Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 527/2007
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9C_527/2007

Urteil vom 25. Oktober 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber R. Widmer.

B. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dominik Frey,
Stadtturmstrasse 10, 5400 Baden,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 20. Juni 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügungen vom 27. Oktober 2005 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau
dem 1948 geborenen B.________ ab 1. Mai 1995 eine Viertelsrente der
Invalidenversicherung zu, woran sie mit Einspracheentscheid vom 21. Juni 2006
festhielt.

B.
Auf die hiegegen am 11. September 2006 eingereichte Beschwerde, mit welcher
B.________ zur Hauptsache die Zusprechung einer ganzen Invalidenrente für die
Zeit vom 1. Mai 1995 bis 31. Dezember 1998 und vom 1. November 1999 bis 30.
Juni 2001 hatte beantragen lassen, trat das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau zufolge Fristversäumnisses nicht ein (Entscheid vom 20. Juni 2007).

C.
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei
die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es über die
Beschwerde vom 11. September 2006 materiell entscheide.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichten auf
eine Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz zufolge Fristversäumnisses zu
Recht nicht auf die am 11. September 2006 gegen den Einspracheentscheid vom
21. Juni 2006 eingereichte Beschwerde eingetreten ist.

2.
2.1 Es steht fest, dass der Einspracheentscheid dem Beschwerdeführer am 26.
Juni 2006 zugestellt wurde. Die 30-tägige Beschwerdefrist begann demnach am
27. Juni 2006 zu laufen. In Anwendung von Bundesrecht stand die Frist vom 15.
Juli bis 15. August 2006 still (Art. 38 Abs. 4 lit. b ATSG) und endete am
Montag, dem 28. August 2006, so dass die am 11. September 2006 der Post
übergebene Beschwerde verspätet eingereicht wurde. Diese Beurteilung wird vom
Beschwerdeführer nicht in Zweifel gezogen, soweit ihr Bundesrecht zu Grunde
liegt. Hingegen macht er geltend, nach dem Grundsatz von Treu und Glauben sei
das kantonale Prozessrecht massgebend, laut dessen Bestimmungen zum
Fristenstillstand die Beschwerdefrist gewahrt worden sei.

2.2 Das kantonale Gericht hat geprüft, ob die Beschwerdefrist abweichend vom
anwendbaren Bundesrecht als gewahrt zu betrachten sei, weil der
Beschwerdeführer sich erfolgreich auf den Vertrauensschutz berufen kann. Nach
Wiedergabe der zu Art. 9 BV ergangenen Rechtsprechung mit den praxisgemäss
erforderlichen Voraussetzungen, unter denen eine falsche Auskunft bindend ist
(BGE 127 I 31 E. 3a S. 36; Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts U
113/06 vom 8. Mai 2006; vgl. BGE 127 I 31 E. 3a S. 36), hat es festgestellt,
dass der Einspracheentscheid vom 21. Juni 2006 mit einer korrekten
Rechtsmittelbelehrung unter ausdrücklicher Wiedergabe der ATSG-Bestimmungen
zum Fristenstillstand versehen worden sei. Um seiner Sorgfaltspflicht zu
genügen, hätte der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers somit weitere
Abklärungen betreffend Fristenstillstand bei den zuständigen Behörden treffen
oder dann die kürzere Frist gemäss Rechtsmittelbelehrung im
Einspracheentscheid einhalten müssen. Da er dies unterlassen und sich
stattdessen auf kantonales Recht gestützt habe, entfalle eine Berufung auf
Treu und Glauben.

