Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 47/2007
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9C_47/2007

Urteil vom 29. Juni 2007
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
Gerichtsschreiber Fessler.

S. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Rémy Wyssmann,
Hauptstrasse 36, 4702 Oensingen,

gegen

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons
Solothurn vom 24. Januar 2007.

Sachverhalt:

A.
Der 1960 geborene S.________ meldete sich im Dezember 2003 u.a. wegen
Kopfschmerzen und eingeschränkter Belastbarkeit als Folge eines am 31.
Oktober 2000 erlittenen Unfalles bei der Invalidenversicherung zum Bezug von
Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art an. Die IV-Stelle des Kantons
Solothurn klärte die gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse ab. Mit
Verfügung vom 15. Dezember 2004 sprach sie dem Versicherten Berufsberatung
und Abklärung der beruflichen Eingliederungsmöglichkeiten zu. Mit einer
weiteren Verfügung vom 3. März 2005 verneinte die IV-Stelle den Anspruch des
S.________ auf eine Invalidenrente. Der durch Einkommensvergleich ermittelte
Invaliditätsgrad betrug 18%. Mit Einspracheentscheid vom 2. August 2005
bestätigte die Verwaltung die Rentenablehnung und verneinte gleichzeitig den
Anspruch auf Umschulungs-massnahmen.

B.
Die Beschwerde des S.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn nach Durchführung einer Instruktionsverhandlung mit Parteibefragung
mit Entscheid vom 24. Januar 2007 ab.

C.
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 24. Januar 2007 sei aufzuheben und
die IV-Stelle sei anzuweisen, berufliche Eingliederungsmassnahmen
durchzuführen, insbesondere ihn zum Disponenten umzuschulen; eventualiter
seien ihm die gesetzlichen Leistungen ab wann rechtens nach Massgabe eines
Invaliditätsgrades von mindestens 40%, zuzüglich eines Verzugszinses zu 5% ab
wann rechtens, zuzusprechen; subeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung
und zu neuer Entscheidung an die Verwaltung zurückzuweisen.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
Das Bundesgericht darf nicht über die Begehren der Parteien hinausgehen (Art.
107 Abs. 1 BGG). Neue Begehren sind unzulässig (Art. 99 Abs. 2 BGG).

Das Bundesgericht prüft grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen: Es ist
nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden
rechtlichen Fragen zu prüfen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr
vorgetragen werden. Im Übrigen wendet das Bundesgericht das Recht von Amtes
wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde
geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden Es
kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen
und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz
abweichenden Begründung abweisen (Urteil 9C_32/2007 vom 30. April 2007 E. 3;
vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140).

2.
Im angefochtenen Entscheid werden die massgeblichen Rechtsgrundlagen für den
in erster Linie streitigen Anspruch auf Umschulung zum Disponenten zutreffend
dargelegt. Insbesondere hat das kantonale Gericht richtig festgehalten, dass
bei der Beurteilung, ob die für den Umschulungsanspruch geforderte
Erheblichkeitsschwelle (bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbseinbusse
von etwa 20%) erreicht ist, neben den aktuellen Verdienstmöglichkeiten im
Rahmen der vorzunehmenden Prognose weitere Faktoren wie Lohnentwicklung und
Aktivitätsdauer mitzuberücksichtigen sind (Grundsatz der «annähernden
Gleichwertigkeit» des mit der Eingliederungsmassnahme angestrebten Berufs im
Vergleich zur angestammten Tätigkeit; BGE 124 V 108 E. 2a S. 110 mit
Hinweisen; Urteil I 144/05 vom 13. Mai 2005 E. 2.1). Darauf wird verwiesen.

3.
Das kantonale Gericht hat den Anspruch auf Umschulung zum Disponenten mit der
Begründung verneint, der Versicherte weise einen Invaliditätsgrad von
lediglich 18% auf und sei in verschiedensten leichten, adaptierten
Tätigkeiten mit mittelschweren Anteilen im Produktions- und
Dienstleistungssektor ganztags eingliederungsfähig. Es bestehe mithin keine
Eingliederungsbedürftigkeit.

4.
4.1 Die Vorinstanz hat die für den Umschulungsanspruch relevante
gesundheitlich bedingte Erwerbseinbusse (Invaliditätsgrad) durch Vergleich
der ohne und mit Behinderung erzielbaren Einkommen ermittelt (Art. 16 ATSG
sowie BGE 128 V 29 E. 1 S. 30 in Verbindung mit BGE 130 V 343). Das
Valideneinkommen (Fr. 63'050.-) hat sie dem bei der Firma I.________ AG
zuletzt im Dezember (recte: Juni) 2003 erzielten, auf ein Jahr umgerechneten
Lohn als Lagerist gleichgesetzt. Das Invalideneinkommen (Fr. 52'251.-) hat
das kantonale Gericht auf der Grundlage der Schweizerischen
Lohnstrukturerhebung 2002 des Bundesamtes für Statistik (LSE 02) bestimmt
(BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 f., 124 V 321). Dabei hat es den Tabellenlohn
im Sinne von BGE 126 V 75 um 10% gekürzt. Weiter ist es von einer trotz
gesundheitlicher Beeinträchtigung zumutbaren Arbeitsfähigkeit von 100% für
alle leichten Tätigkeiten mit mittelschweren Anteilen unter Beachtung weniger
qualitativer Funktionseinschränkungen (keine häufigen
Wirbelsäulen-Zwangshaltungen und Überkopfarbeiten) gemäss Einschätzung des
Zentrums X.________(Expertise vom 30. August 2004) ausgegangen.

4.2
4.2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, das Valideneinkommen sei
richtigerweise dem Verdienst gleichzusetzen, den er 2004 als
Betriebsmitarbeiter der Firma N.________ erzielt hätte. Diese am 1. Juli 2001
angetretene Stelle sei ihm aus gesundheitlichen Gründen (schwere Arbeiten,
Mehlstaub-Allergie) auf Ende März 2002 gekündigt worden. Das kantonale
Gericht hat sich zu diesem anlässlich der Instruktionsverhandlung
vorgebrachten Einwand nicht geäussert.

Auf Grund der Akten fehlte der Beschwerdeführer im Zeitraum vom 22. Oktober
bis Ende Dezember 2001 krankheitsbedingt an insgesamt 29 Tagen am
Arbeitsplatz. In den Monaten Januar bis März 2002 arbeitete er nicht mehr. Es
ist somit davon auszugehen, dass er die Stelle in der Firma N.________
tatsächlich aus gesundheitlichen Gründen verlor. Andere Umstände für die
Kündigung auf Ende März 2002 sind nicht ersichtlich. Gemäss Fragebogen
Arbeitgeber vom 29. Dezember 2003 hätte der Beschwerdeführer 2004 bei der
Firma N.________ monatlich Fr. 4996.- verdient. Das Valideneinkommen beträgt
somit mindestens Fr. 64'948.- (13 x Fr. 4996.-).
4.2.2 Mit Bezug auf das Invalideneinkommen sind die zumutbare
Arbeitsfähigkeit sowie die Ermittlung dieser Einkommensgrösse auf der
Grundlage der Lohnstrukturerhebungen des Bundesamtes für Statistik
unbestritten. Dabei ist praxisgemäss auf den durchschnittlichen Lohn in allen
Wirtschaftszweigen des privaten Sektors («Total») abzustellen. Die
Voraussetzungen für ein Abweichen von dieser Regel sind vorliegend nicht
erfüllt (BGE 129 V 472 E. 4.3.2 S. 483; RKUV 2001 Nr. U 439 S. 347 [U
240/99]; Urteil I 295/06 vom 19. September 2006 E. 3.2.1). Ebenfalls nicht zu
beanstanden ist der vorinstanzlich festgesetzte Abzug vom Tabellenlohn von
10% nach BGE 126 V 75. Die Auffassung des kantonalen Gerichts, die mangelnde
Berufsausbildung sei mit der Wahl des Anforderungsniveaus 4 bereits
berücksichtigt, kann nicht als rechtsfehlerhafte Ermessensausübung bezeichnet
werden (vgl. BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; ferner BGE 126 V 75 E. 6 S. 81).
Aufgrund der (aktuelleren) LSE 04 (S. 53) ergibt sich somit ein
Invalideneinkommen von Fr. 51'532.- (12 x Fr. 4588.- x [41,6/40] x 0,9).

