Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 622/2007
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_622/2007

Urteil vom 9. September 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Traub.

Parteien
B.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter
Rothenbühler, Huobmattstrasse 7, 6045 Meggen,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom
23. Juli 2007.

Sachverhalt:

A.
Die 1972 geborene B.________ erlitt am 27. Dezember 2001 einen Unfall
(Kontusion des Steissbeins); mit Unfallmeldung vom 23. Februar 2004 meldete sie
einen Rückfall. Der obligatorische Unfallversicherer erbrachte die gesetzlichen
Leistungen. Die IV-Stelle des Kantons Luzern lehnte das am 7. Dezember 2004
eingegangene Gesuch um Leistungen der Invalidenversicherung mit der Begründung
ab, es bestehe kein Gesundheitsschaden, welcher die Arbeitsfähigkeit
einschränken würde (mit Einspracheentscheid vom 30. Januar 2006 bestätigte
Verfügung vom 9. August 2005).

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern wies die gegen den
Einspracheentscheid erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 23. Juli 2007).

C.
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, es sei ihr, nach Aufhebung von vorinstanzlichem und
Einspracheentscheid, eine Invalidenrente zuzusprechen; eventuell seien zuvor
zusätzliche medizinische Abklärungen vorzunehmen; subeventuell sei die Sache an
das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit dieses sich zum Ausmass der
Einschränkung äussere. Ausserdem ersucht B.________ um Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Streitig ist, ob die von der Verwaltung erhobenen medizinischen Angaben
genügen, um die Rechtsauffassung zu begründen, es bestehe von vornherein kein
invalidisierender Gesundheitsschaden.

1.1 Das kantonale Gericht hat die zur Beurteilung des Leistungsanspruchs
einschlägigen Rechtsgrundlagen, teilweise in Form einer Verweisung auf die
entsprechenden Angaben im Einspracheentscheid, zutreffend dargelegt. Darauf
wird verwiesen.

1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Die Beschwerdeführerin rügt zunächst eine Verletzung des rechtlichen Gehörs im
Zusammenhang mit dem Einbezug einer Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen
Dienstes (RAD) vom 6. Juli 2005 in den Entscheidungsprozess.

2.1 Das kantonale Gericht hielt fest, die fragliche Stellungnahme des RAD
befinde sich praxisgemäss in dem zu jedem Versicherungsfall angelegten
Verlaufsprotokoll, "worin im Sinn eines Reports fortlaufend mit entsprechendem
Datum die von den verschiedenen Fachbereichen der IV vorgenommene
Fallbearbeitung festgehalten wird". Vorliegend habe der RAD ohne weitere
ärztliche Abklärung einzig eine medizinische Beurteilung der vorliegenden
ärztlichen Dokumente vorgenommen und seine Ergebnisse im Verlaufsprotokoll
zuhanden der IV-Stelle festgehalten. Damit habe die Stellungnahme des RAD zur
versicherungsrechtlichen Würdigung der medizinischen Befunde gedient. Das
entsprechende Ergebnis sei in die Begründung des Einspracheentscheids
eingeflossen. Eine Rückweisung der Sache zur Gewährung des rechtlichen Gehörs
bewirke einen formalistischen Leerlauf. Eine "mögliche Gehörsverletzung" sei
als im Rahmen des kantonalen Gerichtsverfahrens geheilt zu betrachten.

2.2 Die Stellungnahme eines RAD ist auch dann ein entscheidungserhebliches
Dokument, wenn es nicht auf eigenen Untersuchungen beruht (Urteil I 143/07 vom
14. September 2007, E. 3.3). Die IV-Stelle hat die Stellungnahme des RAD nicht
in der originalen Fassung, sondern lediglich zitatweise im (dem eigentlichen
Dossier vorangestellten) Verlaufsprotokoll zu den Akten gegeben. Die Frage nach
der beweisrechtlichen Bedeutung dieses Umstandes kann indes offen bleiben, weil
der vorinstanzliche Entscheid nicht massgebend auf die Einschätzung des RAD
abstellt (unten E. 3). Insofern liegt selbst dann keine bundesrechtswidrige
Feststellung und Würdigung des Sachverhalts durch das kantonale Gericht vor,
wenn die vorstehend umrissene Art und Weise der Dossierführung mangelbehaftet
und die Stellungnahme des RAD deswegen ohne Beweiswert sein sollte.

3.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, die IV-Stelle habe das Ausmass der
Einschränkung ihrer körperlichen Gesundheit zumindest nicht ausreichend
abgeklärt. Sie habe sich vielmehr damit begnügt, die Schmerzangaben als rein
subjektive Befunde ohne objektives Korrelat darzustellen. Die Verwaltung
bestreitet die Begründetheit dieser Rüge und verweist auf die grundsätzliche
Bindung des Bundesgerichts an den vorinstanzlich festgestellten
rechtserheblichen Sachverhalt (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).

