Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 549/2007
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9C_549/2007

Urteil vom 7. März 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella, Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Schmutz.

L. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Hardy Landolt, Schweizerhofstrasse 14, 8750 Glarus,

gegen

Kantonale Ausgleichskasse Glarus, Zwinglistrasse 6, 8750 Glarus,
Beschwerdegegnerin.

Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus vom
27. Juni 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit rechtskräftigem Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus vom
23. August 2005 wurde L.________ verpflichtet, der Kantonalen Ausgleichskasse
Glarus Fr. 1'409.25 an zu viel bezogener Prämienverbilligung (gemäss
kantonalem Einführungsgesetz zum KVG, EG KVG) zurückzuerstatten. Mit
Verfügung vom 27. September 2005 und Einspracheentscheid vom 13. März 2006
wies die Ausgleichskasse ein Erlassgesuch von L.________ ab, da im EG KVG
keine Erlassmöglichkeit vorgesehen sei.

B.
L.________ erhob dagegen Beschwerde an das kantonale Verwaltungsgericht.
Dieses trat mit Entscheid vom 27. Juni 2007 auf das Rechtsmittel nicht ein.

C.
L.________ erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag, der Entscheid des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und es sei
festzustellen, dass ihm die Rückerstattung erlassen werde. Gleichzeitig
erhebt er subsidiäre Verfassungsbeschwerde mit dem Antrag, der Entscheid sei
aufzuheben und die Angelegenheit sei im Sinne der Erwägungen an das
Verwaltungsgericht zurückzuweisen. In beiden Verfahren beantragt er
unentgeltliche Rechtspflege.

Mit Verfügung vom 8. Januar 2008 weist das Bundesgericht das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege ab.

Auf die Durchführung eines Schriftenwechsels wird verzichtet.

Erwägungen:

1.
1.1 Der angefochtene Entscheid ist ein Endentscheid (Art. 90 BGG). Die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 lit. a BGG) ist
unabhängig davon zulässig, ob sich der angefochtene Entscheid auf Bundesrecht
oder auf kantonales Recht stützt. Der Ausnahmegrund von Art. 83 lit. m BGG
kommt nicht zum Tragen, da Rückerstattungsforderungen keine Abgaben im Sinne
dieser Bestimmung sind (Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz
[BGG], Bern 2007, N 85 zu Art. 83; Häberli, in: Basler Kommentar zum BGG,
Basel 2008, N 216 zu Art. 83; vgl. stillschweigend die Urteile 8C_1/2007 vom
11. Mai 2007 und 9C_14/2007 vom 2. Mai 2007). Die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist damit grundsätzlich zulässig. Für
die subsidiäre Verfassungsbeschwerde bleibt kein Raum (Art. 113 BGG).

1.2 Der angefochtene Entscheid ist ein Nichteintretensentscheid. Die
Vorinstanz hat auch nicht im Sinne einer Eventualbegründung das Erlassgesuch
als materiell unbegründet bezeichnet, sondern im Gegenteil ausdrücklich offen
gelassen, ob aus dem Fehlen eines Erlasstatbestandes im kantonalen EG KVG
ohne weiteres auf eine Unzulässigkeit des Erlasses geschuldeter
Rückforderungsansprüche geschlossen werden dürfe. Es liegt damit in der Sache
kein Entscheid vor, weshalb auf das Begehren, es sei festzustellen, dass die
Rückerstattung erlassen werde, mangels Anfechtungsobjekt nicht eingetreten
werden kann.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer vertritt die Auffassung, der Erlass der
Rückerstattung von zu viel erhaltenen Prämienverbilligungen sei vom
Bundesrecht (Art. 25 ATSG) geregelt, welches direkt oder als
stellvertretendes kantonales Recht anwendbar sei. Der
Nichteintretensentscheid des Verwaltungsgerichts verunmögliche ihm daher,
seinen bundesrechtlichen Erlassanspruch geltend zu machen, und verletze die
derogatorische Kraft des Bundesrechts.

