Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 536/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_536/2007

Urteil vom 26. Mai 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

Parteien
B.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
Dr. Ueli Sommer, Seefeldstrasse 123, Postfach 1236, 8034 Zürich,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgen-strasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Alters- und Hinterlassenenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 29. Mai 2007.

Sachverhalt:

A.
B.________ war Gründungsgesellschafter, vom 14. März 2000 bis 29. Juni 2001
Geschäftsführer mit Einzelunterschrift und in der Folge Gesellschafter und
einzelzeichnungsberechtigter Geschäftsführer der Firma S.________ (seit 9.
Dezember 1999 Firma R.________. Am ... Juni 2003 wurde über die Gesellschaft,
welche die Beiträge mit der Ausgleichskasse des Kantons Zürich abgerechnet
hatte, der Konkurs eröffnet, mit Verfügung vom ... Juli 2003 aber mangels
Aktiven eingestellt.

Mit Verfügung vom 28. Februar 2005 verpflichtete die Ausgleichskasse B.________
zur Bezahlung von Schadenersatz für entgangene Beiträge (einschliesslich
Verwaltungskosten, Verzugszinsen und Gebühren) in der Höhe von Fr. 364'709.60.
Auf Einsprache hin setzte die Ausgleichskasse den Schadenersatzbetrag mit
Entscheid vom 9. Dezember 2005 auf Fr. 350'820.35 herab.

B.
In teilweiser Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde änderte das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich den angefochtenen
Einspracheentscheid dahin ab, dass es B.________ verpflichtete, der
Ausgleichskasse Schadenersatz in der Höhe von Fr. 350'508.35 zu bezahlen
(Entscheid vom 29. Mai 2007).

C.
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit den Anträgen, der vorinstanzliche Entscheid und der Einspracheentscheid
seien unter Verneinung seiner Schadenersatzpflicht aufzuheben. Ferner ersucht
er um Gewährung der aufschiebenden Wirkung.

Während die Ausgleichskasse auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet
das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.

D.
Mit Verfügung vom 21. Dezember 2007 erteilte der Instruktionsrichter der
Beschwerde die aufschiebende Wirkung.

Erwägungen:

1.
Die II. sozialrechtliche Abteilung ist zuständig zum Entscheid über die
streitige Schadenersatzpflicht nach Art. 52 AHVG (Art. 82 lit. a BGG sowie Art.
35 lit. a des Reglements für das Bundesgericht vom 20. November 2006 [BGerR]).
Nach Art. 34 lit. e BGerR fallen die kantonalen Sozialversicherungen
(insbesondere Familien- und Kinderzulagen) zwar in die Zuständigkeit der I.
sozialrechtlichen Abteilung. Es ist indessen aus prozessökonomischen Gründen
sinnvoll, dass die II. Abteilung auch über die Schadenersatzpflicht
entscheidet, soweit sie entgangene Sozialversicherungsbeiträge nach kantonalem
Recht betrifft (Urteile 9C_704/2007 vom 17. März 2008 und 9C_465/2007 vom 20.
Dezember 2007).

2.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann
(Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu
Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Ferner darf das
Bundesgericht nicht über die Begehren der Parteien hinausgehen (Art. 107 Abs. 1
BGG). Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG nur so
weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass
gibt.

3.
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen über die Arbeitgeberhaftung (Art. 52 AHVG;
Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV) sowie die hiezu
ergangene Rechtsprechung, insbesondere über den Eintritt des Schadens und den
Zeitpunkt der Kenntnis des Schadens (BGE 129 V 193, 128 V 10 E. 5 S. 12), die
subsidiäre Haftung der Organe eines Arbeitgebers (BGE 129 V 11, 126 V 237 E. 4
S. 238), den zu ersetzenden Schaden (BGE 126 V 443 E. 3a S. 444), die
erforderliche Widerrechtlichkeit (BGE 118 V 193 E. 2a S. 195), die
Voraussetzung des Verschuldens und den dabei zu berücksichtigenden -
differenzierten - Sorgfaltsmassstab (BGE 108 V 199 E. 3a S. 202) zutreffend
wiedergegeben. Darauf kann verwiesen werden. Ebenso hat das kantonale Gericht
richtig festgehalten, dass Geschäftsführer einer GmbH wie auch Personen, die
faktisch die Funktion eines Geschäftsführers ausüben, für den der
Ausgleichskasse zufolge nicht bezahlter Sozialversicherungsbeiträge
entstandenen Schaden nach den gleichen Grundsätzen wie Organe wie einer
Aktiengesellschaft haften, wogegen dem blossen Gesellschafter einer GmbH das
Fehlverhalten der Gesellschaft nicht angerechnet werden darf (BGE 126 V 237
ff.).