3.1 Das kantonale Gericht führte aus, es sei unbestritten, dass bei der
Beschwerdeführerin eine Arachnoidal- oder Tarlovzyste im sakralen rechten
Spinalkanal sowie aufgrund des Unfalls vom Dezember 2001 eine kleine
Diskushernie L5/S1 vorliege. Die Zyste sei nicht durch den Unfall entstanden,
sondern habe schon existiert, als die Versicherte noch arbeitsfähig war. Im
Spital X.________ wurden bei einer Untersuchung Ende März 2004 folgende
objektiven Befunde erhoben: "Druck- und Klopfdolenz im Bereiche des Sakrums.
Lasègue rechts bei 80°, links bei 60° pseudopositiv (Erzeugung von
Kreuzschmerzen). Keine motorischen oder sensiblen Ausfälle, vor allem keine
Reflexausfälle und keine Störung der sakralen Sensibilität" (Bericht vom 19.
April 2004). Verschiedene Dokumente weisen eine Zystenproblematik im Bereich
der Sakralwirbelkörper aus und nehmen auf die Diskusprotrusion Bezug (vgl. etwa
Berichte des Instituts Y.________ vom 5. März 2004 und vom 23. März 2005 sowie
des Spitals Z.________ vom 5. Mai 2004). Das kantonale Gericht setzte sich mit
diesen Akten auseinander, indem es auf die dort geäusserte Einschätzung
verwies, die kleine Bandscheibenherniation führe nicht zu einer Kompression
neuraler Strukturen; fraglich sei auch, ob die Arachnoidalzyste ursächlich für
die rezidivierende Schmerzsymptomatik in Frage komme. Die vorbestehende Zyste
habe bis zum Unfall im Dezember 2001 und auch danach die Beschwerdeführerin
nicht daran gehindert, im Rahmen ihres Pensums zu arbeiten. Sie könne auch
deswegen nicht Schmerzursache sein, weil es nach der im Oktober 2006
vorgenommenen operativen Entfernung nicht zu einer Besserung der Schmerzen
gekommen sei. Die umfassende neurologische Abklärung der geltend gemachten
lumbalen Schmerzen führe zu keinem hinreichend erklärbaren korrelierenden
Befund. Für eine psychiatrische Genese bestünden keine Hinweise. Es ist nicht
offensichtlich unrichtig, wenn die Vorinstanz diese ärztlichen Einschätzungen
zur Grundlage des entscheiderheblichen Sachverhalts gemacht hat. Vor diesem
Hintergrund hat die Vorinstanz auch die hausärztliche Einschätzung, es komme
bei stehender Arbeit nach einer Stunde jeweils zu starken Rückenschmerzen mit
Ausstrahlungen in das rechte Bein (Bericht des Dr. A.________ vom 17. März
2005), nicht offensichtlich unrichtig gewürdigt.

3.2 Aufgrund der Diagnose "lumboradikuläres Reizsyndrom S1 und S2 bei
ausgedehnter, rechtsbetonter sakraler Tarlovzyste" wurde am 10. Oktober 2006 in
der neurochirurgischen Klinik am Spital X.________ eine Operation durchgeführt.
Aus dem entsprechenden Bericht geht hervor, dass die Beschwerdeführerin seit
mehreren Jahren unter rezidivierenden Lumbalgien "mit immer wieder
einschiessenden pseudoradikulären, glutealen Schmerzen" litt. Eine
Zustandsbesserung nach der Operation scheint indes ausgeblieben zu sein
(Bericht der chirurgischen Klinik am Spital Z.________ vom 1. Mai 2007). Das
kantonale Gericht hat daraus den - wiederum nicht offensichtlich unrichtigen -
Schluss gezogen, die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Ursächlichkeit
der Zyste im Hinblick auf die Schmerzen werde durch diesen Befund widerlegt.

3.3 Im Rahmen der bundesgerichtlichen Kognition (oben E. 1.2) ist die
sachverhaltliche Feststellung der Vorinstanz, ein invalidisierender
Gesundheitsschaden sei nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen,
zu schützen.

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG).
Gemäss dem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im
Sinne der vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen
Verbeiständung) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen ist,
das Rechtsmittel nicht aussichtslos und die anwaltliche Vertretung geboten war
(Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E. 5b S. 372). Es
wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte
Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in
der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.

4.
Rechtsanwalt Dr. Peter Rothenbühler, Meggen, wird als unentgeltlicher Anwalt
der Beschwerdeführerin bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche
Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- ausgerichtet.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 9. September 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Traub