4.2.3 Bei einem Valideneinkommen von Fr. 64'948.- und einem
Invalideneinkommen von Fr. 51'532.- beträgt der Invaliditätsgrad 21%. Der
Anspruch auf Umschulung, insbesondere zum Disponenten, lässt sich somit nicht
mit der Begründung verneinen, es bestehe keine gesundheitlich bedingte
Erwerbseinbusse von mindestens 20%.

5.
Soweit die Vorinstanz mit dem Hinweis darauf, der Versicherte sei in
verschiedensten leichten, adaptierten Tätigkeiten mit mittelschweren Anteilen
im Produktions- und Dienstleistungssektor ganztags eingliederungsfähig (vgl.
E. 3 hievor), die annähernde Gleichwertigkeit einer Umschulung zum
Disponenten oder in jede andere berufliche Tätigkeit verneinen will, kann dem
nicht ohne weiteres beigepflichtet werden. Die gegenteilige Auffassung
bedeutete im Ergebnis, den Anspruch auf Umschulung einzig deswegen zu
verneinen, weil der Beschwerdeführer über keine abgeschlossene Berufslehre
verfügt, was indessen nicht angeht (Urteile I 210/05 vom 10. November 2005 E.
3.3, I 174/02 vom 23. Dezember 2003 E. 2.2 und I 537/03 vom 16. Dezember 2003
E. 5.2). Zu den weiteren für den Umschulungsanspruch entscheidenden
subjektiven und objektiven Eingliederungsfähigkeit des Versicherten,
Eingliederungswirksamkeit sowie annähernden Gleichwertigkeit des mit der
Massnahme angestrebten Berufs im Vergleich zur angestammten Tätigkeit als
Ausdruck des Verhältnismässigkeitsprinzips (BGE 129 V 67 E. 1.1.1 S. 68 mit
Hinweisen; Urteile I 210/05 vom 10. November 2005 E. 3.3.1 und I 794/02 vom
19. November 2003 E. 2) hat das kantonale Gericht keine Feststellungen
getroffen. Die Akten erlauben keine zuverlässige Beurteilung, ob diese
Voraussetzungen gegeben sind. Die Sache ist daher an die IV-Stelle
zurückzuweisen, damit sie entsprechende Abklärungen vornehme und danach neu
verfüge. Je nachdem wird sie auch über den Anspruch auf andere
Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art zu befinden haben.

6.
Der Anspruch auf eine Invalidenrente ist für den Zeitraum bis zum Erlass des
Einspracheentscheides vom 2. August 2005 (BGE 131 V 353 E. 2 S. 354) zu
verneinen (E. 4.2).

7.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der IV-Stelle
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Verwaltung hat zudem dem
Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
In Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons Solothurn vom 24. Januar 2007 und der Einspracheentscheid vom 2.
August 2005, soweit Umschulungsmassnahmen betreffend, aufgehoben. Die Sache
wird an die IV-Stelle des Kantons Solothurn zurückgewiesen, damit sie nach
Abklärungen im Sinne der Erwägungen über den Anspruch auf
Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art, insbesondere Umschulung zum
Disponenten, neu verfüge. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Solothurn
auferlegt.

3.
Dem Beschwerdeführer wird der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 500.-
zurückerstattet.

4.
Die IV-Stelle des Kantons Solothurn hat dem Beschwerdeführer für das
Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung (einschliesslich
Mehrwertsteuer) von Fr. 2500.- zu bezahlen.

5.
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn hat die Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses festzusetzen.

6.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.

Luzern, 29. Juni 2007

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: