Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 608/2007
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9C_608/2007

Urteil vom 31. Januar 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Schmutz.

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

L.________, Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Pro Infirmis St. Gallen-Appenzell, Poststrasse 23, 9000 St.
Gallen.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St.
Gallen
vom 18. Juli 2007.

Sachverhalt:

A.
A.a L.________ ist am 3. Februar 1988 mit einem Hüftleiden, einem Defekt der
Herzkammerscheidewand (Ventrikelseptum-Defekt) und einer Micrognathia
inferior geboren. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen gewährte ihr
medizinische Massnahmen zur Behandlung der Geburtsgebrechen Ziff. 208 und 313
(Anhang zur Verordnung über Geburtsgebrechen [GgV]), Massnahmen
pädagogisch-therapeutischer Art sowie Sonderschulmassnahmen.

A.b Für die Zeit ab 1. Juni 1996 sprach die IV-Stelle L.________ einen
Pflegebeitrag für Hilflosigkeit mittleren Grades zu. Mit Verfügung vom
10. Januar 2005 und Einspracheentscheid vom 17. März 2005 beschied sie der
Versicherten ab 1. März 2005 (bis 28. Februar 2006) noch einen Anspruch auf
eine Hilflosenentschädigung für Minderjährige wegen leichter Hilflosigkeit
und verneinte einen solchen auf einen Intensivpflegezuschlag. In Gutheissung
einer dagegen erhobenen Beschwerde bestätigte das Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 9. November 2005 den Anspruch auf eine
Entschädigung bei mittelschwerer Hilflosigkeit. Über den
Intensivpflegezuschlag habe die Verwaltung nach ergänzenden Abklärungen neu
zu verfügen.

A.c Mit Gesuch vom 19. Dezember 2005 stellte der Vater als gesetzlicher
Vertreter Antrag auf Ausrichtung von Taggeldern und Hilflosenentschädigung an
die nun in der Anlehre in einer Bildungsstätte stehende Tochter. Nach
Abklärung der Verhältnisse vor Ort am 3. April 2006 (Bericht vom 6. Juni
2006) sprach die IV-Stelle L.________ mit Verfügung vom 9. November 2006 ab
1. Januar 2004 bis 28. Februar 2006 (Vollendung des 18. Altersjahres) eine
Entschädigung wegen mittlerer Hilflosigkeit zu; gleichzeitig verneinte sie
erneut den Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag. Diese Verfügung wurde
unangefochten rechtskräftig.

A.d Mit Verfügung vom 1. Februar 2007 entschied die IV-Stelle, L.________
habe ab 1. März 2006 keinen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung für
Erwachsene, weil sie nur noch in der Lebensverrichtung der Fortbewegung auf
regelmässige und erhebliche Dritthilfe angewiesen sei, aber im Übrigen (so
auch in Bezug auf die persönliche Überwachung) lediglich ab und zu noch
gewisse Hinweise nötig seien.

B.
Mit Entscheid vom 18. Juli 2007 hiess das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen die von L.________ gegen die Verfügung vom 1. Februar 2007
erhobene Beschwerde gut; es stellte fest, dass die Versicherte ab 1. März
2006 Anspruch auf eine Entschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades habe.

C.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen erhebt Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt Aufhebung des
Entscheides des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. Juli
2007 und Bestätigung der Verfügung vom 1. Februar 2007.

L. ________ lässt sinngemäss Abweisung der Beschwerde beantragen; Vorinstanz
und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Streitgegenstand bildet nur der Anspruch der im Februar 1988 geborenen
Beschwerdegegnerin auf Hilflosenentschädigung für Erwachsene im Zeitraum nach
Erreichen der Volljährigkeit ab 1. März 2006 bis 1. Februar 2007, dem
Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verfügung. Die von der
Beschwerdegegnerin geltend gemachten Änderungen der Lebensumstände nach dem
genannten Datum können im vorliegenden Verfahren nicht relevant sein, da
diese nicht Verfügungsgegenstand bildeten.

1.2 Umstritten ist somit nur, ob die Versicherte während des erwähnten
Zeitraums der dauernden persönlichen Überwachung bedurfte und so das in
Art. 37 Abs. 3 lit. b IVV vorgesehene Kriterium für die Anerkennung einer
leichten Hilflosigkeit erfüllt war.

1.3 Verwaltung und Vorinstanz haben in formell-, materiell- und
beweisrechtlicher Hinsicht die für die Beurteilung der Leistungsberechtigung
massgeblichen Grundlagen dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.
2.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG)
kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden.
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.2 Frei überprüfbare Rechtsfrage ist der Rechtsbegriff der "dauernden
persönlichen Überwachung", das heisst, welche Tatbestandselemente erfüllt
sein müssen, damit eine solche - von der Vorinstanz anerkannte -
Überwachungsbedürftigkeit zu bejahen ist. Tatfrage ist hingegen, ob sich ein
Sachverhalt verwirklicht hat, der unter diese Tatbestandselemente fällt.

2.2.1 In rechtlicher Hinsicht ist zunächst festzuhalten, dass sich der
Begriff der dauernden persönlichen Überwachung nicht auf die alltäglichen
Lebensverrichtungen bezieht. Hilfeleistungen, die bereits als direkte oder
indirekte Hilfe in einem Bereich der alltäglichen Lebensverrichtung
Berücksichtigung gefunden haben, können bei der Beurteilung der
Überwachungsbedürftigkeit nicht nochmals ins Gewicht fallen. Vielmehr ist
darunter eine medizinische und pflegerische Hilfeleistung zu verstehen,
welche infolge des physischen und/oder psychischen Gesundheitszustandes der
versicherten Person notwendig ist. Eine solche persönliche Überwachung ist
beispielsweise dann erforderlich, wenn eine versicherte Person wegen
geistiger Absenzen nicht während des ganzen Tages allein gelassen werden kann
(ZAK 1986 S. 486 E. 1a mit Hinweisen). Um als anspruchsrelevant gelten zu
können, muss die persönliche Überwachung eine gewisse Intensität erreichen;
dazu genügt nicht, dass die versicherte Person auf Grund ihrer
gesundheitsbedingten Einschränkungen vorzugsweise in einer speziell auf die
Beschäftigung Behinderter ausgerichteten Institution tätig ist und dort unter
ständiger Beaufsichtigung steht. Diese in Behindertenwerkstätten übliche,
nicht aber direkt auf die Person der Versicherten bezogene kollektive
Betreuung, welche bei allfälligem Bedarf einschreiten kann, genügt für die
Annahme einer persönlichen Überwachungsbedürftigkeit nicht (BGE 107 V 136
E. 1b, 106 V 153 E. 2a S. 158; Urteil vom 12. November 2002, I 108/01,
E. 4.2). Aus einer Überwachungsbedürftigkeit im Sinne einer bloss allgemeinen
Aufsicht (beispielsweise in einem Heim) kann keine rechtlich relevante
Hilflosigkeit abgeleitet werden. Gleich verhält es sich, wenn die Überwachung
sich auf die Ausübung der Erwerbstätigkeit oder die Betätigung im
Aufgabenbereich bezieht; denn eine Behinderung in diesen Bereichen wird
gegebenenfalls bei der Invaliditätsbemessung im Rentenfall berücksichtigt
(ZAK 1984 S. 354 E. 2c). Die Überwachung muss zudem dauernd erforderlich
sein. "Dauernd" heisst nicht rund um die Uhr, sondern ist als Gegensatz zu
"vorübergehend" zu verstehen (ZAK 1986 S. 486 E. 1a). Dies kann auch erfüllt
sein, wenn Anfälle zuweilen nur alle zwei bis drei Tage auftreten, aber
unvermittelt und oft auch täglich oder täglich mehrmals erfolgen, sodass
tägliche Überwachung vonnöten ist (ZAK 1986 S. 484 E. 3c). Das Erfordernis
der Dauer bedingt auch nicht, dass die betreuende Person ausschliesslich an
die überwachte Person gebunden ist (EVGE 1969 S. 218 f. E. 2). Ob Hilfe und
persönliche Überwachung notwendig sind, ist objektiv, nach dem Zustand der
Versicherten, zu beurteilen. Grundsätzlich unerheblich ist die Umgebung, in
welcher sich die Versicherte aufhält. Es darf hinsichtlich der Bemessung der
Hilflosigkeit keinen Unterschied ausmachen, ob eine Versicherte allein oder
in der Familie, in der offenen Gesellschaft oder in einem Spital
beziehungsweise in einer Anstalt lebt. Würde anders entschieden, das heisst
die Hilflosigkeit nach der Mühe bemessen, die im Rahmen der jeweiligen
Umgebung erwächst, so wären stossende Konsequenzen unumgänglich, insbesondere
dann, wenn ein Wechsel von der Haus- in die Spitalpflege stattfände (BGE 98 V
23 E. 2 S. 25 mit Hinweisen; nicht veröffentlichtes Urteil W. vom 18. Juni
1993, I 373/92, E. 3b/aa). Daher kann Überwachungsbedürftigkeit auch
vorliegen, wenn sich eine auf entsprechende Krankheitsbilder spezialisierte
Klinik zur Überwachung besonderer Techniken bedient (a.a.O., I 373/92,
E. 3b/cc).

2.2.2 Die Vorinstanz hat in den Erwägungen des angefochtenen Entscheides für
das Bundesgericht nach Art. 105 BGG sachverhaltlich grundsätzlich verbindlich
festgestellt, dass bis zum massgeblichen Zeitpunkt des Verfügungserlasses
kein Zwischenfall mit Selbst- oder Fremdgefährdung der Beschwerdegegnerin zu
verzeichnen war; dass diese Haus oder Heim nicht alleine verlässt; dass für
einen abgerundeten und reibungslosen Ablauf der Verrichtungen eine
regelmässige Überprüfung und Unterstützung sowie ein nicht unbeachtlicher
Kontroll- und Hilfsbedarf erforderlich sind; dass unter anderen als
Heimverhältnissen mehrfach am Tag Überwachungsbedarf besteht.

2.2.3 Aus diesen Sachverhaltsfeststellungen ergibt sich keine
Überwachungsbedürftigkeit in dem in E. 2.2.1 dargelegten Sinne: Es handelt
sich nicht um eine medizinische und pflegerische Hilfeleistung, sondern eher
um eine Überwachungsbedürftigkeit im Sinne einer bloss allgemeinen Aufsicht,
wie sie in einem Heim üblich ist. Die Vorinstanz scheint denn von einem
unzutreffenden Rechtsbegriff der Überwachungsbedürftigkeit auszugehen, wenn
sie die Bedarfssituation auf die Bewältigung des Alltags bezieht (so in
E. 2c). Solche Bedürfnisse werden aber im Rahmen der Hilfe zu alltäglichen
Lebensverrichtungen (Art. 37 Abs. 3 lit. a IVV) berücksichtigt. Andernfalls
wären praktisch alle Heimbewohner automatisch überwachungsbedürftig und
würden damit das in Art. 37 Abs. 3 lit. b IVV aufgestellte Kriterium
erfüllen, was der Rechtsprechung zuwiderläuft. Eine anspruchsrelevante
pflegerische oder medizinische Überwachungsbedürftigkeit ergibt sich hingegen
aus den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen nicht. Eine Eigen- oder
Fremdgefährdung wird in E. 3g verneint, und Panikattacken werden zwar in den
Akten bisweilen erwähnt, aber von der Vorinstanz jedenfalls nicht in einer
derartigen Häufigkeit festgestellt, dass deswegen eine dauernde Überwachung
erforderlich wäre. Zwar wurde mit Urteil I 104/01 vom 15. Dezember 2003,
E. 4.1.2, eine dauernde Überwachung bejaht, wenn beim Essen und auch sonst
jemand neben der Versicherten sitzen muss, um zu kontrollieren, dass sie
nicht zu viel isst. Die Vorinstanz hat jedoch (im Zusammenhang mit der
Hilfsbedürftigkeit im Bereich Essen) festgestellt, dass diesbezüglich nur
gelegentliche Hinweise erforderlich sind, was keine dauernde Überwachung
darstellt. Dass die Beschwerdegegnerin das Heim nicht ohne Begleitung
verlässt und auch sonst nicht alleine unterwegs ist, ist bereits bei der
Hilfsbedürftigkeit im Bereich Fortbewegung/Kontaktaufnahme berücksichtigt und
kann es nicht bei der Überwachungsbedürftigkeit nochmals werden (Urteil vom
12. November 2002, I 108/01, E. 4.2).

3.
Dem Prozessausgang entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 18. Juli 2007 aufgehoben.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Sache wird zum Entscheid über das vorinstanzlich gestellte Gesuch um
unentgeltliche Prozessführung an das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen zurückgewiesen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 31. Januar 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz