Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 555/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_555/2007

Urteil vom 6. Mai 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Nussbaumer.

Parteien
L.________, 1973, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom
10. August 2007.

Sachverhalt:

A.
L.________ (geboren 1973) war vom 11. April 2000 bis 31. März 2002 bei der
Firma T.________ AG zunächst als Packerin, anschliessend als Näherin tätig.
Nach einem Verhebetrauma im April 2001 war sie wegen Rückenschmerzen vom 6.
April bis 26. Juni 2001 zu 100 % arbeitsunfähig, anschliessend zu 50 %
arbeitsunfähig und ab 12. Oktober 2001 wiederum vollständig arbeitsunfähig. Am
13. Mai 2002 meldete sie sich zum Rentenbezug bei der Invalidenversicherung an.
Die IV-Stelle Luzern nahm medizinische und wirtschaftliche Abklärungen vor. Am
16. August 2002 erlitt L.________ bei einem Auffahrunfall eine leichtgradige
HWS-Distorsion. Die IV-Stelle holte daraufhin zusätzlich die Akten bei der SUVA
ein, veranlasste eine Abklärung der Arbeitsfähigkeit bei der beruflichen
Abklärungsstelle Stiftung X.________ (Bericht vom 12. März 2004), zog das von
der SUVA in Auftrag gegebene Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle
Klinik B.________ (MEDAS) vom 7. März 2005 und eine Stellungnahme des
Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) bei. Mit Verfügung vom 4. Oktober 2005
wies sie das Leistungsbegehren ab, da keine Invalidität vorliege. Daran hielt
sie mit Einspracheentscheid vom 3. März 2006 fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher u.a. die Durchführung einer
öffentlichen Verhandlung beantragt wurde, wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Luzern mit Entscheid vom 10. August 2007 ab.

C.
L.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, die Sache zur
Durchführung einer öffentlichen Verhandlung an die Vorinstanz zurückzuweisen
und ihr ab 1. März 2002 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen.
Die IV-Stelle Luzern schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 130 III 136
E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der
allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG),
grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel
nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann deren
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn
sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Eine unvollständige
Sachverhaltsfeststellung stellt eine vom Bundesgericht ebenfalls zu
korrigierende Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 lit. a BGG dar (Seiler/von
Werdt/Güngerich, Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, Bern 2007 N 24 zu Art.
97).

2.
Das Bundesgericht entscheidet kassatorisch oder reformatorisch (Art. 107 Abs. 2
BGG). Die Beschwerdeführerin beantragt einerseits die Aufhebung des
angefochtenen Entscheids und die Rückweisung der Sache an das kantonale Gericht
zur Durchführung einer öffentlichen Verhandlung, anderseits die Zusprechung
einer ganzen Invalidenrente. Diese beiden Anträge sind als Hauptbegehren
miteinander nicht vereinbar. Aus der Beschwerdebegründung geht jedoch hervor,
dass der kassatorische Rückweisungsantrag das Hauptbegehren, der
reformatorische Antrag auf Zusprechung einer Invalidenrente hingegen ein
Eventualantrag ist.

3.
Die Beschwerdeführerin macht im Hauptstandpunkt zulässigerweise (Art. 95 lit. b
BGG) geltend, das kantonale Gericht habe Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt.

3.1 Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in
billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem
unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das
über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die
Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden
hat (Satz 1). Diese Konventionsbestimmung impliziert ein Recht auf eine
mündliche Verhandlung und umfasst insbesondere den Anspruch des Einzelnen,
seine Argumente dem Gericht mündlich in einer öffentlichen Sitzung vortragen zu
können (BGE 122 V 47 E. 2c S. 51; SVR 2006 IV Nr. 1 E. 3.3). Bei einem Prozess
über eine Rente der Invalidenversicherung handelt es sich um eine Streitigkeit
über einen zivilrechtlichen Anspruch im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (BGE 125
V 499 E. 2a S. 501, 122 V 47 E. 2a S. 50 mit Hinweisen; SVR 2006 IV Nr. 1 E.
3.3). Ferner liegt auch ein rechtzeitig gestellter, unmissverständlicher Antrag
auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung vor (BGE 122 V 47 E. 3b/bb S.
56).

3.2 Nach der Rechtsprechung (vgl. SVR 2006 IV Nr. 1 E. 3.6) stellen folgende
Situationen besondere Umstände dar, unter denen im erstinstanzlichen
Sozialversicherungsprozess trotz Nichterfüllung der im zweiten Satz von Art. 6
Ziff. 1 EMRK aufgezählten Ausnahmetatbestände und trotz Vorliegens eines
Gesuchs um Durchführung einer öffentlichen Verhandlung von der Anordnung einer
solchen abgesehen werden kann: Der Antrag wurde nicht frühzeitig genug
gestellt; der Antrag erscheint als schikanös oder lässt auf eine
Verzögerungstaktik schliessen und läuft damit dem Grundsatz der Einfachheit und
Raschheit des Verfahrens zuwider oder ist gar rechtsmissbräuchlich; es lässt
sich auch ohne öffentliche Verhandlung mit hinreichender Zuverlässigkeit
erkennen, dass eine Beschwerde offensichtlich unbegründet oder unzulässig ist;
es steht eine Materie hochtechnischen Charakters zur Diskussion, worunter etwa
rein rechnerische, versicherungsmathematische oder buchhalterische Probleme zu
verstehen sind, nicht aber in der Regel andere dem Sozialversicherungsprozess
inhärente Themen wie etwa die Würdigung medizinischer Gutachten; das Gericht
gelangt auch ohne öffentliche Verhandlung schon allein aufgrund der Akten zum
Schluss, dass dem materiellen Rechtsbegehren der die Verhandlung beantragenden
Partei zu entsprechen ist (BGE 122 V 47 E. 3b S. 55-58; SVR 1996 KV Nr. 85 S.
271 E. 4c). Auch nach der Rechtsprechung fällt zugunsten der Durchführung einer
mündlichen Verhandlung ins Gewicht, wenn eine solche geeignet ist, zur Klärung
allfälliger noch streitiger Punkte beizutragen (vgl. BGE 122 V 47 E. 4c S. 59
und Urteil H. vom 13. Februar 2001, I 264/99, E. 2b).

3.3 Das kantonale Gericht hat von einer Verhandlung abgesehen mit dem Argument,
eine solche vermöchte an der offensichtlichen Unbegründetheit der gestellten
Anträge nichts zu ändern. Zudem sei fraglich, ob die beantragte Verhandlung mit
dem Grundsatz der Einfachheit und Raschheit vereinbar wäre.
3.3.1 Die Rechtsprechung lässt ein Absehen von einer öffentlichen Verhandlung
wegen offensichtlicher Unbegründetheit oder Unzulässigkeit nur zurückhaltend zu
(BGE 122 V 47 E. 3b/dd S. 56; Urteil B. vom 19. Oktober 2004, 1A.120/2004 E.
2.5). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt, umso mehr als das
kantonale Gericht hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit der Auffassung der
IV-Stelle nicht fraglos gefolgt ist (vgl. Urteil B. vom 18. April 2007, I 98/
07, E. 4.2.1).
3.3.2 Hingegen lässt die Rechtsprechung des EGMR und des Bundesgerichts ein
Absehen von einer öffentlichen Verhandlung zu, wenn die Beurteilung eines
umstrittenen Sachverhalts nicht vom persönlichen Eindruck der Partei, sondern
in erster Linie von den Akten abhängt (Urteil EGMR in Sachen Jussila vom 23.
November 2006 Nr. 73053/01 Ziff. 41 mit Hinweis; in SVR 2006 BVG Nr. 19
publizierte E. 3.2.1 von BGE 132 V 127; Urteil vom 31. März 2006, 4A.1/2006 E.
2.1). Das trifft insbesondere weitgehend für die Beurteilung der
medizinisch-technischen Arbeitsfähigkeit im Rahmen von
sozialversicherungsrechtlichen Verfahren zu (Urteil EGMR in Sachen Döry vom 12.
November 2002, Nr. 28394/95 Ziff. 41): Das aus medizinischen Laien bestehende
Gericht ist nicht in der Lage, aus dem persönlichen Eindruck der Partei eine
verlässlichere Beurteilung zu gewinnen als aus dem Studium der medizinischen
Akten.
3.3.3 Anders verhält es sich, wenn nicht von vornherein unerhebliche
Beweismassnahmen beantragt werden, die naturgemäss nur in einer Verhandlung
durchgeführt werden können, wie Zeugen- oder Parteieinvernahmen (SVR 2006 IV
Nr. 1 E. 3.5.3 und E. 3.8; vgl. auch erwähntes Urteil I 98/07 E. 4.2.1). Das
ist hier aber nicht der Fall: Die Beschwerdeführerin hat in der kantonalen
Beschwerde einerseits die Erstellung eines Gutachtens moniert und andererseits
die vorhandenen Akten gewürdigt, aber keine Beweismassnahmen beantragt, die nur
in einer Verhandlung durchgeführt werden können.
3.3.4 Schliesslich darf das Gericht namentlich im Sozialversicherungsrecht auch
dem Anliegen der Effizienz und Verfahrensbeschleunigung Rechnung tragen
(erwähntes Urteil EGMR Döry Nr. 28394/95 Ziff. 41). Die Tatsache, dass
vorliegend das kantonale Gerichtsverfahren ohnehin schon relativ lange gedauert
hat, ändert daran nichts: Müsste das Gericht in jedem Fall eine öffentliche
Verhandlung durchführen, würden sämtliche Verfahren noch weiter verzögert, was
dem generellen öffentlichen Interesse an einer speditiven Verfahrenserledigung
widersprche, auch wenn die Beschwerdeführerin selber für sich diese Verzögerung
in Kauf nähme.

3.4 Das Absehen von einer öffentlichen Verhandlung war somit zulässig.

4.
4.1 Das kantonale Gericht hat in pflichtgemässer Würdigung der gesamten
Aktenlage - im Wesentlichen gestützt auf das Gutachten der MEDAS vom 7. März
2005 - mit eingehender und nachvollziehbarer Begründung erkannt, dass die
Versicherte höchstens zu 20 % arbeitsunfähig sei und ihr eine Erwerbstätigkeit
in einer leidensangepassten Tätigkeit im Umfang von 80 % zugemutet werden
könne. Diese Schlussfolgerung ist nach der Aktenlage nicht offensichtlich
unrichtig. Die weitgehend appellatorischen Vorbringen in der Beschwerde
vermögen daran nichts zu ändern.

4.2 Auch der vom kantonalen Gericht vorgenommene Einkommensvergleich hält vor
Bundesrecht stand. Selbst wenn das unterdurchschnittliche Valideneinkommen
berücksichtigt wird, ergibt sich bei einer Arbeitsfähigkeit von 80 % in einer
Verweisungstätigkeit, mit welcher die Beschwerdeführerin anteilsmässig
mindestens so viel verdienen könnte wie in der bisherigen Tätigkeit als Näherin
mit einem sehr tiefen Lohn, kein rentenbegründender Invaliditätsgrad.

5.
Die Beschwerdeführerin hat als unterliegende Partei die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 6. Mai 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

i.V. Lustenberger Nussbaumer