Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 543/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_543/2007

Urteil vom 28. April 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella, Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiberin Dormann.

Parteien
S.________, 1954, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dean
Kradolfer, Bahnhofstrasse 7, 8570 Weinfelden,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 15. Juni 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 21. September 2004 lehnte die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen das Gesuch des 1954 geborenen S.________, Bezüger einer ganzen IV-Rente,
um Ausrichtung einer Hilflosenentschädigung ab, was sie mit Einspracheentscheid
vom 15. März 2005 bestätigte. In teilweiser Gutheissung der dagegen erhobenen
Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen den
Einspracheentscheid auf und wies die Sache zur weiteren Abklärung und zur neuen
Entscheidung über den Anspruch auf Hilflosenentschädigung für leichte
Hilflosigkeit im Sinne des dauernden Angewiesenseins auf lebenspraktische
Begleitung an die IV-Stelle zurück. Diese verneinte nach weiteren Abklärungen
und nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom 15. November
2006 erneut einen Anspruch auf Hilflosenentschädigung.

B.
Die Beschwerde des S.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen nach zweifachem Schriftenwechsel mit Entscheid vom 15. Juni 2007 ab.

C.
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 15. Juni 2007 sei aufzuheben und es
sei ihm in Aufhebung der Verfügung der IV-Stelle vom 15. November 2006
rückwirkend per 1. Januar 2000 eine Hilflosenentschädigung aufgrund
lebenspraktischer Begleitung zuzusprechen.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen und das Bundesamt für Sozialversicherungen
verzichten auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung
der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von
Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Streitgegenstand bildet die Frage, ob beim Beschwerdeführer eine Hilflosigkeit
leichten Grades im Sinne des dauernden Angewiesenseins auf lebenspraktische
Begleitung gemäss Art. 38 Abs. 1 lit. c IVV in Verbindung mit Art. 37 Abs. 3
lit. e IVV vorliege. Die Beschwerde ist von vornherein unbegründet, soweit sie
Leistungen für die Zeit vor dem 1. Januar 2004 beantragt, da ein Anspruch auf
eine Hilflosenentschädigung wegen Angewiesenseins auf dauernde lebenspraktische
Begleitung frühestens ab diesem Zeitpunkt entstehen kann (BGE 133 V 450 E. 12
S. 471).

3.
3.1 Eine Person, welche zu Hause lebt und wegen der Beeinträchtigung der
Gesundheit dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist, gilt als
hilflos (Art. 42 Abs. 3 IVG). Die Hilflosigkeit gilt als leicht, wenn die
versicherte Person lediglich dauernd auf lebenspraktische Begleitung im Sinne
von Artikel 38 angewiesen ist (Art. 37 Abs. 3 lit. e IVV).

Ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung im Sinne von Artikel 42 Absatz 3 IVG
liegt u.a. vor, wenn eine volljährige versicherte Person ausserhalb eines
Heimes lebt und infolge Beeinträchtigung der Gesundheit ernsthaft gefährdet
ist, sich dauernd von der Aussenwelt zu isolieren (Art. 38 Abs. 1 lit. c IVV).

3.2 Gemäss Rz. 8052 des Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in
der Invalidenversicherung (KSIH) ist die lebenspraktische Begleitung notwendig,
um der Gefahr vorzubeugen, dass sich die versicherte Person dauernd von
sozialen Kontakten isoliert (vgl. Art. 38 Abs. 1 lit. c IVV) und sich dadurch
ihr Gesundheitszustand erheblich verschlechtert. Die rein hypothetische Gefahr
einer Isolation von der Aussenwelt genügt nicht; vielmehr müssen sich die
Isolation und die damit verbundene Verschlechterung des Gesundheitszustandes
bei der versicherten Person bereits manifestiert haben. Die notwendige
lebenspraktische Begleitung besteht in beratenden Gesprächen und der Motivation
zur Kontaktaufnahme (z.B. Mitnehmen zu Anlässen).

3.3 Welche Tatbestandselemente erfüllt sein müssen, damit von einer ernsthaften
Gefährdung im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IVV gesprochen werden kann, ist
Rechtsfrage. Ob diese gegeben sind, ist aber Tatfrage. Diesbezügliche
Feststellungen der Vorinstanz sind - wie etwa jene zu Alter, Wohnsituation und
Gesundheitszustand einer Person - Sachverhaltsfeststellungen, welche vom
Bundesgericht nur in den genannten Schranken (E. 1 hievor) überprüft werden
können.

