst gleichgesetzt, den der Versicherte ohne
gesundheitliche Beeinträchtigung 2003 als Produktionsmitarbeiter in der Firma
X.________ AG erzielt hätte. Das Invalideneinkommen (Fr. 49'284.-) hat die
Vorinstanz auf der Grundlage der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2002
des Bundesamtes für Statistik (LSE 02) bestimmt (vgl. BGE 129 V 472 E. 4.2.1
S. 476 und BGE 124 V 321). Dabei ist sie entsprechend dem Gutachten des Prof.
Dr. med. H.________ vom 13. Dezember 2004 davon ausgegangen, dem Versicherten
seien optimal angepasste Tätigkeiten unter Wechselbelastungen (Heben und
Tragen von Gewichten kurzzeitig maximal bis 20 kg, Steh- und Gehdauer eine
halbe Stunde, Sitzen bis eineinhalb Stunden) während acht Stunden im Tag
zumutbar. Ferner hat das kantonale Gericht einen leidensbedingten Abzug vom
Tabellenlohn von 15 % (BGE 126 V 75) berücksichtigt. Aus der
Gegenüberstellung von Validen- und Invalideneinkommen resultierte ein
Invaliditätsgrad von 12 %, was keinen Rentenanspruch ergibt (Art. 28 Abs. 1
IVG).

3.
In der Beschwerde wird gerügt, das kantonale Gericht habe den Sachverhalt
offensichtlich unrichtig resp. unter Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes
festgestellt. Es seien Umstände gegeben, welche die Vorinstanz zu einer
vertieften Abklärung insbesondere der Bedingungen des früheren
Arbeitsverhältnisses sowie der Auswirkungen der Hirnfunktionsstörungen auf
die Arbeitsfähigkeit und deren Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt hätten
veranlassen müssen.

3.1 Nach Art. 61 lit. c ATSG stellt das kantonale Versicherungsgericht unter
Mitwirkung der Parteien die für den Entscheid erheblichen Tatsachen fest
[Untersuchungsgrundsatz: BGE 125 V 193 E. 2 S. 195]; es erhebt die
notwendigen Beweise und ist in der Beweiswürdigung frei. Welche konkreten
Abklärungsmassnahmen in gesundheitlicher und beruflich-erwerblicher Hinsicht
für eine rechtsgenügliche Sachverhaltsermittlung geboten sind, lässt sich
angesichts der Besonderheiten jedes einzelnen Falles nicht allgemein sagen
(Urteil I 281/06 vom 24. Juli 2006 E. 3.2.1). Gelangt das Gericht zur
Überzeugung, die Akten erlaubten die richtige und vollständige Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts oder eine behauptete Tatsache sei für die
Entscheidung der Streitsache nicht von Bedeutung, kann es auf die Erhebung
weiterer Beweise verzichten. In dieser antizipierten Beweiswürdigung kann
keine Gehörsverletzung erblickt werden (BGE 124 V 90 E. 4b S. 94, 122 V 157
E. 1d S. 162; Urteil I 106/07 vom 24. Juli 2007 E. 4.1).
Die Nichtbeachtung des Untersuchungsgrundsatzes stellt eine Verletzung von
Bundesrecht im Sinne von Art. 95 lit. a BGG dar (Urteil 9C_188/2007 vom
25. Juni 2007 E. 1).

3.2
3.2.1 Es ist unbestritten, dass dem Gutachten des Prof. Dr. med. H.________
vom 13. Dezember 2005 voller Beweiswert zukommt (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352).
Wie der Experte jedoch selber festhält, beschränkt sich seine Beurteilung auf
das orthopädische Fachgebiet. Gemäss Hausarzt stünden die
nicht-orthopädischen Beeinträchtigungen im Vordergrund.

3.2.2 Am 15. November 2005 war der Beschwerdeführer auf der Abteilung für
Neuropsychologische Rehabilitation des Spitals Y._______ untersucht worden.
Aufgrund der Befunde und Beobachtungen wurde die Diagnose einer seit Geburt
bestehenden Hypothyreose mit/bei bis schwer reichenden Hirnfunktionsstörungen
gestellt. Die Vorinstanz hat - ohne auf die weiteren Aussagen der
neuropsychologischen Fachärzte im Bericht vom selben Tag näher einzugehen -
festgestellt, diese Störung habe den Versicherten nicht daran gehindert,
während über dreissig Jahren ohne Einschränkung erwerbstätig zu sein. Prof.
H.________ gegenüber habe er zudem ausgeführt, es vom Hilfsarbeiter zum
Spezialarbeiter gebracht zu haben. Gemäss den Angaben der Firma habe der Lohn
der Leistung entsprochen. Es sei daher nicht davon auszugehen, dass der
geistige Gesundheitszustand sich auf die Arbeitsfähigkeit auswirke.

Bei der neuropsychologischen Abklärung wurden z.T. schwere kognitive
Minderleistungen in den Bereichen Aufmerksamkeit (Verlangsamung) und
exekutive Funktionen (Fluenz, Abstraktionsfähigkeit, Planen) sowie
verminderte Leistungen im visuo-konstruktiven Bereich festgestellt. In Bezug
auf die Arbeitsfähigkeit hielten die Fachärzte fest, dass lediglich einfache
Routinetätigkeiten wie bisher möglich sein dürften. Dabei sei auch hiefür in
der freien Wirtschaft mit Einschränkungen zu rechnen. Allenfalls kämen
Tätigkeiten in geschütztem Rahmen in Frage. Es bestehen somit erhebliche
neuropsychologisch objektivierbare und fassbare kognitive Defizite. Diese
wirken sich zwar nicht in der angestammten oder einer vom intellektuellen
Anforderungsprofil her vergleichbaren Tätigkeit aus. Sie schränken aber, was
entscheidend ist, die Arbeitsfähigkeit auf solche Tätigkeiten ein. Damit
stellt sich die Frage, ob solche Beschäftigungen in der freien Wirtschaft
vorhanden sind oder nur unter nicht realistischem Entgegenkommen eines
durchschnittlichen Arbeitgebers möglich wären und das Finden einer
entsprechenden Stelle deshalb zum Vornherein als erheblich erschwert oder
sogar ausgeschlossen erscheint (Urteil 9C_55+122/2007 vom 18. Oktober 2007
E. 5.3.1 mit Hinweisen).
Für die zweite Annahme scheint ausser dem neuropsychologischen Bericht vom
15. November 2005 auch der Bericht der Stiftung Z.________,
Integrationsprogramm Arbeit, vom 28. März 2006 über die dreimonatige
Abklärung insbesondere der beruflichen Eingliederungsmöglichkeiten zu
sprechen. Die Feststellungen in diesem Bericht zur gesundheitlich bedingten
Einbusse an funktionellem Leistungsvermögen sind zwar grundsätzlich
unbeachtlich, wie im angefochtenen Entscheid unter Hinweis auf BGE 107 V 17
E. 2b S. 20 insoweit richtig festgehalten wird. Indessen wurde, was die
Vorinstanz unberücksichtigt gelassen hat, eine berufliche Umschulung nicht
nur wegen der körperlichen Beeinträchtigungen, sondern auch angesichts der
Persönlichkeitsstruktur resp. der intellektuellen Einschränkung mit der
Notwendigkeit einer begleitenden fachlichen Betreuung am Arbeitsplatz
ausgeschlossen.
Schliesslich trifft zwar zu, dass der Beschwerdeführer bis zur Beendigung des
Arbeitsverhältnisses bei der Firma X.________ AG am 30. September 2004 mehr
als dreissig Jahre lang erwerbstätig gewesen war. Er arbeitete indessen
durchgehend beim selben Arbeitgeber. Dies ist in Anbetracht der Tatsache,
dass er die obligatorische Schulpflicht in einem heilpädagogischen Tagesheim
sowie in einer Hilfsschule absolvierte und später eine Anlehre in der
Speditionsfirma einer Buchdruckerei wegen unbefriedigenden (schwachen
schulischen) Leistungen scheiterte, ein gewichtiges Indiz dafür, dass es sich
dabei um einen sehr sozial eingestellten Arbeitgeber handelte. Dass der
Beschwerdeführer mit der Zeit sich als optimal eingegliederter Arbeitnehmer
auch Kenntnisse und Fertigkeiten aneignen konnte, welche den Aufstieg zum
Spezialarbeiter ermöglichten, ist plausibel. Abgesehen davon aber, dass
unklar ist, was die Tätigkeit als Spezialarbeiter umfasste, muss bei der
gegebenen Aktenlage dieser Aufstieg in erster Linie als betriebspezifisch
gelten ohne hinreichend sichere Aussagekraft für die Verhältnisse auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt, welcher sich aufgrund des technologischen
Fortschritts während der letzten dreissig Jahre ohnehin stark gewandelt hat.
Anders verhielte es sich, wenn der Versicherte an verschiedenen
Arbeitsstellen tätig gewesen und ihm nicht wegen bloss genügender oder sogar
ungenügender Leistung gekündigt worden wäre (vgl. Urteil I 106/07 vom
24. Juli 2007 E. 4.2).
3.3 Nach dem Gesagten ist die Frage, ob ein die Arbeitsfähigkeit
einschränkender geistiger Gesundheitsschaden gegeben und inwieweit die
erwerbliche Verwertbarkeit der restlichen Arbeitsfähigkeit erschwert oder
sogar verunmöglicht ist, offen. Die IV-Stelle wird im Sinne des Vorstehenden
weitere Abklärungen vorzunehmen haben und danach über den Anspruch auf eine
Rente oder/und allenfalls Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art neu
verfügen.

4.
Dem Prozessausgang entsprechend hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
ist demzufolge gegenstandslos.

erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 9. Juli 2007 und
der Einspracheentscheid vom 1. Februar 2006 werden aufgehoben und die Sache
wird an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen, damit sie nach Abklärungen im
Sinne der Erwägungen über den Anspruch des Beschwerdeführers auf Leistungen
der Invalidenversicherung (Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art, Rente)
neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle Bern auferlegt.

3.
Die IV-Stelle Bern hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu entschädigen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung,  hat die Parteientschädigung für das erstinstanzliche
Beschwerdeverfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses
festzusetzen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse ALBICOLAC, Bern,
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
Luzern, 19. November 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Fessler