Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 531/2007
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Tribunale federale
Tribunal federal

{T 0/2}
9C_531/2007

Urteil vom 3. Juni 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Lustenberger, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Kernen, Seiler,
Gerichtsschreiber Traub.

Parteien
N.________, Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprecherin Daniela Mathys, Sulgeneckstrasse 37, 3007 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 23. Juli 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1952 geborene N.________ erlitt am 10. Februar 2003 bei Ausübung seiner
Tätigkeit als Marmorist einen Unfall, bei welchem er sich eine Kontusion mit
Rissquetschwunde des Kopfes, eine Kontusion der gesamten Wirbelsäule und eine
Fraktur eines Brustwirbelkörpers zuzog. Nachdem die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) zunächst vorübergehende Leistungen (Taggeld,
Heilungskosten) erbracht hatte, sprach sie N.________ für die Folgen des
Unfalls mit Wirkung ab Dezember 2004 eine auf einem Invaliditätsgrad von 33
Prozent beruhende Rente sowie Integritätsentschädigung aufgrund einer Einbusse
von 20 Prozent zu (mit Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom
27. September 2006 bestätigter Einspracheentscheid vom 12. Dezember 2005).
Am 17. Dezember 2003 meldete sich N.________ zum Leistungsbezug bei der
Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle Bern lehnte den Anspruch auf eine
Invalidenrente unter anderem gestützt auf ein Gutachten der Medizinischen
Abklärungsstation (MEDAS) am Spital X.________ vom 5. Juli 2006 ab; der
Invaliditätsgrad betrage - nicht rentenauslösende - 33 Prozent (Verfügung vom
20. April 2007).

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die dagegen erhobene Beschwerde ab
(Entscheid vom 23. Juli 2007).

C.
N.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit den Rechtsbegehren, die vorangegangenen Entscheide seien aufzuheben und es
sei ihm rückwirkend ab Februar 2004 eine Invalidenrente zuzusprechen. Eventuell
sei ein weiteres interdisziplinäres Gutachten einzuholen.
IV-Stelle und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen ist,
es liege kein rentenauslösender Invaliditätsgrad vor.

1.1 Das kantonale Gericht hat die zur Beurteilung des Leistungsanspruchs
einschlägigen Rechtsgrundlagen zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
2.1 Im Rahmen seiner Beweiswürdigung hinsichtlich des hier allein strittigen
medizinischen Sachverhalts stellte das kantonale Gericht auf die
Schlussfolgerung des MEDAS-Gutachtens vom 5. Juli 2006 ab. Danach wirken sich
Beschwerden im Bereich des Rückens (lumbospondylogenes Syndrom, chronisches
Schmerzsyndrom im thorakolumbalen Übergang, zervikospondylogenes
Schmerzsyndrom), der Knie (beidseits) sowie des rechten Schultergelenks auf die
Arbeitsfähigkeit aus. Eine angepasste Tätigkeit (vornehmlich mittelschwere
körperliche Arbeiten, unter anderem unter Vermeidung von Zwangshaltungen,
namentlich in Gestalt eines vornübergeneigten Oberkörpers, von Überkopfarbeiten
und häufigem Bücken) sei dem Beschwerdeführer nach Massgabe der gutachtlichen
Einschätzung (aus orthopädischer, neurologischer, psychiatrischer,
pneumologischer und internistischer Sicht) zu 100 Prozent, das heisst während
acht Stunden täglich, zumutbar, ohne dass dabei noch eine gesundheitsbedingte
weitere Minderung des Leistungsgrades hinzukomme. Es sei dem Versicherten
zumutbar, dieses Leistungsvermögen auszuschöpfen. Weiter sei davon auszugehen,
dass im ausgeglichenen Arbeitsmarkt entsprechende Tätigkeiten vorhanden seien.
Schliesslich widersprächen diese Festlegungen der
unfallversicherungsrechtlichen Beurteilung nicht. Auch wenn im Bereich der
Invalidenversicherung weitere, unfallfremde Beeinträchtigungen einzubeziehen
seien, bedeute dies nicht zwingend, dass hier ein höherer Invaliditätsgrad
resultiere. Das vom Unfallversicherer definierte Zumutbarkeitsprofil decke auch
alle invalidenversicherungsrechtlich relevanten Einschränkungen ab, so dass
sich jenes - trotz der Berücksichtigung zusätzlicher gesundheitlicher Störungen
- nicht verändere.

2.2 Die vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen stellen die Rechtmässigkeit dieser
vorinstanzlichen Beurteilung nicht in Frage.
2.2.1 Der Versicherte lässt zunächst beanstanden, das kantonale Gericht habe
die Beweise nicht umfassend gewürdigt, indem es nicht berücksichtigt habe, dass
im einleitenden Aktenauszug des Gutachtens nicht alle medizinischen Akten
erwähnt bzw. nicht alle Äusserungen zitiert worden seien. Dazu ist
festzuhalten, dass es durchaus im Ermessen der Gutachter steht, hier eine
Auswahl derjenigen Vorakten zu treffen, die auch tatsächlich erheblich sind.
Wie schon der verbreitete Begriff des Aktenauszugs zeigt, ist es geradezu
angezeigt, diesen auf diejenigen Schriftstücke zu beschränken, die für das
Verständnis weiterer Abschnitte der Expertise (vor allem Anamnese, Befund,
Beurteilung) wesentlich sind.
2.2.2 Unbegründet ist des Weiteren der Einwand, das Gutachten sei aufgrund
seines Zustandekommens mangelhaft, weil den konsiliarisch hinzugezogenen
Fachärzten bereits vor ihrer eigenen Beurteilung ein Entwurf des
Hauptgutachtens (anstelle des kompletten Aktendossiers) zur Verfügung gestellt
worden sei. Ein solches Vorgehen würde allenfalls dann Fragen aufwerfen, wenn
die Beurteilungsgrundlage für die betreffenden Teilgutachter dadurch
unvollständig wäre. Davon kann hier aber keine Rede sein: Dem pneumologischen
Konsilium (betreffend ein obstruktives Schlafapnoe-Syndrom) kommt für die
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von vornherein keine zentrale Bedeutung zu.
Zudem ist der Bestand des Lungenleidens nach einer vorgängigen Abklärung in
einer spezialisierten Klinik offenkundig liquide. Unter diesen Umständen ist
nicht zu beanstanden, dass sich die Gutachter diesbezüglich mit einer einfachen
Ergänzung der bereits verfügbaren Erkenntnisse um das Element der
Leistungseinschränkung begnügten.
Die orthopädische Teilgutachterin und der neurologische Teilgutachter haben je
eine umfassende eigene Untersuchung vorgenommen. Fachärztliche Stellungnahmen
zum psychiatrischen Status schliesslich lagen bei Erstellung des Gutachtens
nicht vor.
2.2.3 Der Beweiswert der massgebenden Expertise wird auch nicht dadurch in
Mitleidenschaft gezogen, dass die MEDAS auf die vom Regionalen Ärztlichen
Dienst (RAD) mit Bericht vom 18. März 2005 angeregte neuropsychologische
Begutachtung verzichtet hat. Aus einem Arztbericht der Abteilung für
neuropsychologische Rehabilitation am Spital X.________ vom 24. Juni 2004
ergibt sich, dass die gezeigten Minderleistungen nicht mit einer primär
hirnorganischen Genese vereinbar sind. Es bestand mithin für den neurologischen
Teilgutachter selbst mit Blick auf den Unfallhergang ("Schädelhirntrauma") kein
Anlass für neuropsychologische Weiterungen.
Das kantonale Gericht führt zu dem in diesem Zusammenhang diskutierten
demonstrativ-aggravierenden Verhalten grundsätzlich zu Recht aus, auch der
Umstand, dass eine Aggravationstendenz "ein Mittel intellektuell 'einfach
strukturierter', sprachlich unbegabter oder fremdsprachiger Patienten zur
Verständlichmachung ihres Leidens" sein könne, ändere nichts an der fehlenden
Qualifikation als invalidenversicherungsrechtlich relevanter
Gesundheitsschaden. Das ist grundsätzlich richtig. Der Feststellung von
Aggravation wohnt freilich auch die Gefahr inne, dass diese eine
überschiessende Tragweite erhält, sei es in den Schlussfolgerungen des
Sachverständigen selbst oder beim die gutachtliche Äusserung rezipierenden
Rechtsanwender. Hier aber gibt es keine Anhaltspunkte, dass dem so sein könnte.
2.2.4 Die anlässlich der erwähnten neuropsychologischen Abklärung erhobenen
Hinweise auf eine depressive Symptomatik bestätigten sich bei der
psychiatrischen Untersuchung zuhanden des MEDAS-Gutachtens nicht. Die Kritik am
psychiatrischen Konsilium vermag nicht zu überzeugen: So ist nicht ersichtlich,
inwiefern dessen Aufbau nicht den Regeln der psychiatrischen Kunst folgen
sollte. Ein Konsilium muss konkreten Erfordernissen im gegebenen
interdisziplinären Zusammenhang genügen; es stellt indes nicht ein
eigenständiges Gutachten dar. Angaben zur Dauer einer psychiatrischen
Exploration sind zwar wünschbar (vgl. Urteil I 1094/06 vom 14. November 2007);
ihr Fehlen fällt aber jedenfalls dann nicht entscheidend ins Gewicht, wenn -
auch im Gesamtkontext des medizinischen Dossiers - keinerlei Hinweise auf
materielle Mängel des Berichts bestehen. Ebenso wenig lässt der Umstand, dass
keine speziellen Tests durchgeführt wurden, das psychiatrische Konsilium als
"oberflächlich ausgearbeitet, unvollständig und nicht schlüssig" erscheinen.
Bei der psychiatrischen Exploration kommt dem schematischen, testmässigen
Erfassen der Psychopathologie nach bestimmten Skalen, die auf den Angaben und
Einschätzungen der versicherten Person selbst beruhen, höchstens ergänzende
Funktion zu; entscheidend ist die klinische Untersuchung mit Anamneseerhebung,
Symptomerfassung und Verhaltensbeobachtung (Urteil I 391/06 vom 9. August 2006,
E. 3.2.2).
2.2.5 Ins Leere zielt die Behauptung, dem Gutachten der MEDAS mangle es an
einer "Diskussion und Beurteilung". Dieser notwendige synthetische Teil jeder
Begutachtung findet sich unter dem Titel "Beurteilung und Prognose" auf den
Seiten 24 bis 27 sowie teilweise im Rahmen der Fragebeantwortung (Seiten 27 bis
30).
2.2.6 Bei der Ärztlichen Abschlussuntersuchung durch den SUVA-Kreisarzt vom 27.
November 2003 wurde eine Leistungsfähigkeit definiert, die mit derjenigen
gemäss dem MEDAS-Gutachten weitgehend identisch ist. In der Beschwerde wird die
Auffassung vertreten, angesichts der zahlreichen unfallfremden und für die
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit massgebenden Gesundheitsschäden müsse die
vorinstanzliche Aussage als willkürlich bezeichnet werden, das von der SUVA im
Zusammenhang allein mit der Fraktur eines Brustwirbelkörpers angewandte
Zumutbarkeitsprofil decke zugleich sämtliche invalidenversicherungsrechtlich
relevanten Einschränkungen ab.
Es ist oft zu beobachten, dass Anforderungen an zumutbare Tätigkeiten, die sich
aus einer bestimmten gesundheitlichen Einschränkung ergeben, gleichzeitig
weiteren Beeinträchtigungen gerecht werden. Dementsprechend können etwa auch
Teilarbeitsfähigkeiten bezüglich verschiedener, unabhängig voneinander
bestehender Gesundheitsschädigungen bei weitem nicht immer einfach addiert
werden. Der Zweck interdisziplinärer Gutachten besteht gerade darin, alle
relevanten Gesundheitsschädigungen zu erfassen und die daraus jeweils
abgeleiteten Einflüsse auf die Arbeitsfähigkeit in einem Gesamtergebnis
auszudrücken (SVR 2008 IV Nr. 15 S. 44, E. 2.1 [I 514/06]; Urteile I 506/02 vom
26. Mai 2003, E. 2.2, und I 372/02 vom 11. März 2003, E. 3.3). Es besteht kein
Grund anzunehmen, dass diese Aufgabe hier nicht gehörig erfüllt worden sei.
Namentlich findet der Standpunkt des Beschwerdeführers keine Stütze in der
Invaliditätsbemessung des obligatorischen Unfallversicherers. Es ist nicht
entscheidend, dass der Versicherte im Verfahren der Unfallversicherung allein
unter Berücksichtigung der Unfallfolgen als bezüglich leichter Tätigkeiten
vollständig arbeitsfähig erachtet wurde, im invalidenversicherungsrechtlichen
Prozess hingegen unter Einbezug sämtlicher Gesundheitsschädigungen auch für
mittelschwere Arbeiten. Denn das bei der Invaliditätsbemessung nach der
Einkommensvergleichsmethode (Art. 16 ATSG) insoweit massgebende
Invalideneinkommen aufgrund eines tabellarischen Werts (vgl. BGE 129 V 472 E.
4.2.1 S. 475) wird durch die abstrakte Bezeichnung zumutbarer Tätigkeiten als
leicht oder mittelschwer nicht beeinflusst; massgebend ist vielmehr die
konkretisierende Beschreibung des Anforderungsprofils. Dieses wird auch den in
der Invalidenversicherung zusätzlich zu berücksichtigenden Leiden gerecht, wie
die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat. Selbst bei Zugrundelegung der von der
SUVA getroffenen Festlegungen würde sich das Invalideneinkommen im Verfahren
der Invalidenversicherung somit nicht ändern. Andere Parameter der
Invaliditätsbemessung liegen nicht im Streit (zum Rügeprinzip: BGE 119 V 347 E.
1a S. 349 mit Hinweis).

2.3 Ist der vorinstanzlich festgestellte Sachverhalt nach beweisrechtlichen
Gesichtspunkten hinlänglich abgestützt, entfällt die Notwendigkeit der
beantragten weiteren Begutachtung.

3.
Der Beschwerdeführer macht schliesslich geltend, selbst nach der Beurteilung
der MEDAS sei - nach Ablauf des Wartejahres gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG -
ab Februar 2004 zumindest vorübergehend ein Rentenanspruch entstanden, da der
Hausarzt eine dauerhafte vollständige Einschränkung attestiert habe und das für
die Leistungsfähigkeit zentrale orthopädische Konsilium nur für die Zeit seit
der entsprechenden Untersuchung (22. Mai 2006) eine diesbezügliche Feststellung
enthalte. Dem ist entgegenzuhalten, dass bereits bei der Ärztlichen
Abschlussuntersuchung durch den SUVA-Kreisarzt vom 27. November 2003 eine
Leistungsfähigkeit definiert wurde, die mit derjenigen gemäss dem
MEDAS-Gutachten weitgehend identisch ist (vgl. oben E. 2.2.6). Die Tatsache,
dass der Beschwerdeführer bis Ende April 2004 Taggelder des obligatorischen
Unfallversicherers bezogen hatte, die auf einer vollständigen
Arbeitsunfähigkeit beruhten, ist dem Umstand geschuldet, dass diese
vorübergehende Leistung ausgehend von der Einschränkung im bisherigen Beruf
(und nicht in einer zumutbaren Verweisungstätigkeit) bemessen wird (Art. 16 f.
UVG in Verbindung mit Art. 6 ATSG).

4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG). Die
Gerichtskosten werden dem Verfahrensausgang entsprechend dem Beschwerdeführer
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 3. Juni 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber:

Lustenberger Traub