Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 50/2007
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9C_50/2007

Urteil vom 10. Juli 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

K. ________, Beschwerdeführer,

gegen

Helsana Versicherungen AG, Zürichstrasse 130, 8600 Dübendorf,
Beschwerdegegnerin.

Krankenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 25. Januar 2007.

Sachverhalt:

A.
Mit Entscheid vom 29. Juli 2003 wies das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich die Beschwerde des K.________ gegen den Einspracheentscheid
der Helsana Versicherungen AG (nachfolgend: Helsana) vom 8. Mai 2003
betreffend die Vergütung der Kosten für zahnärztliche Behandlungen
(Knochenaufbau mit anschliessender Implantatsetzung im Ober- und Unterkiefer)
durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung ab, soweit es darauf
eintrat. Mit Urteil vom 9. Juni 2004 hob das Eidgenössische
Versicherungsgericht (seit 1. Januar 2007: I. und II. sozialrechtliche
Abteilung des Bundesgerichts) Gerichts- und Einspracheentscheid auf und wies
die Sache an die Helsana zu weiterer Abklärung im Sinne der Erwägungen und zu
neuer Verfügung über den streitigen Leistungsanspruch zurück.
Gestützt auf das Gutachten der Klinik für Kiefer- und Gesichtschirurgie des
Universitätsspitals X.________ vom 8. November 2004 lehnte die Helsana mit
Verfügung vom 14. Dezember 2004 eine Kostenübernahme aus der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung für die zahnärztliche Behandlung im Ober- und
Unterkieferbereich erneut ab, was sie mit Einspracheentscheid vom 21. Januar
2005 bestätigte. Mit Entscheid vom 29. April 2005 hob das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich diesen Verwaltungsakt auf und
wies die Sache an die Helsana zurück, damit diese nach weiterer Abklärung im
Sinne der Erwägungen neu über ihre Leistungspflicht verfüge.
Die Helsana liess K.________ durch PD Dr. med. F.________, Spezialarzt FMH
für Physikalische Medizin und Rehabilitation, spez. Rheumaerkrankungen,
untersuchen und begutachten (Expertise vom 15. August 2005). Ferner holte sie
bei der Klinik für Kiefer- und Gesichtschirurgie des Universitätsspitals
X.________ einen ergänzenden Bericht zum Gutachten vom 8. November 2004 ein.
Mit Verfügung vom 1. Juni 2006 lehnte die Helsana erneut eine
Leistungspflicht für die zahnärztliche Behandlung im Ober- und
Unterkieferbereich ab. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 15. Juni
2006 fest.

B.
Mit Eingabe vom 26. Juni 2006 gelangte K.________ erneut an das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich. Er beantragte, die Helsana sei
zu verpflichten, die gesamten Kosten im Zusammenhang mit der zahnärztlichen
Behandlung von Fr. 75'085.20 samt Verzugszinsen seit 1. August 2001 von 5 %
aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung und aus der
Zusatzversicherung zu übernehmen. Das Gericht nahm die Eingabe vom 26. Juni
2006 als Beschwerde (obligatorische Krankenpflegeversicherung) und als Klage
(Zusatzversicherungen) entgegen. Nach Vernehmlassung der Helsana wies das
kantonale Sozialversicherungsgericht mit Entscheid vom 25. Januar 2007 beide
Rechtsmittel ab.

C.
K.________ führt Beschwerde mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom
25. Januar 2007 sei aufzuheben und die Helsana sei zu verpflichten,
Fr. 75'085.20 sowie Verzugszinsen von 5 % ab 1. August 2001 zu bezahlen,
unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Die Helsana beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für
Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Der Instruktionsrichter der II. sozialrechtlichen Abteilung des
Bundesgerichts hat bei den Parteien allfällige weitere nicht in den Akten
befindliche medizinische Unterlagen, insbesondere Röntgenbilder, einverlangt.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Weil die angefochtene Entscheidung nach dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes
vom 17. Juli 2005 über das Bundesgericht (BGG [SR 173.110]) am 1. Januar 2007
(AS 2006 1242) ergangen ist, untersteht die Beschwerde dem neuen Recht
(Art. 132 Abs. 1 BGG).

2.
Auf die Beschwerde ist nur einzutreten, soweit es um die Vergütung von
Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung geht. (BGE 124 III
44 E. 1 S. 46; Art. 35 lit. d des Reglements für das Bundesgericht [BGerR]).

3.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht und
wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).
Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch
an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden. Es kann eine Beschwerde aus einem
anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit
einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen
(Urteil 9C_32/2007 vom 30. April 2007 E. 3; vgl. auch BGE 130 III 136 E. 1.4
S. 140).

4.
4.1 Nach Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG übernimmt die obligatorische
Krankenpflegeversicherung die Kosten der zahnärztlichen Behandlung, wenn
diese durch eine schwere, nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems bedingt
ist. Voraussetzung ist, dass das Leiden Krankheitswert erreicht; die
Behandlung ist nur so weit von der Versicherung zu übernehmen, wie es der
Krankheitswert des Leidens notwendig macht (Art. 17 Ingress KLV in Verbindung
mit Art. 33 lit. d KVV und Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG).

Zu den schweren, nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems gehören
namentlich Erkrankungen des Kieferknochens und der Weichteile, u.a.
Osteopathien des Kiefers und Osteomyelitis der Kiefer (Art. 17 lit. c Ziff. 3
und 5 KLV), ferner Erkrankungen des Kiefergelenks und des Bewegungsapparates,
u.a. Kondylus- und Diskusluxation (Art. 17 lit. d Ziff. 3 KLV).

4.2 Die in Art. 17 lit. a-f KLV aufgezählten Erkrankungen des Kausystems
gelten grundsätzlich als schwer im Sinne des Ingresses dieser Bestimmung. Bei
feststehender Diagnose stellt sich die Frage der Schwere der Erkrankung von
hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen nicht (SVR 1999 KV Nr. 11 S.
26 E. 1b/bb [K 63/98]; Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in:
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR]/Soziale Sicherheit, Basel 1998,
S. 80 Rz 156). Allgemein setzt eine schwere, nicht vermeidbare Erkrankung des
Kausystems im Sinne von Art. 17 Ingress KLV ein durch prophylaktische
Massnahmen im Sinne und im Rahmen zumutbarer Mund- und Zahnhygiene (BGE 128 V
59 und 70) nicht zu verhinderndes pathologisches Geschehen voraus, welches zu
erheblichen Schäden an Zähnen, Kieferknochen oder Weichteilen geführt hat
oder nach klinischem und allenfalls radiologischem Befund mit hoher
Wahrscheinlichkeit dazu führen würde (BGE 127 V 328 E. 6a/bb und E. 7a S. 335
f.).

5.
5.1 Das kantonale Gericht hat festgestellt, die Abklärungen hätten keine
Hinweise auf eine Erkrankung des Kieferknochens und der Weichteile in Form
einer Osteopathie ergeben. Insbesondere seien eine Osteoporose oder eine
Osteomalazie oder eine sonstige entzündliche Erkrankung auszuschliessen.
Ebenfalls liege keine Osteomyelitis vor. Daraus hat die Vorinstanz gefolgert,
es bestehe kein Anspruch auf Vergütung der Kosten für die zahnärztlichen
Behandlungen (Knochenaufbau mit anschliessender Implantatsetzung im Ober- und
Unterkiefer) durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung nach Art. 17
lit. c Ziff. 3 und 5 KLV. Ebenfalls entfalle eine Leistungspflicht der
Helsana gestützt auf Art. 17 lit. d Ziff. 3 KLV. Dr. Dr. med. Z.________
erwähne zwar in seinem Bericht vom 8. November 2004 eine möglicherweise
durchgemachte vordere Diskusluxation mit Reduktion bei reziprokem Knacken.
Die in Frage stehende zahnärztliche Behandlung stelle jedoch keine geeignete
Massnahme bei Kondylus- und Diskusluxation dar. Schliesslich figurierten der
angeblich von PD Dr. med. F.________ diagnostizierte Morbus Forrestier und
auch der in dessen Gutachten vom 15. August 2005 ebenfalls unterschlagene
Tinnitus nicht unter den in Art. 18 KLV erwähnten Allgemeinerkrankungen.

5.2 Der Beschwerdeführer legt nicht dar, inwiefern die tatsächlichen
Feststellungen und rechtlichen Schlussfolgerungen des kantonalen Gerichts
unrichtig sind oder sonst wie Bundesrecht verletzen. Indessen beruht der
vorinstanzliche Ausschluss einer Osteopathie im Sinne von Art. 17 lit. c
Ziff. 3 KLV als Ursache der Kieferatrophie auf einem unvollständig
festgestellten Sachverhalt, was Anlass zu den nachfolgenden Erwägungen gibt.

5.2.1 Gemäss KVG-Leitfaden 1999 der Schweizerischen Gesellschaft für Kiefer-
und Gesichtschirurgie (SGKG) treten Osteopathien der Kiefer im Sinne von Art.
17 lit. c Ziff. 3 KLV auf als pathologische Skelettrarifizierung (z.B.
primäre/sekundäre Osteoporose), echte Mineralisationsstörung (z.B.
Osteomalazie), als lokale pathologische Knochenneubildung mit
Funktionseinschränkung (z.B. lokale Osteodystrophie) oder als extreme, nicht
altersentsprechende Atrophie des Kieferknochens (z.B Morbus
Blunschli/Uehlinger). Im Atlas der Erkrankungen mit Auswirkungen auf das
Kausystem der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft (SSO; Februar 1996 mit
Korrekturen Dezember 1999) besteht im klinischen Erscheinungsbild eine
extreme Atrophie des Kieferknochens, auch den Kieferkörper betreffend, so
dass aus anatomisch-morphologischen Gründen kein Zahnersatz eingegliedert
werden kann. Bei einem Atrophiegrad von Cawood VI ist der ganze
Alveolarfortsatz bis auf die Kieferbasis abgebaut, welcher Zustand nicht
allein auf Zahnverlust zurückzuführen ist.

Im Urteil K 113/99 vom 21. November 2001 hat das damalige Eidgenössische
Versicherungsgericht eine Alveolarkammatrophie Cawood VI im Oberkiefer als
Osteopathie im Sinne von Art. 17 lit. c Ziff. 3 KLV anerkannt, nicht aber
eine viel geringere Unterkieferatrophie (E. 3; vgl. Gebhard Eugster,
Krankenversicherung, in: SBVR/Soziale Sicherheit, 2. Aufl., S. 541).

5.2.2 Im angefochtenen Entscheid finden sich keine tatsächlichen
Feststellungen zum allenfalls leistungsbegründenden Tatbestand einer
extremen, nicht altersentsprechenden Atrophie des Kieferknochens gemäss
KVG-Leitfaden, SSO-Atlas (vgl. zu dessen Bedeutung SVR 1999 KV Nr. 11 S. 26
E. 2b [K 63/98]) und Rechtsprechung. Gemäss dem Gutachten der Klinik für
Kiefer- und Gesichtschirurgie des Universitätsspitals X.________ vom
8. November 2004 liegt eine Atrophie des Knochens an denjenigen Stellen vor,
an denen beim Beschwerdeführer im Alter von 23 Jahren Zähne gezogen wurden.
Es handelt sich dabei um eine Atrophie des Alveolarknochens, des Anteils des
Unter- resp. Oberkiefers, der mit dem Zahn während dessen Durchbruchs
mitwächst. Dieser Knochen bleibt so lange bestehen, wie Zähne vorhanden sind.
Geht der Zahn verloren, geht auch der mechanische Stress auf den Knochen
verloren und eine Involutionsatrophie desselben findet statt. Im Weitern sei,
so die Gutachter, bei atrophen Kieferknochen eine Operation zwecks ossärer
Augmentation indiziert, weil eine alleinige Rekonstruktion der Zahneinheiten
zu Exazerbationen der Schmerzsituationen führen würde. Die
Vertrauenszahnärztin der Helsana führte in ihrem Bericht vom 22. November
2001 aus, aufgrund der Röntgenbilder könne eine Osteopathie im Sinne einer
pathologischen Atrophie ausgeschlossen werden. Im Bericht vom 5. März 2003
präzisierte sie, der Knochen sowohl des Ober- wie des Unterkiefers sei auf
den Röntgenbildern (Orthopantomogramme vom 22. Mai und 31. August 2001)
bezüglich Struktur und Verlauf abgesehen von einem leichten horizontalen
Abbau unauffällig. Im Oberkiefer sei die Knochenhöhe trotz Fehlens der Zähne
621+124 erhalten. Aufgrund der durchgeführten Therapie sei anzunehmen, dass
im Bereich der zahnlosen Kieferabschnitte im Oberkiefer ein transversaler
Knochenabbau stattgefunden habe. Ein derartiger Abbau trete nach jedem
Zahnverlust auf. Mit 99%-iger Wahrscheinlichkeit sei die transversale
Atrophie auf den Zahnverlust zurückzuführen. Eine vertikale Atrophie habe
nicht vorgelegen. Aufgrund dieser fachärztlichen Aussagen ist der
Knochenabbau überwiegend wahrscheinlich einzig die Folge der im Alter von 23
Jahren gezogenen Zähne. Dies spricht gegen eine extreme auch den Kieferkörper
betreffende Atrophie vom Grad Cawood VI (E. 5.2.1). Aus den in diesem
Verfahren eingeholten medizinischen Unterlagen ergeben sich keine
gegenteiligen Hinweise. Somit ist keine Osteopathie im Sinne von Art. 17 lit.
c Ziff. 3 KLV gegeben und der vorinstanzliche Entscheid daher zu bestätigen.

6.
Der Beschwerdeführer hat als unterliegende Partei die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
kann nicht entsprochen werden. Aufgrund der ausgewiesenen Einkommens- und
Vermögensverhältnisse des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau (BGE 119 Ia 11
E. 3a S. 12 mit Hinweis) besteht offensichtlich keine Bedürftigkeit im Sinne
von Art. 64 Abs. 1 BGG.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.

3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 10. Juli 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
i.V.