2.3 Der Beschwerdeführer wendet im Wesentlichen ein, dass sich das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit einem Schreiben vom 30. Januar
2006 an den Aargauischen Anwaltsverband gewandt und diesem unter Hinweis auf
drei amtlich publizierte Urteile des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
vom 26. August 2005 mitgeteilt habe, dass die kantonalen
Fristenstillstandsregeln bis zur Anpassung des kantonalen Rechts an die
ATSG-Vorschriften weiterhin Geltung beanspruchen, somit bis Ende 2007 die
Fristenstillstandsbestimmungen gemäss § 89 f. der Aargauischen ZPO zu
beachten sind. Wie bereits mit einem früheren Schreiben des
Versicherungsgerichts vom 22. Oktober 2003 sei auch mit dem neuerlichen
Schreiben vom 30. Januar 2006 eine Vertrauensgrundlage geschaffen worden, auf
welche sich die Rechtsuchenden hätten verlassen dürfen. Denn das Urteil des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 8. März 2006 (BGE 132 V 361), mit
welchem die Rechtsprechung geändert wurde, sei zum Zeitpunkt der Einreichung
der Beschwerde am 11. September 2006 noch nicht bekannt bzw. amtlich
publiziert gewesen. Unter diesen Umständen hätte das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau ein weiteres Infoschreiben erlassen müssen.

3.
Dem Beschwerdeführer ist darin beizupflichten, dass der Vertrauensschutz auch
und erst recht gilt, wenn eine richterliche Behörde eine unrichtige Auskunft
erteilt (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts U 113/06 vom 8. Mai
2006). Eine derartige falsche Auskunft könnte im vorliegenden Fall im Brief
des kantonales Versicherungsgerichts vom 30. Januar 2006 an den Aargauischen
Anwaltsverband erblickt werden, worin auf drei Urteile des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts vom 26. August 2005 (BGE 131 V 305, 314, 325) betr.
vorläufige Weitergeltung der kantonalen Fristenstillstandsregeln sowie darauf
hingewiesen wurde, dass bis Ende 2007 demzufolge weiterhin die
Fristenstillstandsbestimmungen gemäss § 89 f. der kantonalen
Zivilprozessordnung zu beachten seien. Anders als in dem, dem Urteil U 113/06
des Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 8. Mai 2006 zu Grund liegenden
Sachverhalt, wo die massgebenden Grundsatzentscheide vom 26. August 2005 erst
mehrere Monate nach Aufgabe der Beschwerde am 10. Mai 2005 ergangen waren,
lag das im vorliegenden Fall bedeutsame Urteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts vom 8. März 2006 (BGE 132 V 361) längst vor, als der
Versicherte am 11. September 2006 seine Beschwerde einreichte. Auch wenn der
Entscheid bis zu jenem Zeitpunkt noch nicht in der Amtlichen Sammlung (BGE
132 V) publiziert worden war, ändert dies nichts daran, dass sich der
Rechtsvertreter des Versicherten beispielsweise durch Konsultation der auf
Internet zugänglichen Bundesgerichtsentscheide Kenntnis von der Praxis des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts hätte verschaffen können, wenn er der
Rechtsmittelbelehrung der IV-Stelle Aargau misstraute, welche im
Einspracheentscheid vom 21. Juni 2006 korrekt auf die bundesrechtlichen
Fristenstillstandsbestimmungen gemäss Art. 38 ATSG hinwies. Davon abzuweichen
bestand im Übrigen umso weniger Anlass, als gemäss einem aus dem Prinzip von
Treu und Glauben (Art. 9 BV) fliessenden, in Art. 49 BGG ausdrücklich
verankerten Grundsatz des öffentlichen Prozessrechts den Parteien aus einer
fehlerhaften behördlichen Rechtsmittelbelehrung kein Nachteil erwachsen darf
(BGE 131 I 153 E. 4 S. 158, 124 I 255 E. 1a/aa S. 258).

Mit Blick auf die zutreffende Rechtsmittelbelehrung im Einspracheentscheid
und den zeitlichen Ablauf (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
vom 8. März 2006; Beschwerde vom 11. September 2006) kann im Schreiben der
Vorinstanz an den kantonalen Anwaltsverband vom 30. Januar 2006 keine
Grundlage für eine erfolgreiche Berufung auf den Vertrauensschutz erblickt
werden, woran die übrigen Ausführungen in der Beschwerde nichts zu ändern
vermögen.

4.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 25. Oktober 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer Widmer