4.
Die Vorinstanz hat für das Bundesgericht verbindlich festgestellt, dass der
Ausgleichskasse zufolge unbezahlt gebliebener Beiträge ein Schaden von
gesamthaft Fr. 350'508.35 entstanden ist. Während der Beschwerdeführer im
vorinstanzlichen Verfahren die Höhe des Schadens gemäss Einspracheentscheid
nicht bestritten hat, bringt er letztinstanzlich verschiedene Einwände gegen
die Festlegung des Schadens durch das Sozialversicherungsgericht vor. Indes lag
bereits mit dem Einspracheentscheid der Ausgleichskasse die Begründung für die
Höhe des verfügten Schadenersatzes vor, die vom Sozialversicherungsgericht in
tatsächlicher Hinsicht frei, somit auch im Lichte neuer Vorbringen des
Beschwerdeführers, hätte überprüft werden können. Auf die erstmals vor
Bundesgericht vorgetragenen Ausführungen zur Höhe des Schadens ist somit nicht
einzugehen, soweit es sich dabei um Noven im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG
handelt. Davon abgesehen vermögen die Einwendungen die vorinstanzliche
Sachverhaltswürdigung nicht als offensichtlich unrichtig erscheinen zu lassen.

5.
5.1 Nachdem unbestrittenen geblieben ist, dass die Ausgleichskasse ihre
Schadenersatzforderung rechtzeitig geltend gemacht hat, ist als Nächstes zu
prüfen, ob der Beschwerdeführer den Schaden schuldhaft verursacht hat. Die
Vorinstanz hat nebst der in der Verletzung der Beitragszahlungs- und
Abrechnungspflicht liegenden Widerrechtlichkeit auch diese Frage bejaht. Sie
hat ein grobfahrlässiges Verhalten des seit März 2000 die Position eines
Geschäftsführers der Firma R.________ bekleidenden Beschwerdeführers
angenommen, weil dieser es pflichtwidrig unterlassen habe, für die Entrichtung
der Beiträge an die Ausgleichskasse besorgt zu sein. Weiter führte das
Sozialversicherungsgericht aus, dass keine Rechtfertigungs- und
Exkulpationsgründe vorlägen. Nach den Feststellungen der Vorinstanz hatte die
Gesellschaft bereits ab dem Jahr 2001 erhebliche finanzielle Schwierigkeiten,
und es konnte nicht damit gerechnet werden, dass die Nachforderungen innert
nützlicher Frist beglichen würden. Vielmehr habe die Gesellschaft immer wieder
Zahlungsaufschübe verlangen und schliesslich am 17. Januar 2003 ein Gesuch um
Erlass von Beiträgen stellen müssen. Zahlungen für die Beitragsrechnung von
Dezember 2002 bis März 2003 seien gänzlich ausgeblieben. Zudem habe die
nachmalige Konkursitin ihren Personalbestand ständig aufgestockt. In Würdigung
der gesamten Umstände handle es sich beim Verzicht auf die Bezahlung der Nach-
und teilweise der Beitragsforderungen um einen Versuch, finanzielle
Schwierigkeiten auf Kosten der Sozialversicherungen zu überbrücken.

5.2 Der Beschwerdeführer bestreitet ein schuldhaftes Verhalten und macht im
Wesentlichen geltend, der damalige Buchhalter E.________ sei für die
Nichtbezahlung der Ausstände verantwortlich gewesen. Während des Zeitraumes, in
welchem die Beitragsausstände anfielen, sei E.________ schwer erkrankt und 2001
an den Folgen des Krebsleidens gestorben. Erst später seien die tatsächlichen
finanziellen Verhältnisse der Gesellschaft zu Tage getreten.

Die Behauptung, der verstorbene Buchhalter E.________ trage die Verantwortung
für die Nichtbezahlung der Beitragsausstände, wird explizit erstmals im
Verfahren vor Bundesgericht vorgetragen und ist deshalb nach Massgabe von Art.
99 Abs. 1 BGG unzulässig; denn Anlass, diesen Einwand vorzubringen, hatte der
Beschwerdeführer nicht erst auf Grund des Entscheides der Vorinstanz. Vielmehr
hatte die Ausgleichskasse im Einspracheentscheid vom 9. Dezember 2005 die
Rechtslage zur Verantwortlichkeit und zur subsidiären Schadenersatzpflicht des
Geschäftsführers einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung für unbezahlt
gebliebene Beiträge unter Hinweis auf die Rechtsprechung dargelegt. Dabei hatte
sie zu Recht festgehalten, dass vom Beschwerdeführer als Geschäftsführer einer
Gesellschaft mit überschaubaren Verhältnissen erwartet werden durfte, dass er
den Überblick über Aktiven und Passiven behält oder sich verschafft und im Fall
ungenügender Liquidität Weisungen über den Einsatz der vorhandenen Mittel
erteilt, wobei er insbesondere für die Bezahlung der Beitragsausstände hätte
besorgt sein müssen. Diese einlässlichen Erwägungen der Kasse hätten den
Beschwerdeführer veranlassen müssen, die letztinstanzlich erhobenen
tatsächlichen Einwendungen im Beschwerdeverfahren vor dem
Sozialversicherungsgericht geltend zu machen. Hievon sah er jedoch ab. Statt
dessen liess er es im vorinstanzlichen Prozess bei einem Hinweis darauf
bewenden, dass der Anfang 2000 angestellte Buchhalter keine aussagekräftige
Buchhaltung geführt habe, weshalb er über den Geschäftsgang nicht im Bilde
gewesen sei. Diesen Vorbringen hat das Sozialversicherungsgericht zu Recht
keine Relevanz beigemessen.

Weitere Argumente, die namentlich gegen die grobfahrlässige Verursachung des
Schadens durch den Beschwerdeführer sprechen würden, vermag dieser nicht
namhaft zu machen. Entgegen den Ausführungen in der Beschwerdeschrift hat die
Vorinstanz weder den Untersuchungsgrundsatz noch den Anspruch auf rechtliches
Gehör verletzt, indem sie von der Befragung der angebotenen Zeugen und dem
Beizug der Geschäftsunterlagen der Konkursitin abgesehen hat; auf Grund der
eindeutigen Beweislage durfte sie in antizipierter Beweiswürdigung von der
Abnahme weiterer Beweise absehen, zumal nicht ersichtlich ist, welche neuen
Erkenntnisse sich aus einer Befragung der Zeugen im Zusammenhang mit der
offenkundigen Widerrechtlichkeit des Verhaltens und dem dem Beschwerdeführer
zur Last gelegten Verschulden hätten gewinnen lassen.

5.3 Soweit der Beschwerdeführer ferner die Herabsetzung der
Schadenersatzpflicht wegen Mitverschuldens der Ausgleichskasse verlangt, kann
ihm ebenfalls nicht gefolgt werden. Nach der Rechtsprechung ist eine solche
Herabsetzung nur zulässig, wenn eine grobe Pflichtverletzung der Verwaltung für
die Entstehung oder Verschlimmerung des Schadens adäquat gewesen ist (BGE 122 V
185 E. 3b S. 187 f.). Eine derartige Pflichtverletzung seitens der Kasse liegt
hier nicht vor und kann insbesondere weder in der zweimaligen Gewährung von
Ratenzahlungen erblickt noch mit den weiteren Ausführungen in der Beschwerde
auch nur ansatzweise begründet werden.

5.4 Schliesslich besteht zwischen der grobfahrlässigen Missachtung der
Vorschriften über Beitragsabrechnung und -bezahlung und dem eingetretenen
Schaden ein adäquater Kausalzusammenhang, wie die Vorinstanz, auf deren
Erwägungen in diesem Punkt verwiesen wird, dargelegt hat.

6.
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 9000.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 26. Mai 2008
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer