Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 548/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_548/2007

Urteil vom 2. Juni 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Parteien
W.________, Beschwerdeführer,

gegen

Ausgleichskasse Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom
19. Juli 2007.

Sachverhalt:

A.
Im Januar 2004 wurde über die Firma X.________ AG mit Sitz in Y.________ der
Konkurs eröffnet. Im September 2005 wurde das Konkursverfahren mangels Aktiven
eingestellt. W.________ amtete ab November 2002 bis zur Konkurseröffnung im
Januar 2004 als einzelzeichnungsberechtigter Verwaltungsrat der Gesellschaft.

Mit Schadenersatzverfügung vom 19. Oktober 2005 verpflichtete die
Ausgleichskasse des Kantons Zug W.________ als ehemaligen Verwaltungsrat der
konkursiten Firma X.________ AG, ihr für entgangene Sozialversicherungsbeiträge
Schadenersatz im Betrage von Fr. 30'817.15 zu bezahlen. Eine gleichlautende
Verfügung ging an B.________ als ehemaligen Direktor der Firma.

Die von W.________ und B.________ hiegegen erhobenen Einsprachen wies die
Ausgleichskasse mit Entscheid vom 7. Februar 2006 ab.

B.
Die von W.________ gegen den Entscheid eingereichte Beschwerde mit dem Antrag
auf Aufhebung der Schadenersatzverfügung wies das Verwaltungsgericht des
Kantons Zug mit Entscheid vom 19. Juli 2007 ab.

C.
W.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
stellt das Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid und der Einspracheentscheid
seien aufzuheben.

Erwägungen:

1.
Die II. sozialrechtliche Abteilung ist zuständig zum Entscheid über die
streitige Schadenersatzpflicht nach Art. 52 AHVG (Art. 82 lit. a BGG sowie Art.
35 lit. a des Reglements für das Bundesgericht vom 20. November 2006 [BGerR]).
Nach Art. 34 lit. e BGerR fällt die kantonale Sozialversicherung (insbesondere
Familien- und Kinderzulagen) zwar in die Zuständigkeit der I. sozialrechtlichen
Abteilung. Es ist indessen aus prozessökonomischen Gründen sinnvoll, dass die
II. Abteilung auch über die Schadenersatzpflicht entscheidet, soweit sie
entgangene Sozialversicherungsbeiträge nach kantonalem Recht betrifft (Urteil
9C_465/2007 vom 20. Dezember 2007).

2.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem
die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Das Bundesgericht
darf nicht über die Begehren der Parteien hinausgehen (Art. 107 Abs. 1 BGG).
Neue Begehren sind unzulässig (Art. 99 Abs. 2 BGG).

3.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer zur Leistung von
Schadenersatz einerseits nach Art. 52 AHVG für bundesrechtliche
Sozialversicherungsbeiträge sowie anderseits für Beiträge an die kantonale
Familienausgleichskasse nach dem Gesetz vom 16. Dezember 1982 über die
Kinderzulagen (KZG/ZG, BGS 844.4) verpflichtet ist. Im angefochtenen Entscheid
werden die zur Beurteilung dieser Streitfragen einschlägigen Rechtsgrundlagen
zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

4.
4.1 Das kantonale Gericht hat für das Bundesgericht verbindlich festgestellt
(E. 2), dass die konkursite Firma im - vom Beschwerdeführer zu verantwortenden
- Zeitraum bis 2003 Lohnzahlungen geleistet und die darauf anfallenden
Sozialversicherungsbeiträge im Jahre 2001 zu einem kleinen Teil, im Jahr 2002
mehrheitlich und im Jahr 2003 gänzlich unbezahlt gelassen hat, wofür sie
wiederholt gemahnt und betrieben wurde. Damit ist sie den ihr als Arbeitgeberin
obliegenden Beitragszahlungs- und Abrechnungspflichten nur unvollständig
nachgekommen und hat Vorschriften im Sinne von Art. 52 Abs. 1 AHVG
grobfahrlässig missachtet. Sodann hat das kantonale Gericht ausführlich und
zutreffend dargelegt, weshalb dieses zum Beitragsverlust führende qualifiziert
schuldhafte Verhalten dem Beschwerdeführer als einzigem Verwaltungsratsmitglied
mit Blick auf seine unübertragbaren Aufgaben der Überwachung und finanziellen
Oberaufsicht über die Gesellschaft anzurechnen ist.

4.2 Dem Beschwerdeführer ist angesichts seiner Passivität und der langen Dauer
der Zahlungsausstände grobfahrlässiges Verhalten vorzuwerfen. Ein
Mitverschulden der Ausgleichskasse, das zu einer Herabsetzung der
Schadenersatzpflicht führen würde (BGE 122 V 185; SVR 2000 AHV Nr. 16 S. 49 E.
7a, H 279/97), wird zu Recht nicht geltend gemacht.

5.
5.1 Der Beschwerdeführer beanstandet, dass das Verwaltungsgericht die von ihm
genannten Zeugen nicht befragt hat, und erblickt darin eine Verletzung seines
Anspruches auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV).

Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Denn das kantonale Gericht
führte dazu aus, dass die angerufenen Zeugen, selbst wenn sie bestätigen
könnten, dass der Beschwerdeführer alles von ihm Forderbare unternommen habe,
sich aber gegen B.________ nicht habe durchsetzen können, nichts zur Entlastung
des Beschwerdeführers beitragen könnten, weil nach der Rechtsprechung ein Organ
nicht wegen der Vorherrschaft eines anderen von der Haftung entbunden werde,
auch wenn es unmöglich erscheine, sich gegen das vorherrschende Organ
durchzusetzen (Urteil H 107/01 vom 23. Juli 2002 E. 4.3). Dass es aus diesem
Grunde in antizipierter Beweiswürdigung von der Einvernahme der genannten
Zeugen abgesehen hat, lässt sich nicht beanstanden.

5.2 Der Beschwerdeführer bringt sodann vor, der Ausgang des von ihm gegen
B.________ eingeleiteten Strafverfahrens sei in die Beurteilung einzubeziehen,
unterlässt es aber - trotz dem Hinweis der Vorinstanz - auch im
letztinstanzlichen Verfahren, darzutun, in wiefern ihn B.________ durch sein
behaupteterweise strafbares Verhalten an der Ausübung seiner Pflichten als
Verwaltungsrat gehindert haben soll. Dass ein strafrechtliches Erkenntnis im
Übrigen für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich wäre (BGE 111 V
172 E. 5a S. 177 mit Hinweisen), aber unter Umständen einen Revisionsgrund im
Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG darstellen könnte (vgl. ZAK 1991 S. 364 E. 3b in
fine) und eine Verfahrenssistierung sich aus diesen Gründen erübrigt (vgl. auch
Urteil H 156/04 vom 21. Februar 2005, E. 3), wurde bereits im angefochtenen
Entscheid zutreffend dargelegt.

5.3 Soweit der Beschwerdeführer schliesslich geltend macht, ein Teil der
Beitragsforderung sei angesichts der fünfjährigen Frist verjährt und damit
sinngemäss auf Art. 16 AHVG Bezug nimmt, übersieht er, dass ihm gegenüber nicht
eine Beitragsforderung (Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 AHVV),
sondern eine damit nicht identische Schadenersatzforderung nach Art. 52 AHVG
geltend gemacht wird (vgl. BGE 126 V 443 E. 4c S. 449 mit Hinweisen), welche -
der Beitragsforderung zeitlich nachgeordnet - erst mit dem Eintritt des
Schadens zufolge Verwirkung der Beiträge (Art. 16 Abs. 1 AHVG) oder
Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers entsteht (BGE 123 V 12 E. 5b S. 15 f., 168
E. 2a S. 169 f.).

Es steht fest und ist unbestritten, dass der Schaden mit der Einstellung des
Konkursverfahrens mangels Aktiven (September 2005) eingetreten ist und die
Ausgleichskasse in diesem Zeitpunkt auch Kenntnis vom Schaden erhalten hat
(vgl. BGE 126 V 443 E. 3c S. 445). Nach den anwendbaren Verjährungsregeln des
Art. 52 Abs. 3 AHVG, gemäss welcher Bestimmung der Schadenersatzanspruch zwei
Jahre, nachdem die zuständige Ausgleichskasse vom Schaden Kenntnis erhalten
hat, jedenfalls aber fünf Jahre nach Eintritt des Schadens verjährt, ist die
Schadenersatzforderung mit der Verfügung vom 19. Oktober 2005 rechtzeitig
geltend gemacht worden.

6.
In masslicher Hinsicht ist die Schadenersatzforderung unbestritten. Namentlich
macht der Beschwerdeführer nicht geltend, die Forderung sei hinsichtlich der
entgangenen Beiträge an die Kantonale Familienausgleichskasse (FAK-Beiträge) zu
reduzieren, weil § 28 KZG - wie das Bundesgericht zwischenzeitlich in BGE
9C_704/2007 vom 17. März 2008 entschieden hat - keine genügende gesetzliche
Grundlage für die Erhebung von Schadenersatz darstelle.

Obwohl das Bundesgericht die Verletzung des Legalitätsprinzips, welches im
Abgaberecht als selbstständiges verfassungsmässiges Recht betrachtet wird,
grundsätzlich nicht von Amtes wegen, sondern nur auf entsprechende Rüge hin
beurteilen kann, rechtfertigt es sich vorliegend - analog zu dem vom
Bundesgericht am 11. April 2008 beurteilten Fall 9C_722/2007 - den
Schadenersatzbetrag hinsichtlich der entgangenen FAK-Beiträge zu reduzieren.
Denn wie im damaligen Fall konnte das Urteil BGE 9C_704/2007 vom 17. März 2008
der Vorinstanz, die ihren Entscheid bereits früher fällte (19. Juli 2007),
nicht bekannt sein und hätte diese bei Kenntnis des bundesgerichtlichen Urteils
die Beschwerde insoweit gutgeheissen. Bei dieser Sachlage erschiene es
stossend, den Beschwerdeführer einzig wegen der Zufälligkeit der zeitlichen
Abläufe zu einer Schadenersatzpflicht für die entgangenen FAK-Beiträge zu
verurteilen. Aus diesem Grunde ist die Beschwerde hinsichtlich der FAK-Beiträge
begründet und der Schadenersatzbetrag entsprechend um den prozentualen Anteil
der FAK-Beiträge an den um die geleisteten Zahlungen verminderten ausstehenden
Zahlungen (Fr. 3'116.65) zu reduzieren.

7.
Die Verfahrenskosten sind nach dem Ausmass des Obsiegens und Unterliegens
aufzuteilen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der nicht anwaltlich vertretene
Beschwerdeführer hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 19. Juli 2007 und der
Einspracheentscheid der Ausgleichskasse Zug vom 7. Februar 2006 werden insoweit
abgeändert, als der Beschwerdeführer verpflichtet wird, der Beschwerdegegnerin
Schadenersatz im Betrag von Fr. 27'700.50 zu bezahlen. Im Übrigen wird die
Beschwerde abgewiesen.

2.
Von den Gerichtskosten von Fr. 3000.- werden dem Beschwerdeführer Fr. 2700.-
und der Beschwerdegegnerin Fr. 300.- auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 2. Juni 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Keel Baumann