Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 599/2007
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9C_599/2007

Urteil vom 18. Dezember 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella, Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Schmutz.

1.  CSS Kranken-Versicherung AG, Tribschen-   strasse 21,
6005 Luzern,

2. A.________ AG,
Beschwerdeführerinnen,
beide vertreten durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Tomas Poledna, Mühlebachstrasse
32, 8008 Zürich,

gegen

Bundesamt für Gesundheit, Kranken- und Unfallversicherung,
Schwarzenburgstrasse 165, 3003 Bern,
Beschwerdegegner.

Krankenversicherung,

Beschwerde gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Juli 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Eingaben vom 27. Juli 2006 reichten die zur Durchführung der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung zugelassenen Krankenkassen CSS
Kranken-Versicherung AG, Luzern, und A.________ AG, beim Bundesamt für
Gesundheit (nachfolgend: BAG, Bundesamt) das Gesuch um Genehmigung der
Prämientarife 2007 der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
(nachfolgend: OKP) ein. Beide hielten sich bei der Prämiengestaltung für die
gesetzlich geregelten besonderen Versicherungsformen mit eingeschränkter Wahl
der Leistungserbringer und mit Wahl einer höheren Franchise (Art. 62 Abs. 1
und 2 KVG) nicht an die Reihenfolge der Prämienermässigungen gemäss lit. c
und d der vom Bundesrat mit Verordnungsänderung vom 26. April 2006
eingefügten Vorschrift in Art. 90b KVV.

Das BAG forderte die beiden Versicherer erfolglos zur Einreichung
verordnungskonform angepasster Prämientarife auf. Am 29. September 2006
verfügte es, einzelne - im Anhang zur Prämientarifgenehmigung grau
hinterlegte - OKP-Tarife würden nicht genehmigt. Einer allfälligen Beschwerde
entzog es die aufschiebende Wirkung. Zur Begründung wies es darauf hin, mit
der Verordnungsänderung vom 26. April 2006 habe der Bundesrat im öffentlichen
Interesse den Spielraum der Krankenversicherer eingeschränkt, um so die
Transparenz gegenüber den Versicherten und die Gleichbehandlung unter den
Versicherern sicherzustellen.

B.
Die CSS und die A.________ AG erhoben gegen die Verfügung vom 29. September
2006 beim Eidgenössischen Departement des Innern Beschwerde. Sie beantragten
die Festsetzung der Prämientarife so, wie sie am 27. Juli 2006 beim BAG
eingegeben wurden; es sei festzustellen, dass für Art. 89 ff. KVV bezüglich
der Prämienreihenfolge eine formell-gesetzliche Grundlage fehle; der
Beschwerde sei erneut aufschiebende Wirkung zuzuerkennen; als vorsorgliche
Massnahme seien die im Anhang der Verfügung grau hinterlegten Tarife zu
genehmigen.

C.
Am 12. Dezember 2006 erteilte das BAG in seiner Funktion als Aufsichtsbehörde
über die zum Betrieb der OKP zugelassenen Krankenversicherer beiden
Versicherern in Verfügungsform Weisung zur Mitteilung und Anwendung der
Wohnortsprämien 2007.

D.
Mit Verfügung vom 4. Januar 2007 überwies das Eidgenössische Departement des
Innern die Beschwerde vom 1. November 2006 zuständigkeitshalber dem
Bundesverwaltungsgericht.

E.
Die CSS und die A.________ AG erhoben auch gegen die Weisung des BAG vom
12. Dezember 2006 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht und beantragten
deren Aufhebung.

F.
Mit Entscheid vom 7. März 2007 wies das Bundesverwaltungsgericht die Gesuche
um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der beiden Beschwerden
beziehungsweise um Erlass entsprechender vorsorglicher Massnahmen ab.

Soweit es darauf eintrat, wies das Bundesgericht die gegen diesen Entscheid
eingereichte Beschwerde mit Urteil vom 1. Mai 2007 ab.

G.
Mit Entscheid vom 10. Juli 2007 wies das Bundesverwaltungsgericht die
Beschwerden gegen die Verfügungen vom 29. September 2006 und die Weisung vom
12. Dezember 2006 ab.

H.
CSS und A.________ AG lassen Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten erheben mit dem Antrag auf Aufhebung des Entscheides des
Bundesverwaltungsgerichts.

Die Vorinstanz verzichtet auf Vernehmlassung; das BAG schliesst auf Abweisung
der Beschwerde.

Erwägungen:

1.
1.1 Gemäss Art. 61 Abs. 5 KVG erfolgt die Genehmigung der Prämientarife durch
den Bundesrat, der diese Kompetenz in Art. 92 KVV an das Bundesamt delegiert
hat. Dessen Verfügungen sind beim Bundesverwaltungsgericht anfechtbar (Art.
33 lit. d des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das
Bundesverwaltungsgericht [Verwaltungsgerichtsgesetz, VGG]). Die Regelung in
Art. 82 lit. a BGG, wonach das Bundesgericht Beschwerden gegen Entscheide in
Angelegenheiten des öffentlichen Rechts beurteilt, umfasst - anders als
vormals die Art. 99 Abs. 1 lit. b und Art. 129 Abs. 1 lit. b OG (vgl. dazu
BGE 131 V 66 E. 4 S. 70 ff., 126 V 344 E. 1 S. 345, 116 V 130 E. 2 S. 133 f.)
- auch Entscheide betreffend Tarifgenehmigung. Da auch keine Ausnahme gemäss
Art. 83 lit. r BGG in Verbindung mit Art. 34 VGG gegeben ist, ist die
Beschwerde zulässig.

1.2 Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es ist weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch
an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem
anderen als dem angerufenen Grund gutheissen oder mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 133 II 249
E. 1.4.1 S. 254). Es prüft jedoch die Verletzung von Grundrechten und von
kantonalem und interkantonalem Recht nur insofern, als eine solche Rüge in
der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).

2.
Der Versicherer legt die Prämien für seine Versicherten fest (Art. 61 Abs. 1
KVG). Die Prämientarife der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
unterliegen der Genehmigung (Art. 61 Abs. 5 KVG). Das Gesetz enthält keine
ausdrücklichen Kriterien für die Genehmigung. Auf Grund des
Legalitätsprinzips (Art. 5 Abs. 1 BV) versteht es sich aber von selbst, dass
die Genehmigung nicht im freien Ermessen des Bundesamtes liegt, sondern nur
dem Zweck dient, die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen zu
gewährleisten, namentlich der Bestimmungen über die Prämiengestaltung (Art.
61-62 KVG, 89-101a KVV). Dabei hat das Bundesamt einen gewissen Ermessens-
und Beurteilungsspielraum; das Bundesgericht überprüft nicht das Ermessen
(Art. 95 BGG) und auch die Handhabung von Beurteilungsspielräumen nur mit
Zurückhaltung (BGE 131 V 66 E. 5.2.2 S. 74 f. mit Hinweisen). Es prüft aber
frei, ob die Entscheidung des Bundesamtes auf einer richtigen Anwendung von
Bundesrecht beruht (Art. 95 lit. a BGG).

3.
Das Bundesamt hat die Nicht-Genehmigung einzelner OKP-Tarife einzig damit
begründet, dass die Reihenfolge der Prämienreduktionen gemäss Art. 90b KVV
nicht eingehalten sei, mithin mit einer vom Bundesgericht frei überprüfbaren
rechtlichen Argumentation. Die Beschwerdeführerinnen bestreiten die
Gesetzmässigkeit von Art. 90b KVV. Diese Frage ist unerheblich, wenn sich
zeigt, dass die Reihenfolge der Prämienermässigungen bei richtiger Anwendung
der massgebenden Bestimmungen gar keinen Einfluss auf das Ergebnis hat.

4.
Umstritten ist einzig die Reihenfolge der Ermässigung für die Versicherungen
mit wählbarer Franchise und bei eingeschränkter Wahl der Leistungserbringer
(Art. 90b lit. c und d KVV).

4.1 Die Prämienreduktion für die wählbare Franchise darf pro Kalenderjahr
nicht höher sein als 80 Prozent des mit der Wahl der höheren Franchise
übernommenen Risikos, sich an den Kosten zu beteiligen (Art. 95 Abs. 2bis
KVV). Diese Reduktion bemisst sich somit nicht in Prozenten, sondern in
Franken. Die Prämienreduktion für die eingeschränkte Wahl der
Leistungserbringer darf, sofern noch keine Erfahrungszahlen von mindestens
fünf Rechnungsjahren vorliegen, höchstens 20 Prozent unter den Prämien der
ordentlichen Versicherung des betreffenden Versicherers liegen (Art. 101 Abs.
3 KVV). Diese Reduktion bemisst sich somit nicht in Franken, sondern in
Prozenten.

4.2 Die Beschwerdeführerinnen haben von der Grundprämie (für die jeweilige
Region und Altersgruppe; vgl. Art. 90b lit. a und b KVV) zunächst eine
prozentuale Ermässigung für die eingeschränkte Wahl der Leistungserbringer
abgezogen. Vom resultierenden Betrag haben sie alsdann die frankenmässige
Ermässigung für die höhere Franchise abgezogen. Das Bundesamt reduziert
demgegenüber gemäss der Reihenfolge von Art. 90b KVV zunächst die Grundprämie
um die frankenmässige Ermässigung für die höhere Franchise. Vom
resultierenden Betrag zieht es eine prozentuale Ermässigung für die
eingeschränkte Wahl der Leistungserbringer ab. Es geht dabei implizit davon
aus, dass der Prozentabzug gemäss Art. 101 Abs. 3 KVV sich auf die bereits um
den Franchisenrabatt reduzierte Prämie bezieht; dementsprechend ist die
Ermässigung für die eingeschränkte Wahl der Leistungserbringer bei höherer
Franchise frankenmässig geringer als bei tieferer Franchise.

4.3 Nach Art. 101 Abs. 3 KVV darf die Prämie für die Versicherung mit
eingeschränkter Wahl der Leistungserbringer um höchstens 20 % unter den
Prämien der "ordentlichen Versicherung" des betreffenden Versicherers liegen
(franz.: "de l'assurance ordinaire"; ital.: "dell'assicurazione ordinaria").
Aus Wortlaut und Systematik der KVV geht klar hervor, dass die "ordentliche
Versicherung" diejenige ist, bei welcher Prämienregion und Altersgruppe
berücksichtigt, aber keine besonderen Versicherungsformen (Art. 62 KVG und
Art. 93-101a KVV) gewählt werden (Art. 90c Abs. 1, Art. 93 Abs. 1 und Art. 95
Abs. 1 KVV), also eine Versicherung, bei welcher weder eine erhöhte Franchise
noch eine eingeschränkte Wahl des Leistungsbringers gilt. Die Prämie für die
Versicherung mit erhöhter Franchise wird ausgehend von der Prämie der
ordentlichen Versicherung berechnet (Art. 95 Abs. 1 KVV) und kann somit nicht
selber eine Prämie der ordentlichen Versicherung darstellen. Wenn in Art. 101
Abs. 3 KVV die Prämienermässigung auf maximal 20 % der Prämie für die
ordentliche Versicherung begrenzt wird, so sind damit 20 % der Prämie für die
Versicherung mit der gesetzlichen Jahresfranchise gemeint, und nicht 20 % der
bereits nach Art. 95 KVV reduzierten Prämie. Bei dieser rechtlichen
Ausgangslage spielt die Reihenfolge der Prämienreduktionen nach lit. c und d
von Art. 90b KVV keine Rolle: Die maximal zulässige prozentuale Ermässigung
nach Art. 101 Abs. 3 KVV bemisst sich unabhängig von der Wahl der Franchise
in Prozenten der Prämie für die Versicherung mit gesetzlicher Franchise und
ist frankenmässig (für eine bestimmte Prämienregion und Altersgruppe) immer
gleich gross.

4.4 Das Bundesamt befürchtet beim Vorgehen der Beschwerdeführerinnen eine
unerwünschte Entsolidarisierung, da vor allem jüngere und gesunde Personen
eine erhöhte Jahresfranchise wählen. Diesem Aspekt wird jedoch system- und
gesetzeskonform (vgl. RKUV 2003 Nr. KV 249 S. 213 E. 4 [K 121/02]) im Rahmen
von Art. 95 KVV Rechnung getragen, indem die Prämienreduktion infolge
erhöhter Franchise maximal 80 % der Risikoreduktion betragen darf. Damit ist
eine Solidaritätskomponente zu Gunsten derjenigen Personen verbunden, welche
nicht die erhöhte Franchise wählen. Diesen Aspekt zusätzlich noch bei der
Prämienreduktion für eingeschränkte Wahl der Leistungserbringer zu
berücksichtigen, wäre systemfremd und kann jedenfalls kein Grund sein, um von
Wortlaut und Systematik der Verordnung abzuweichen.

4.5 Das Vorgehen des Bundesamtes, die zulässige Prämienermässigung für die
eingeschränkte Wahl der Leistungserbringer in Prozenten der bereits auf Grund
des Franchisenrabatts reduzierten Prämie zu berechnen und nicht in Prozenten
der Prämie für die ordentliche Versicherung, verstösst nach dem Dargelegten
gegen Art. 101 Abs. 3 KVV.

5.
5.1 Die Vorinstanzen haben die Nicht-Genehmigung einzig mit dem nach dem
Gesagten nicht massgeblichen Argument begründet, die Reihenfolge der
Ermässigungen sei nicht eingehalten. Weitere Gründe, die gegen die von den
Beschwerdeführerinnen vorgesehene Ermässigung sprechen, werden nicht geltend
gemacht und sind nicht ersichtlich. Die Beschwerde ist damit im Ergebnis
begründet.

5.2 Die Beschwerdeführerinnen haben in ihrem Rechtsbegehren nur die Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheids beantragt, nicht aber die Genehmigung des
Prämientarifs. Da es sich bei der (teilweisen) Nicht-Genehmigung des Tarifs
um eine negative Verfügung handelt, wird durch die Aufhebung des
angefochtenen Entscheids nicht automatisch der Prämientarif genehmigt. Das
Bundesgericht kann seinerseits nicht über die Anträge der
Beschwerdeführerinnen hinausgehen (Art. 107 Abs. 1 BGG) und daher nicht
selber die Genehmigung der streitigen Tarife aussprechen. Die Sache ist daher
an das Bundesamt zurückzuweisen (Art. 107 Abs. 2 Satz 2 BGG), damit es im
Sinne der Erwägungen über die streitigen Tarife neu entscheide.

6.
Das Bundesamt, welches nicht in seinem Vermögensinteresse handelt, trägt
keine Kosten (Art. 66 Abs. 4 BGG). Es hat jedoch den Beschwerdeführerinnen
eine Parteientschädigung für das Verfahren vor beiden Gerichtsinstanzen zu
bezahlen (Art. 64 VwVG; Art. 68 Abs. 2 BGG), wobei das Bundesgericht auch die
Kosten für das Verfahren vor der Vorinstanz festlegen kann (Art. 68 Abs. 5
BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts
vom 10. Juli 2007 und die Verfügungen des Bundesamtes für Gesundheit vom
29. September 2006 (soweit darin die Prämientarife der Beschwerdeführerinnen
nicht genehmigt werden) und 12. Dezember 2006 (soweit die Prämien betreffend)
werden aufgehoben. Die Sache wird an das Bundesamt für Gesundheit
zurückgewiesen, damit es über die Prämientarife im Sinne der Erwägungen neu
entscheide.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Schweizerische Eidgenossenschaft hat die Beschwerdeführerinnen für das
Verfahren vor Bundesverwaltungsgericht und vor Bundesgericht mit insgesamt
Fr. 7000.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesverwaltungsgericht und dem
Eidgenössischen Departement des Innern schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 18. Dezember 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz