Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 52/2007
Zurück zum Index II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2007
Retour à l'indice II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2007


9C_52/2007

Urteil vom 10. Januar 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

A. ________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Walter A. Stöckli, Schmiedgasse 10,
6472 Erstfeld,

gegen

IV-Stelle Uri, Dätwylerstrasse 11, 6460 Altdorf,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des
Obergerichts des Kantons Uri
vom 31. Januar 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 15. November 2005 verneinte die IV-Stelle Uri den Anspruch
der A.________ auf eine Rente der Invalidenversicherung. Daran hielt sie auf
Einsprache der Versicherten hin fest (Entscheid vom 19. Januar 2006).

B.
Am 20. Februar 2006 liess A.________ Beschwerde erheben und beantragen, der
Einspracheentscheid sei aufzuheben. Die Sache sei zur Neubeurteilung an die
IV-Stelle zurückzuweisen. Eventualiter sei festzustellen, dass ein
Invaliditätsgrad von mindestens 70 % besteht, und ihr eine Rente
zuzusprechen. Mit Eingabe vom 23. Februar 2006 ersuchte A.________ zudem um
Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Das Obergericht des Kantons Uri
wies die gestellten Anträge, einschliesslich den verfahrensrechtlichen,
welchen es als verspätet erachtete, mit Entscheid vom 31. Januar 2007 ab.

C.
A.________ lässt Beschwerde führen und das Rechtsbegehren stellen, der
angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Die Sache sei zur Neubeurteilung an
die Vorinstanz zurückzuweisen. Eventualiter sei festzustellen, dass ein
Invaliditätsgrad von mindestens 70 % besteht, und ihr eine Rente
zuzusprechen.
Während die IV-Stelle beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit auf
sie einzutreten sei, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf
eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.
Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache in
billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem
unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird,
das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die
Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu
entscheiden hat (Satz 1). Die Konvention selber sieht in Art. 6 Ziff. 1 EMRK
Ausnahmen vom Öffentlichkeitsgrundsatz vor im Interesse der Sittlichkeit, der
öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit oder wenn die Interessen
von Jugendlichen, der Schutz des Privatlebens von Prozessparteien oder die
Gefahr einer Beeinträchtigung der Rechtspflege es gebieten (Satz 2).
Rechtsprechungsgemäss besteht gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK in Verfahren
über zivilrechtliche Streitigkeiten - zu welchen auch
sozialversicherungsrechtliche Leistungs- und Abgabestreitigkeiten gehören
(BGE 122 V 47 E. 2a S. 50 f. mit Hinweisen) - ein Anspruch auf öffentliche
Verhandlung, sofern die Parteien nicht ausdrücklich oder stillschweigend
darauf verzichten (BGE 127 I 44 E. 2a S. 45 mit Hinweisen). Die Pflicht zur
Durchführung einer öffentlichen Verhandlung gilt indessen nicht absolut (vgl.
E. 2 und 3 nachfolgend).

2.
Die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung setzt grundsätzlich einen
Parteiantrag voraus. Dieser muss klar und unmissverständlich formuliert sein
(BGE 125 V 37 E. 2 S. 38 f., 122 V 47 E. 3a S. 55). Es steht fest und ist
unbestritten, dass die Beschwerdeführerin in der Eingabe vom 23. Februar 2006
klar und unzweideutig den Antrag auf Durchführung einer öffentlichen
Verhandlung im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK gestellt hat. Da sie indessen
ihr Gesuch um Durchführung einer öffentlichen Verhandlung drei Tage nach der
Beschwerde eingereicht hat, wurde es im angefochtenen Entscheid als verspätet
und der Anspruch auf öffentliche Verhandlung mithin als verwirkt betrachtet.

2.1 Gestützt auf den Grundsatz von Treu und Glauben und das Verbot des
Rechtsmissbrauchs, welche auch im Verfahrensrecht Geltung haben, ist es nicht
zulässig, formelle Rügen, die in einem frühen Stadium hätten geltend gemacht
werden können, bei ungünstigem Ausgang noch später vorzubringen (BGE 132 II
485 E. 4.3 S. 496 f., 128 V 82 E. 2b S. 85). Hinsichtlich der Garantie eines
öffentlichen Verfahrens hat das Bundesgericht erkannt, dass der Antrag so
früh wie möglich geltend zu machen ist und ein verspätetes Vorbringen gegen
Treu und Glauben verstossen und daher die Verwirkung des Anspruchs mit sich
bringen kann (BGE 121 I 30 E. 5f S. 38; vgl. auch SVR 2006 IV Nr. 1 S. 1
E. 3.7.1, I 573/03; Urteil U 355/05 vom 3. August 2007, E. 3.3.1). Eine
frühzeitige Antragstellung rechtfertigt sich im Bereich der
Sozialversicherungsrechtspflege umso mehr, als Art. 61 lit. a ATSG für die
Prozesse vor den kantonalen Versicherungsgerichten ein einfaches und rasches
Verfahren vorschreibt (Urteil U 355/05 vom 3. August 2007, E. 3.3.1).
Indessen wird nicht verlangt, dass der Antrag zusammen mit der Beschwerde
eingereicht wird, sondern wird als genügend erachtet, dass er innerhalb des
ordentlichen Schriftenwechsels erfolgt (BGE 122 V 47 E. 3b/bb S. 56; Urteil
I 98/07 vom 18. April 2007, E. 4.1). Soweit in BGE 125 V 37 E. 2 S. 38 f.
einem nach Einreichung der Beschwerde gestellten Antrag nicht stattgegeben
wurde, geschah dies nicht, weil er als verspätet qualifiziert worden wäre,
sondern aus anderen Gründen. Im Urteil C 269/94 vom 31. Mai 1996 hat das
Eidgenössische Versicherungsgericht einen nach Eingang der Beschwerdeantwort
gestellten Antrag als rechtzeitig erachtet, dies mit der Begründung, in der
Beschwerdeantwort seien neue Aspekte vorgebracht worden. Die Durchführung
einer öffentlichen Hauptverhandlung erscheint denn auch in der Regel erst
kurz vor oder gar nach Abschluss des Beweisaufnahmeverfahrens als sinnvoll,
da vorher kaum genügend Grundlagen für eine sachgerechte Verhandlung
vorliegen, welche das Gericht zu einer zuverlässigen
verfahrensabschliessenden Beurteilung führen könnten (BGE 122 V 47 E. 3a
S. 55). In diesem Sinne wurde im Urteil U 355/05 vom 3. August 2007 für den
Fall, dass das Gericht zwecks Abklärung des Sachverhalts ein fachärztliches
Gutachten einholt, entschieden, dass die Parteien bis zur abschliessenden
Stellungnahme zum Beweisergebnis einen Antrag auf öffentliche Verhandlung
rechtsgenüglich stellen können.

2.2 Die Beschwerdeführerin hat ihren Antrag auf Durchführung einer mündlichen
Verhandlung nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK zwar nicht in ihrer erstinstanzlichen
Beschwerdeschrift (vom 20. Februar 2006), aber mit Eingabe vom 23. Februar
2006 - und damit unbestrittenermassen noch innerhalb des ordentlichen
Schriftenwechsels - gestellt, weshalb ihr Antrag rechtzeitig erfolgt ist.
Hinzu kommt, dass das Obergericht im Zeitpunkt der Antragstellung noch keine
prozessualen Anordnungen getroffen hatte, die durch das nachträgliche
Begehren um Durchführung einer öffentlichen Verhandlung in Frage gestellt
worden wären: Am 21. Februar 2006 hat das kantonale Gericht der IV-Stelle die
Gelegenheit eingeräumt, sich zur Beschwerde der Versicherten vernehmen zu
lassen, wovon die IV-Stelle mit Eingabe vom 18. März 2006 Gebrauch gemacht
hat. Nach Eingang der Stellungnahme der Beschwerdegegnerin, am 20. März 2006,
schloss das Obergericht den Schriftenwechsel. Diese Chronologie der
Ereignisse zeigt, dass der Prozessausgang dadurch, dass der Antrag nicht
gleichzeitig mit der Beschwerde, sondern drei Tage später gestellt wurde,
nicht gestört oder verzögert wurde. Auch aus diesem Grunde kann das Begehren
der Versicherten nicht als verspätet betrachtet werden.

2.3 Es stellt sich indessen die Frage, ob im weiteren Verhalten der
Beschwerdeführerin ein nachträglicher Verzicht auf die Durchführung einer
öffentlichen Verhandlung zu erblicken ist: Als sich die Versicherte mit
Schreiben vom 17. Juli 2006 nach dem Stand des Verfahrens erkundigte, teilte
ihr das Obergericht mit, über den "weiteren Verfahrensgang/die Sache" werde
voraussichtlich im Verlaufe des Monats November 2006 entschieden. Eine
erneute Anfrage nach dem Verfahrensstand vom 5. Januar 2007 beantwortete ihr
das Obergericht am 8. Januar 2007 dahingehend, die Beschwerde werde
"voraussichtlich noch in diesem Monat zur Beratung und Entscheidung
gelangen". Es lässt sich diskutieren, ob die Beschwerdeführerin in diesen
Äusserungen des Obergerichts dessen Absicht hätte erkennen können, über die
Sache ohne Durchführung einer öffentlichen Verhandlung zu entscheiden, und
aus diesem Grunde gehalten gewesen wäre zu intervenieren. Dies ist zu
verneinen mit Blick darauf, dass der Verzicht auf die Durchführung einer
öffentlichen Verhandlung rechtsprechungsgemäss klar sein muss (vgl. BGE 127 I
44 E. 2e/bb S. 48; Urteil 1P.372/2001 vom 2. August 2001, E. 2c) und nicht
leichthin ein stillschweigender Verzicht auf einen einmal gestellten Antrag
angenommen werden darf. Dementsprechend hätte das Obergericht nur dann von
einem Verzicht ausgehen dürfen, wenn es die Beschwerdeführerin explizit
darauf aufmerksam gemacht hätte, dass es dem Antrag nicht stattzugeben
gedenke, und die Versicherte an ihrem Begehren hierauf nicht weiter
festgehalten hätte.

2.4 Bei dieser Sachlage steht fest, dass der Antrag rechtzeitig gestellt und
nicht zurückgezogen worden ist.

3.
Es bleibt zu prüfen, ob die Vorinstanz aus anderen Gründen von der
Durchführung einer öffentlichen Verhandlung absehen konnte.

3.1 Besondere Umstände, die einen Verzicht auf die Durchführung einer
öffentlichen Verhandlung rechtfertigen, sind nach der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) gegeben, wenn eine
Streitsache keine Tat- oder Rechtsfragen aufwirft, die nicht adäquat aufgrund
der Akten und der schriftlichen Parteivorbringen gelöst werden können. So
kann unter Mitberücksichtigung des Gebots der Verfahrenserledigung innert
angemessener Frist und prozessökonomischer Überlegungen ein ohne Durchführung
einer mündlichen Verhandlung abgewickelter Prozess den Anforderungen des
Art. 6 Ziff. 1 EMRK genügen, wenn ausschliesslich rechtliche oder
hochtechnische Fragen zu beurteilen sind. Ein Absehen von der Durchführung
einer Verhandlung ist insbesondere dann zulässig, wenn der Sachverhalt
unbestritten ist und keine besonders komplexen Rechtsfragen zu beantworten
sind oder wenn eine hochtechnische Materie (worunter etwa rein rechnerische,
versicherungsmathematische oder buchhalterische Probleme zu verstehen sind,
nicht aber andere dem Sozialversicherungsprozess inhärente Fragestellungen
wie beispielsweise die Würdigung medizinischer Gutachten) zu beurteilen ist,
für deren Behandlung sich ein schriftliches Verfahren besser eignet (SVR 2006
IV Nr. 1 S. 1 E. 3.5.1 [I 573/03] mit zahlreichen Hinweisen auf die
Rechtsprechung des EGMR; Urteile I 98/07 vom 18. April 2007, E. 3.2, und
8C_67/2007 vom 25. September 2007, E. 2.2).
Auch wenn es um Fragen geht, die in gewissen Fällen adäquat in einem
schriftlichen Verfahren gelöst werden können (etwa die Würdigung ärztlicher
Gutachten und Berichte oder die Berechnung behinderungsbedingter Kosten), ist
das Vorliegen besonderer Umstände, die das Absehen von einer beantragten
mündlichen Verhandlung rechtfertigen, zu verneinen, wenn eine mündliche
Verhandlung dem Gericht für die Falllösung relevante Informationen liefern
könnte. Dies trifft zu, wenn die betroffene Person die Abnahme eines
relevanten mündlich zu erhebenden Beweises - insbesondere eine
Zeugeneinvernahme oder eine Parteibefragung - beantragt, die persönliche
Begegnung mit dieser Person der Rechtsfindung förderlich sein könnte oder
eine mündliche Verhandlung sonst wie als geeignet erscheint, zur Klärung noch
streitiger Punkte beizutragen (SVR 2006 IV Nr. 1 S. 1 E. 3.5.3 [I 573/03] mit
zahlreichen Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR).

3.2 Umstritten war im vorinstanzlichen Verfahren (im Zusammenhang mit dem
streitigen Anspruch auf eine Invalidenrente) der Gesundheitszustand der
Beschwerdeführerin, zu dessen Erläuterung in der dem Obergericht
eingereichten Beschwerde unter anderem die Ehesituation der Versicherten
thematisiert und die Einvernahme von Zeugen, eine Parteibefragung sowie die
Anordnung einer erneuten Begutachtung beantragt worden waren. Es geht mithin
nicht um hochtechnische Fragen, bei welchen die Durchführung einer mündlichen
Verhandlung von vornherein als völlig sinnlos erscheint, sondern um die
persönliche Situation der Beschwerdeführerin, für deren Einschätzung es unter
Umständen sinnvoll sein kann, dass sich das Gericht mittels Verhandlung einen
eigenen Eindruck verschafft. Bei dieser Sachlage hätte dem Antrag auf
Durchführung einer öffentlichen Verhandlung im Sinne von Art. 6 Ziff. 1 EMRK
stattgegeben werden müssen.

3.3 Es rechtfertigt sich daher, die Sache ohne Prüfung der materiellen
Aspekte an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie eine öffentliche
Verhandlung durchführe und anschliessend über die Beschwerde neu befinde.

4.
Unter den gegebenen Umständen rechtfertigt es sich, ausnahmsweise auf die
Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG). Die
obsiegende Versicherte hat Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68
Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Obergerichts des
Kantons Uri vom 31. Januar 2007 aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz
zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über die
Beschwerde gegen den Einspracheentscheid der IV-Stelle Uri vom
19. Januar 2006 neu entscheide.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Uri und dem
Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 10. Januar 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:

Meyer Keel Baumann