Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 602/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_602/2007

Urteil vom 11. April 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Seiler,
Gerichtsschreiber Maillard.

Parteien
B.________, 1975, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Hans Stünzi,
Seestrasse 162a, 8810 Horgen,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 19. Juni 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 24. September 2004 (bestätigt durch Einspracheentscheid vom
26. November 2004) sprach die IV-Stelle des Kantons Zürich B.________, geboren
1975, ab Juli 2004 bei einem Invaliditätsgrad von 69 % eine Dreiviertelsrente
der Invalidenversicherung zu. Im Rahmen eines Revisionsverfahrens machte
B.________ im Herbst 2005 eine Verschlimmerung des Gesundheitszustandes
geltend, worauf die Psychiatrische Privatklinik Sanatorium X.________
(nachfolgend Sanatorium) am 3. November 2005 einen Verlaufsbericht erstattete.
Gestützt auf eine Stellungnahme des Regionalen ärztlichen Dienstes (RAD) lehnte
es die IV-Stelle mit Verfügung vom 27. Januar 2006 ab, die Rente zu erhöhen,
woran sie mit Einspracheentscheid vom 10. Mai 2006 festhielt.

B.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die hiegegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 19. Juni 2007 ab.

C.
B.________ lässt Beschwerde führen und beantragen, in Aufhebung des
angefochtenen Entscheids sei ihr ab September 2005, eventuell ab 1. Juli 2006,
eine ganze Rente zuzusprechen. Weiter ersucht sie um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde, während das Bundesamt für
Sozialversicherungen auf eine Stellungnahme verzichtet.

D.
Mit Verfügung vom 8. November 2007 wies das Bundesgericht das Gesuch von
B.________ um unentgeltliche Rechtspflege mangels Bedürftigkeit ab.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann nach Art. 95
lit. a BGG die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden. Das Bundesgericht legt
seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat
(Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von
Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG).

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf eine höhere
als eine Dreiviertelsrente hat. Im Einspracheentscheid, auf den das kantonale
Gericht in diesem Zusammenhang verweist, werden die zur Beurteilung dieser
Streitfrage einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt. Darauf wird
verwiesen. Zu ergänzen ist, dass der Revisionsordnung nach Art. 17 ATSG der
Grundsatz vorgeht, dass die Verwaltung befugt ist, jederzeit von Amtes wegen
auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide, welche nicht
Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung gebildet haben,
zurückzukommen, wenn sie zweifellos unrichtig sind und ihre Berichtigung von
erheblicher Bedeutung ist (Art. 53 Abs. 2 ATSG). Unter diesen Voraussetzungen
kann die Verwaltung eine Rentenverfügung auch dann abändern, wenn die
Revisionsvoraussetzungen des Art. 17 ATSG nicht erfüllt sind. Wird die
zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung erst vom Gericht
festgestellt, so kann es die auf Art. 17 ATSG gestützte Revisionsverfügung mit
dieser substituierten Begründung schützen (BGE 125 V 368 E. 2 S. 369).

3.
Es stellt sich zunächst die Frage, ob sich der Gesundheitszustand seit der
ursprünglichen Rentenzusprechung verschlechtert hat oder nicht.

3.1 Die Beschwerdeführerin stützt sich zur Bejahung dieser Frage einerseits auf
die Berichte des Sanatoriums vom 3. November 2005, 13. Dezember 2005, 20.
Februar 2006 sowie 7. September 2006 und anderseits auf den erst
letztinstanzlich eingereichten Bericht des behandelnden Psychiaters, Dr. med.
S.________, vom 8. September 2007. Dieses neue Beweismittel ist unzulässig,
legt doch die Beschwerdeführerin nicht dar, inwiefern erst der angefochtene
Entscheid dazu Anlass gab (Art. 99 Abs. 1 BGG). Aus den anderen Berichten geht
entgegen der Auffassung der Versicherten nicht hervor, dass sich der
Gesundheitszustand verändert hat. Werden die Berichte der Psychiatrischen
Klinik (PUK) vom 22. April 2004 und des Sanatoriums vom 29. September 2004 mit
denjenigen zum Zeitpunkt des Einspracheentscheides verglichen, ergibt sich ein
nahezu identisches Beschwerdebild. Polytoxikomanie und Essstörungen blieben
unverändert. Im Bericht des Sanatoriums vom 29. September 2004 wird ein
Verdacht auf eine Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.6) gestellt, in der
Differentialdiagnose jedoch eine kombinierte Persönlichkeitsstörung (emotional
instabil/ängstlichvermeidend) festgehalten, was ICD-10: F61.0 entspricht. Im
Verlaufsbericht des Sanatoriums vom 3. November 2005 wird die
Differentialdiagnose bestätigt, indem eine kombinierte Persönlichkeitsstörung
mit emotional instabilen sowie ängstlichen Persönlichkeitszügen (ICD-10: F61.0)
beschrieben wird. Steht fest, dass die Beschwerdeführerin bereits im September
2004 an einer Persönlichkeitsstörung litt, bei der lediglich die
Klassifizierung unklar war, kann - wie die Vorinstanz richtig erkannt hat - von
einer wesentlichen Veränderung des Gesundheitszustandes nicht die Rede sein.

4.
4.1 Die Invalidenrente ist jedoch nicht nur bei einer wesentlichen Veränderung
des Gesundheitszustandes, sondern auch dann revidierbar, wenn sich die
erwerblichen Auswirkungen des an sich gleich gebliebenen Gesundheitsschadens
erheblich verändert haben (BGE 130 V 343 E. 3.5 349 mit Hinweisen). Eine
psychiatrische Diagnose lässt für sich allein genommen keinen Schluss auf die
gesundheitlich bedingte Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit zu (vgl. BGE 132
V 65 E. 3.4 S. 69). Zu prüfen ist somit, ob sich der - gleich gebliebene -
Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin gegenüber früher einschränkender auf
die berufliche Leistungsfähigkeit auswirkt. Die Vorinstanz verneint auch dies
mit der Begründung, bereits früher habe der RAD abweichend von der Einschätzung
der Ärzte des Sanatoriums die Beschwerdeführerin als noch zu 50 % arbeitsfähig
beurteilt. Die darauf gestützte Verfügung vom 24. September 2004 sei in
Rechtskraft erwachsen und die ihr zu Grunde liegende Beurteilung der damaligen
Restarbeitsfähigkeit könne im vorliegenden Verfahren nicht mehr in Frage
gestellt werden.

4.2 Die behandelnden Ärzte des Sanatoriums und des PUK hatten der Versicherten
in der Tat bereits früher eine 100%-ige Arbeitsunfähigkeit attestiert. Gestützt
auf die Stellungnahmen des RAD vom 29. Juni 2004 und 25. November 2004 wurde
der ursprünglichen Rentenzusprache vom 24. September 2004 und dem
Einspracheentscheid vom 26. November 2004 jedoch - davon erheblich - abweichend
eine Arbeitsfähigkeit von 50 % zu Grunde gelegt. Zu beachten ist aber
einerseits, dass die Stellungnahme des RAD vom 29. Juni 2004 trotz
entsprechender gerichtlicher Aufforderung von der IV-Stelle nicht ediert werden
konnte, da sie in den Akten nicht mehr auffindbar war. Der Bericht des RAD vom
25. November 2004 enthält anderseits keine Begründung, weshalb hinsichtlich der
Arbeitsfähigkeit derart massiv von der Auffassung der behandelnden Ärzte
abgewichen wurde.

4.3 Die ursprüngliche Rentenzusprechung beruht daher - was das kantonale
Gericht übersehen hat - auf einer nicht nachvollziehbaren Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit. Daher ist aber auch nicht feststellbar, ob sich seither die
Arbeitsfähigkeit und der Invaliditätsgrad verändert haben. Damit fällt die von
der Vorinstanz übernommene Argumentation der IV-Stelle in sich zusammen.

5.
5.1 Es stellt sich die weitere Frage, welche rechtlichen Auswirkungen die
festgestellte Mangelhaftigkeit der ursprünglichen Verfügung auf das
Revisionsverfahren hat. Wie in E. 2 dargelegt, kann das Gericht bei
festgestellter zweifelloser Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenverfügung
die auf Art. 17 ATSG gestützte Revisionsverfügung mit dieser substituierten
Begründung schützen. Zwar ist diese Rechtsprechung in erster Linie für Fälle
gedacht, in denen sich die Unrichtigkeit der ursprünglichen Verfügung zu
Ungunsten des Versicherten (Herabsetzung oder Aufhebung der Rente) auswirkt.
Wenn aber - wie hier - infolge Mangelhaftigkeit der ursprünglichen
Rentenverfügung erst gar nicht überprüft werden kann, ob sich seither der
Invaliditätsgrad erheblich verändert hat, muss es in analoger Anwendung der
genannten Rechtsprechung auch möglich sein, die Rentenverfügung zu Gunsten
eines Versicherten abzuändern, selbst wenn die Revisionsvoraussetzungen nicht
nachzuweisen sind. Hierin liegt keine gerichtliche Verpflichtung der
Verwaltung, ihre Verfügung in Wiedererwägung zu ziehen, was
rechtsprechungsgemäss unzulässig wäre (BGE 133 V 50 E. 4.2.1 S. 54). Vielmehr
wird damit lediglich der - wie hier der Fall - fehlenden Nachvollziehbarkeit
der ursprünglichen Rentenzusprechung Rechnung getragen. Diesen Umstand hat
nicht die versicherte Person zu vertreten, ansonsten ihr Anspruch auf
revisionsrechtliche (Art. 17 ATSG) Rentenerhöhung dann beeinträchtigt oder gar
vereitelt würde, wenn eine - gerichtliche - Beurteilung, ob die
Revisionsvoraussetzungen tatsächlich eingetreten sind, infolge der Mängel des
früheren Verwaltungsaktes von vornherein nicht möglich ist.

5.2 Kann mangels nachvollziehbarer Arbeitsfähigkeitsbeurteilung zum Zeitpunkt
der ursprünglichen Rentenzusprache kein Vergleich mit der beruflichen
Leistungsfähigkeit zum Zeitpunkt des Revisionsentscheides vom 10. Mai 2006
gezogen werden, ist darauf abzustellen, wie sich die Arbeitsfähigkeit in diesem
Zeitpunkt präsentierte.

5.3 Die Ärzte des Sanatoriums gehen in den neueren Berichten nach wie vor von
einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit aus. Allein, wegen der Verschiedenheit
von Behandlungs- und Begutachtungsauftrag kann im Streitfall regelmässig nicht
auf die Sicht des behandelnden (Fach-) Arztes abgestellt werden (vgl. statt
vieler: Urteil K. vom 5. Januar 2007, I 701/05, E. 2 in fine mit zahlreichen
Hinweisen). Demgegenüber vermag die von den behandelnden Fach-Ärzten des
Sanatoriums abweichende Einschätzung des RAD vom 16. Januar 2006 schon deshalb
ihrerseits nicht zu überzeugen, weil dort lediglich auf die früheren nicht
nachvollziehbaren Beurteilungen verwiesen wird. Im Übrigen beruht sie nicht auf
einer psychiatrisch-spezialärztlichen Grundlage (vgl. Urteil vom 20. November
2007, I 142/07, E. 3.2.3 mit weiteren Hinweisen).

5.4 Die Aktenlage reicht zusammenfassend nicht aus, die erforderlichen
Feststellungen zur im Revisionszeitpunkt noch vorhandenen Restarbeitsfähigkeit
in leidensangepassten Tätigkeiten treffen zu können, weshalb die Sache zur
Einholung einer Expertise an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen ist.

6.
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdegegnerin als unterliegender Partei
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 19. Juni 2007 und der
Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 10. Mai 2006 werden
aufgehoben. Es wird die Sache an die IV-Stelle des Kantons Zürich
zurückgewiesen, damit sie nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen über
die Einsprache neu entscheide. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Schweizerischen Gewerbes und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 11. April 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Maillard