Nach Art. 1 Abs. 2 lit. c KVG findet das ATSG keine Anwendung auf die
Ausrichtung der Prämienverbilligung nach den Art. 65, 65a und 66a KVG. Die
gestützt auf Art. 65 KVG erlassenen kantonalen Regelungen über die
individuelle Prämienverbilligung sind nach konstanter Rechtsprechung
autonomes kantonales Recht (BGE 131 V 202 E. 3.2 S. 207, 124 V 19 E. 2 S. 20
f.). Dies gilt auch für die Rückerstattung zu Unrecht erhaltener
Verbilligungen (BGE 125 V 183 E. 2c S. 186). Es muss kraft Sachzusammenhangs
auch gelten für einen allfälligen Erlass einer Rückerstattungsforderung. Art.
25 ATSG findet darauf nicht direkt Anwendung, sondern höchstens - kraft
kantonalrechtlicher Verweisung - als subsidiäres kantonales Recht. Der
Nichteintretensentscheid ist daher von vornherein nicht geeignet, die
Durchsetzung des Bundesrechts zu vereiteln oder die derogatorische Kraft des
Bundesrechts (Art. 49 Abs. 1 BV) zu verletzen.

2.2 Die Vorinstanz stützt ihren Nichteintretensentscheid auf Art. 106 Abs. 1
lit. h des kantonalen Gesetzes vom 4. Mai 1986 über die
Verwaltungsrechtspflege (VRPG/GL) ab, wonach die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde unzulässig ist gegen Entscheide über "den
Erlass oder die Stundung von öffentlich-rechtlichen Abgaben". Zutreffend hat
die Vorinstanz erkannt, dass die in Art. 86 Abs. 2 BGG vorgesehene
Verpflichtung der Kantone, die gerichtliche Anfechtung zu ermöglichen,
während der zweijährigen Übergangsfrist von Art. 130 Abs. 3 BGG (in der
Fassung gemäss Ziff. I 1 des Bundesgesetzes vom 23. Juni 2006 über die
Bereinigung und Aktualisierung der Totalrevision der Bundesrechtspflege, in
Kraft seit 1. Januar 2007 [AS 2006 4213]) noch nicht anwendbar ist, weshalb
die kantonale Regelung während dieser Zeit nicht als bundesrechtswidrig
betrachtet werden kann.

2.3 Der Beschwerdeführer rügt indessen eine willkürliche Anwendung des
kantonalen Rechts; Art. 106 Abs. 1 lit. h VRPG/GL beziehe sich nur auf
Abgaben; die Rückerstattung zu Unrecht erhaltener Prämienverbilligungen sei
jedoch keine Abgabe.

2.3.1 Das Bundesgericht prüft die Auslegung kantonalen Rechts nicht frei,
sondern nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür (Art. 95 lit. a BGG;
Seiler/von Werdt/Güngerich, a.a.O., N. 21 f. zu Art. 95; Schott, in: Basler
Kommentar zum BGG, N. 55 zu Art. 95). Nach der ständigen Praxis des
Bundesgerichts liegt Willkür in der Rechtsanwendung vor, wenn der
angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen
Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen
Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem
Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Das Bundesgericht hebt einen Entscheid
jedoch nur auf, wenn nicht bloss die Begründung, sondern auch das Ergebnis
unhaltbar ist; dass eine andere Lösung ebenfalls als vertretbar oder gar
zutreffender erscheint, genügt nicht (BGE 132 I 175 E. 1.2 S. 177; 131 I 467
E. 3.1 S. 473 f., je mit Hinweisen).