4.
4.1 Nach Auffassung der Vorinstanz handelt es sich bei Rz. 8052 KSIH um eine
Anforderung an den Nachweis der ernsthaften Isolierungsgefahr und nicht um
einen Bestandteil der Definition der Hilflosigkeit. In Art. 38 Abs. 1 lit. c
IVV sei nicht von einem effektiven Eintritt, sondern nur von der ernsthaften
Gefahr des Eintretens einer dauernden Isolierung die Rede. Demnach seien nicht
nur diejenigen Personen im Sinne dieser Bestimmung hilflos, die bereits
weitgehend sozial isoliert und dadurch an ihrer Gesundheit geschädigt seien. Es
genüge vielmehr, dass eine soziale Isolierung und damit eine
Gesundheitsbeeinträchtigung einträte, wenn es an einer lebenspraktischen
Begleitung fehlte. Also könne auch diejenige Person im Sinne von Art. 38 Abs. 1
lit. c IVV hilflos sein, die dank von Familienangehörigen oder Dritten von
Anfang an geleisteter Begleitungsarbeit bisher vor einer sozialen Isolierung
bewahrt worden sei. Ausschlaggebend sei einzig, ob bei einem (hypothetischen)
Wegfall der Begleitung mit grosser Wahrscheinlichkeit eine soziale Isolierung
und damit eine Beeinträchtigung der Gesundheit eintrete.

Auf den konkreten Fall bezogen hat die Vorinstanz erwogen, der Beschwerdeführer
sei nicht ernsthaft gefährdet, sich sozial zu isolieren, denn er sei fähig,
sich die erforderlichen sozialen Beziehungen, die er benötige, um nicht in
einem gesundheitsgefährdenden Ausmass isoliert zu sein, selbst zu verschaffen.
Er habe es, wie auch der behandelnde Arzt Dr. med. I.________ angegeben habe,
jeweils allein geschafft, sich ein (kleines, aber ausreichendes) soziales Netz
zu knüpfen. Der Beschwerdeführer geriete also selbst dann nicht in die
ernsthafte Gefahr, sich sozial zu isolieren, wenn sein Sohn wieder bei der
Mutter lebte und wenn sich die beiden bisherigen Begleiterinnen nicht mehr in
der Lage sähen, Zeit für ihn aufzubringen. Er wäre auch in dieser Situation in
der Lage, selbst neue Bekanntschaften zu schliessen. Es liege daher keine
Hilflosigkeit im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IVV vor.

4.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz bestreite nicht, dass er
zur Vermeidung einer sozialen Isolation des Anstosses sowie der Motivation
durch Dritte bedürfe. Sie habe den Bericht des behandelnden Arztes, welcher
sich deutlich für die Notwendigkeit einer lebenspraktischen Begleitung zur
Vermeidung einer sozialen Isolation ausgesprochen habe, im Gegenteil als
objektiv und überzeugend bezeichnet. Sie habe eine Hilflosigkeit vielmehr mit
dem Argument verneint, dass er sich die erforderlichen sozialen Beziehungen
selber schaffen könne.

Mit dieser Argumentation verkenne die Vorinstanz, dass der Anspruch gemäss Art.
38 Abs. 1 lit. c IVV einzig voraussetze, dass eine Person ernsthaft gefährdet
sei, sich dauernd von der Aussenwelt zu isolieren, wenn sie nicht in einem
gewissen Masse begleitet werde. Zunächst halte sie noch selbst fest, dass
einzig ausschlaggebend sei, ob bei einem hypothetischen Wegfall der bisherigen
Begleitung mit grosser Wahrscheinlichkeit eine soziale Isolierung und damit
eine Beeinträchtigung der Gesundheit eintrete. Dann aber knüpfe sie den
Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung an die zusätzliche Voraussetzung, dass
er die für ihn nötige Begleitung nicht selber organisieren könne. Dafür fehle
es jedoch an einer gesetzlichen Grundlage.

Abgesehen davon beruhe die Argumentation der Vorinstanz auf einer klar
unrichtigen Würdigung der vorliegend ausgewiesenen Tatsachen. Er habe die heute
bestehende Unterstützung nicht von sich aus und aus eigenem Antrieb, sondern
mit Hilfe seines Umfeldes, insbesondere auch der Ärzte, organisiert. Selber sei
er hierzu gar nicht in der Lage gewesen, da er im Zusammenhang mit sozialen
Kontakten unter massiven Blockaden leide und auf keinen Fall jemandem zur Last
fallen möchte. Die Vorinstanz scheine zudem völlig zu übersehen, dass der
benötigte Betreuungsaufwand weit über das Ausmass eines gewöhnlichen sozialen
Netzes hinausgehe. Bei einem Wegfall der Begleitung wäre es ihm aufgrund seiner
Krankheit gar nicht möglich, von sich aus hinauszutreten und die weggefallenen
sozialen Beziehungen leichterdings zu ersetzen. Ausserdem gehe es nicht darum,
"neue Bekanntschaften zu schliessen", sondern darum, Personen zu finden, die in
der Lage seien, die intensive und zeitaufwändige Begleitunterstützung zu
bieten.

5.
5.1 Verwaltungsweisungen richten sich an die Durchführungsstellen und sind für
das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich. Dieses soll sie bei seiner
Entscheidung aber berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste
und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen
zulassen. Das Gericht weicht also nicht ohne triftigen Grund von
Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung der
rechtlichen Vorgaben darstellen. Insofern wird dem Bestreben der Verwaltung,
durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten,
Rechnung getragen (BGE 133 V 450 E. 2.2.4 S. 455, 132 V 121 E. 4.4 S. 125 mit
Hinweisen).
5.2
5.2.1 Das Bundesgericht hat Rz. 8052 KSIH sowie die Art. 38 Abs. 1 lit. a und b
IVV betreffenden Rz. 8050 und 8051 KSIH wiederholt als grundsätzlich gesetzes-
und verordnungskonform bezeichnet (BGE 133 V 450 E. 9 S. 466; Urteile I 661/05
vom 23. Juli 2007 E. 5.2.1, I 609/06 vom 10. September 2007 E. 5.4.2, I 1013/06
vom 9. November 2007 E. 5.4). Allerdings stand Rz. 8052 KSIH in diesen
Entscheiden nie konkret zur Diskussion. Vorliegend stellt sich die Frage, ob
diese Verwaltungsweisung insbesondere hinsichtlich des Erfordernisses, wonach
sich die Isolation (und die damit verbundene Verschlechterung des
Gesundheitszustandes) bei der versicherten Person bereits manifestiert haben
muss, gesetzes- und verordnungskonform ist.
5.2.2 Der Wortlaut von Art. 38 Abs. 1 lit. c IVV spricht von ernsthafter
Gefährdung, sich dauernd von der Aussenwelt zu isolieren. "Ernsthaft" bedeutet,
dass die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit höher sein müssen als bei
einer bloss "gewöhnlichen" Gefährdung. "Dauernd" bedeutet, dass sogar eine
effektiv bereits eingetretene Isolation für sich allein nicht genügt, solange
sie überwiegend wahrscheinlich bloss vorübergehend ist und keine Gefahr
besteht, dass sie sich perpetuiert. Erst wenn eine Isolation effektiv manifest
ist, kann angenommen werden, dass sie anzudauern droht. Diese Sichtweise ist
vereinbar mit der Grundidee der lebenspraktischen Begleitung, den Eintritt in
eine stationäre Einrichtung möglichst zu vermeiden oder hinauszuschieben, indem
denjenigen, die den Alltag sonst nicht bewältigen könnten, Hilfe geboten wird
(BGE 133 V 450 E. 5, 8.2.1 und 8.2.2; Urteil I 609/06 vom 10. September 2007 E.
5.2).

Rz. 8052 KSIH ist somit in Bezug auf das Erfordernis, wonach sich die Isolation
(und die damit verbundene Verschlechterung des Gesundheitszustandes) bei der
versicherten Person bereits manifestiert haben muss, gesetzes- und
verordnungskonform.

5.3 Die Vorinstanz hat hinsichtlich der gesetzmässigen Anspruchsvoraussetzungen
festgestellt, der Beschwerdeführer sei nicht ernsthaft gefährdet, sich sozial
zu isolieren, denn er sei fähig, sich die erforderlichen sozialen Beziehungen
selbst zu verschaffen. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers hat die
Vorinstanz damit keine neue Anspruchsvoraussetzung geschaffen, sondern implizit
festgestellt, dass sich bisher keine Isolierung manifestiert hat. Aufgrund der
Akten kann denn auch bis zum Verfügungszeitpunkt nicht von einer manifesten
Isolation gesprochen werden, zumal der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers im
Schreiben vom 4. Juli 2006 an die IV-Stelle ausführte, dieser habe mehrere
Bezugspersonen, die ihn unterstützten und motivierten, ohne dass sie von seiner
Gesundheitsproblematik Kenntnis hätten. Die vorinstanzliche Feststellung ist
weder offensichtlich unrichtig noch beruht sie auf einer Rechtsverletzung im
Sinne von Art. 95 BGG. Sie ist daher für das Bundesgericht verbindlich. Dass
die darauf gestützten rechtlichen Schlüsse Bundesrecht verletzen, macht der
Beschwerdeführer zu Recht nicht geltend. Der angefochtene Entscheid erweist
sich als rechtens.

6.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 28. April 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Dormann