2.3.2 Es trifft zu, dass unter einer Abgabe im allgemeinen eine Geldleistung
verstanden wird, welche die Privaten dem Staat schulden und die der Deckung
des allgemeinen Finanzbedarfs (Steuern), als Entgelt für bestimmte staatliche
Leistungen oder Vorteile (Kausalabgaben) oder der Verhaltenssteuerung
(Lenkungsabgaben) dient (Hungerbühler, Grundsätze des Kausalabgabenrechts,
ZBI 2003 S. 505 ff., 506; Imboden/Rhinow, Schweizerische
Verwaltungsrechtsprechung, 5. Aufl. 1976, S. 755; Häfelin/Müller/Uhlmann,
Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 2006, S. 566 f.). Rückforderungen zu
Unrecht erbrachter Leistungen werden im allgemeinen nicht als Abgabe
bezeichnet. Bei einer freien Überprüfung wäre deshalb die Auffassung der
Vorinstanz nicht zutreffend (vgl. auch zum analogen Begriff im Sinne von Art.
83 lit. m BGG vorne E. 1.1). Als geradezu unhaltbar kann sie indessen nicht
betrachtet werden.

2.3.3 Bei der Rückerstattung zu Unrecht erbrachter staatlicher Leistungen
geht es gleich wie bei den Abgaben im eigentlichen Sinne um eine finanzielle
Leistung, welche der Private dem Staat erbringen muss. Steht diese
Leistungspflicht fest, so muss sie auf Grund des Legalitätsprinzips
grundsätzlich auch erbracht werden; es steht dem Staat nicht ohne weiteres
frei, auf eine solche Leistung zu verzichten. Um die daraus resultierenden
Härten zu vermeiden, sieht die einschlägige Gesetzgebung bisweilen vor, dass
die Leistung erlassen werden kann. Oft legt sie dabei den Erlassentscheid ins
Ermessen der Behörde. Entsprechend dem Grundkonzept, wonach
Verwaltungsgerichte keine Ermessensprüfung vornehmen, wird in solchen Fällen
regelmässig die gerichtliche Überprüfung ausgeschlossen (Art. 83 lit. m BGG;
vgl. früher Art. 99 Abs. 1 lit. g aOG; Häberli, a.a.O., N 214 zu Art. 83;
Merkli/Aeschlimann/Herzog, Kommentar zum Gesetz über die
Verwaltungsrechtspflege im Kanton Bern, Bern 1997, N 61 zu Art. 77). Dasselbe
gilt nach der Praxis zu Art. 99 Abs. 1 lit. g aOG auch für das Begehren des
Privaten, eine an sich rechtmässig erbrachte Leistung wegen unzumutbarer
Härte zurückzuerstatten (VPB 53.17 E. II.1; Merkli/Aeschlimann/Herzog,
a.a.O., N. 63 zu Art. 77). Die hier vorliegende Konstellation, in welcher der
Beschwerdeführer den Erlass einer rechtens geschuldeten Rückerstattung
begehrt, ist mit dieser Situation vergleichbar. Wenn das Verwaltungsgericht
den Erlass von Rückerstattungsforderungen dem Erlass von Abgabeforderungen
gleichstellt, ist dies daher eine vertretbare Überlegung, die dem Sinn und
Zweck von Art. 106 Abs. 1 lit. h VRPG/GL nicht zuwiderläuft.

2.3.4 Schliesslich ist der vorinstanzliche Nichteintretensentscheid auch im
Ergebnis nicht unhaltbar: Soweit der Beschwerdeführer in der vorinstanzlichen
Beschwerde geltend gemacht hat, es könne nicht sein, dass eine Person, die
nicht in der Lage sei, eine Schuld zu bezahlen, gleichwohl dazu verpflichtet
werde, ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der Vollstreckung der
Rückerstattungsforderung das Existenzminimum des Pflichtigen geschützt wird
(Art. 93 SchKG). Zum Schutz des Lebensbedarfs ist ein besonderes, der
Vollstreckung vorangehendes Erlassverfahren daher entbehrlich.

2.4 Soweit der Beschwerdeführer schliesslich in unsubstanziierter Weise eine
Verletzung von Art. 7 BV (Menschenwürde) geltend macht, ist darauf infolge
offensichtlich fehlender Begründung (Art. 106 Abs. 2 BGG) nicht einzutreten.

3.
Der unterliegende Beschwerdeführer trägt die Kosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wird abgewiesen,
soweit darauf einzutreten ist.

2.
Auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wird nicht eingetreten.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 7. März 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Schmutz