Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 9C 462/2007
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9C_462/2007

Urteil vom 25. Januar 2008
II. sozialrechtliche Abteilung

Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Lustenberger, Borella,
Gerichtsschreiber Fessler.

S. ________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Advokat Dr. Costantino
Testa, Speichergasse 27, 3011 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin.

Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 1. Juni 2007.

Sachverhalt:

A.
Die 1980 geborene S.________ meldete sich im Juli 2004 bei der
Invalidenversicherung an und beantragte Eingliederungsmassnahmen beruflicher
Art (Berufsberatung, Arbeitsvermittlung). Die IV-Stelle Bern klärt die
gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse ab. Unter anderem holte sie
bei der Hausärztin Frau Dr. med. P.________, Allgemeine Medizin FMH, einen
Bericht und bei Frau Dr. med. Z.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH,
ein Gutachten ein. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die
IV-Stelle mit Verfügung vom 15. November 2006 den Anspruch der S.________ auf
eine Invalidenrente.

B.
Die Beschwerde der S.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 1. Juni 2007 ab.

C.
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, Gerichtsentscheid und Verwaltungsverfügung seien aufzuheben
und es sei ihr ab 1. Juli 2003 eine halbe Invalidenrente zuzusprechen;
eventualiter sei die Sache an die IV-Stelle zur Neubeurteilung
zurückzuweisen.
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen:

1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.
Das kantonale Gericht hat den für den Anspruch auf eine Rente und den Umfang
des Anspruchs massgeblichen Invaliditätsgrad (Art. 28 Abs. 1 IVG) durch
Einkommensvergleich (vgl. dazu Art. 16 ATSG sowie BGE 128 V 29 E. 1 S. 30 in
Verbindung mit BGE 130 V 343) ermittelt. Validen- und Invalideneinkommen hat
es auf der Grundlage der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2002 des
Bundesamtes für Statistik (LSE 02; vgl. BGE 126 V 75 E. 3b/bb S. 77),
ausgehend vom selben monatlichen Bruttolohn von Frauen (Total) für einfache
und repetitive Tätigkeiten (Anforderungsniveau 4) im privaten Sektor (LSE 02
S. 43), berechnet. Die trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung zumutbare
Arbeitsfähigkeit hat die Vorinstanz entsprechend dem psychiatrischen
Gutachten der Frau Dr. med. Z.________ vom 20. November 2005 sowie dem
Arztbericht der Frau Dr. med. P.________ vom 22. August 2004, denen voller
Beweiswert zukomme (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352), auf 80 % festgesetzt. Sodann
hat sie beim Invalideneinkommen einen Abzug vom Tabellenlohn nach BGE 126 V
75 von maximal 15 % vorgenommen, um den (möglichen) krankheitsbedingten
Ausfällen Rechnung zu tragen. Daraus resultierte ein Invaliditätsgrad von
höchstens 32 % ([1 - 0,8 x 0,85] x 100 %; Urteil I 1/03 vom 15. April 2003
E. 4.1.3).

3.
3.1 In der Beschwerde wird gerügt, die Vorinstanz habe zu Unrecht dem Bericht
der Frau Dr. med. P.________ vom 22. August 2004 Beweiswert zuerkannt und
gestützt darauf eine Arbeitsfähigkeit aus somatischer Sicht von 80 % bis 100
% in der angestammten oder in einer leidensangepassten Tätigkeit angenommen.
Dieser Einwand ist begründet. Vorab unterscheidet die Hausärztin im erwähnten
Bericht nicht danach, ob die Arbeitsfähigkeit aus psychischen oder aus
somatischen Gründen eingeschränkt ist, was jedoch von Bedeutung ist (vgl. E.
3.2.2). Sie erwähnte als Diagnosen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit
eine Panikstörung/Somatoforme Störung sowie chronisch rezidivierende
Rückenschmerzen und ein chronisch rezidivierendes thoracovertebrales
Schmerzsyndrom. Es kommt dazu, dass Frau Dr. med. P.________ im Zeugnis vom
5. Dezember 2006 festhielt, die zahlreichen spezialärztlichen Abklärungen und
Behandlungen hätten nicht zur Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit geführt.
Die Versicherte müsse weiterhin als arbeitsunfähig betrachtet werden. Diese
Aussagen widersprechen ihren Ausführungen im Bericht vom 22. August 2004 oder
aber sie belegen, dass die damaligen Aussagen unter der - schliesslich nicht
eingetretenen - prognostischen Annahme einer Verbesserung und Stabilisierung
des Gesundheitszustandes erfolgt waren, wie in der Beschwerde vorgebracht
wird. Das Zeugnis vom 5. Dezember 2006 kann nach zutreffender Auffassung des
kantonalen Gerichts nicht als schlüssige Einschätzung der zumutbaren
Arbeitsfähigkeit gelten.

3.2 Im Weitern wird gerügt, das kantonale Gericht gehe aktenwidrig von einem
Arbeitsausfall von zwei bis drei Tagen pro Monat wegen der unplanmässig
auftretenden Panikattacken aus. Es sei aktenkundig, dass die
Beschwerdeführerin krankheitsbedingt in den letzten fünf Jahren mindestens
einen Drittel der monatlichen Arbeitstage, während mindestens drei Jahren
sogar 30 % bis 50 % der jeweiligen Anstellungsdauer wegen der unplanmässig
auftretenden Panikattacken gefehlt habe.

3.2.1 Es steht fest, dass die Beschwerdeführerin beim Auftreten von
Panikattacken die Arbeit sofort niederlegen muss oder erst gar nicht antreten
kann. Die Attacken treten immer wieder und insofern regelmässig auf; sie
weisen aber keinen zum Voraus bestimmten Rhythmus auf. Die Vorinstanz ist von
einem gesundheitsbedingten Arbeitsausfall von durchschnittlich ein bis drei
Tagen im Monat ausgegangen. Sie stellte dabei auf die Angaben der Frau Dr.
med. Z.________ in ihrem ergänzenden Bericht vom 25. März 2006 zum Gutachten
ab. Die Psychiaterin hielt fest, der ungeplante Ausfall von zwei bis drei
Tagen als Folge einer Panikattacke habe keine vorhersehbare Regelmässigkeit.
Eine Frequenzangabe könne daher nur ein grob geschätzter Wert sein. In der
Vergangenheit habe die Versicherte, aufs Jahr gemittelt, wahrscheinlich
einmal pro Monat auf Grund einer Panikattacke während zwei bis drei Tagen
gefehlt.

Diese Einschätzung muss in folgendem Sinne als offensichtlich unrichtig
bezeichnet werden. In den Akten finden sich praktisch nur für den Zeitraum
August 2001 bis April 2002 (haus-)ärztliche
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Danach war die Beschwerdeführerin
arbeitslos und sie bezog innerhalb der zweijährigen Leistungsrahmenfrist
Arbeitslosenentschädigung. In diesem Zeitraum arbeitete sie einzig und
lediglich vom 3. Februar bis 20. Juni 2003 als Kosmetikberaterin. In der Zeit
von August 2001 bis April 2002 war die Versicherte an sechs von zehn Tagen zu
100 % arbeitsunfähig geschrieben (vgl. die Angaben im Abklärungsbericht
Haushalt vom 8. August 2006 und im Arztbericht der Frau Dr. med. P.________
vom 22. August 2004). Offensichtlich wegen der vielen Absenzen verlor sie die
Stelle bei der Firma T.________. Aus den Akten ergeben sich keine anderen
Gründe für die Auflösung dieses Arbeitsverhältnisses durch die Arbeitgeberin.
Wegen der zu häufigen Abwesenheiten vom Arbeitsplatz verlor die Versicherte
auch die am 21. März 2005 angetretene Teilzeitstelle als Outbound Call Agent
bei der Firma C.________ AG auf Ende Mai 2006.

3.2.2 Bei dieser Aktenlage hat das kantonale Gericht dem Zeugnis der Frau Dr.
med. P.________ vom 5. Dezember 2006, wonach in den letzten vier bis fünf
Jahren die Tage mit Krankheit weit über 50 % der Arbeitszeit ausgemacht
hätten, zu Unrecht keine Bedeutung beigemessen. Es trifft zwar zu, dass die
Hausärztin nicht danach differenzierte, ob die Absenzen durch die
Panikattacken bedingt oder auf Rückenschmerzen zurückzuführen waren. Zu
beachten ist indessen, dass die allein durch die Panikattacken bedingte
Absenz vom Arbeitsplatz von rund zwei bis drei Tagen im Monat maximal 14 %
der Arbeitszeit ausmacht. Es kommt dazu, dass die Vorinstanz gestützt auf die
überzeugende Einschätzung der Frau Dr. med. P.________ vom 22. August 2004
von einer Arbeitsfähigkeit von mindestens 80 % in einer leidensangepassten
Tätigkeit aus somatischer Sicht ausgegangen ist. Dies muss insofern als
widersprüchlich oder zumindest erklärungsbedürftig bezeichnet werden, als die
Hausärztin bei ihrer Beurteilung, wie gesagt (E. 3.1), nicht nach der
somatischen oder psychischen Ursache der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit
unterschied. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass immer
wiederkehrende krankheitsbedingte Absenzen vom Arbeitsplatz bei der
Festlegung des zeitlich zumutbaren Umfangs der Arbeitsfähigkeit zu
berücksichtigen sind. Dies verkennt die Vorinstanz, wenn sie die
krankheitsbedingten Ausfälle erst beim Abzug vom Tabellenlohn nach BGE 126 V
75 berücksichtigt. Lediglich soweit die Ausfälle nicht planmässig im Sinne
von regelmässig nach einem bestimmten Rhythmus auftreten, ist dem beim Abzug
vom Tabellenlohn in angemessener Weise Rechnung zu tragen.

3.2.3 Schliesslich ist zu beachten, dass Frau Dr. med. Z.________ zur Frage,
in welchem zeitlichen Rahmen die bisherige Tätigkeit noch zumutbar sei,
ausführte, die Versicherte arbeite zur Zeit als Telefonistin mit einem
maximalen Pensum von ca 80 %. Tatsächlich arbeitete die Beschwerdeführerin zu
der Zeit offenbar lediglich rund zwölf Stunden in der Woche als Outbound Call
Agent bei der Firma C.________ AG. Es ist davon auszugehen oder zumindest
nicht auszuschliessen, dass das fälschlicherweise angenommene tatsächliche
Arbeitspensum von 80 % für die Zumutbarkeitsbeurteilung der Gutachterin
mitentscheidend war.

Insgesamt bilden die gegebenen Akten keine rechtsgenügliche Grundlage für die
zuverlässige Festsetzung der zumutbaren Arbeitsfähigkeit und allenfalls deren
erwerbliche Verwertbarkeit.

3.3 Schliesslich wird gerügt, das kantonale Gericht habe zu Unrecht das
Valideneinkommen auf der Grundlage der LSE 02 bestimmt. Es sei auf den
Verdienst abzustellen, den sie 2002 als Telefonistin/Disponentin bei der
Firma T.________ erzielt habe. Daraus ergebe sich ein Valideneinkommen von
Fr. 62'025.-. Die Rüge ist insofern begründet, als kein Anlass besteht, das
Einkommen ohne gesundheitliche Beeinträchtigung auf tabellarischer Grundlage
zu ermitteln. Die Beschwerdeführerin arbeitete vom 1. März 1999 bis 31. März
2001 bei der Firma I.________ AG. Daran anschliessend war sie als
Telefonistin/Disponentin in einer Einsatzzentrale der Firma T.________ tätig.
Diese Stelle wurde ihr auf Ende April 2002 gekündigt und zwar, wie in
E. 3.2.1 festgestellt, aus gesundheitlichen Gründen (viele krankheitsbedingte
Absenzen). Diese traten indessen erst seit August 2001 in gehäufter Weise
auf, was die Vorinstanz zu wenig beachtet hat. Es ist daher überwiegend
wahrscheinlich, dass die Versicherte im Gesundheitsfall weiterhin bei der
Firma T.________ gearbeitet hätte. Das in den dreizehn Monaten (April 2001
bis April 2002) erzielte und im individuellen Konto ausgewiesene Einkommen
bildet somit die Grundlage für die Bestimmung des Valideneinkommens. Hingegen
kann nicht lediglich der von Januar bis April 2002 erzielte und auf ein Jahr
umgerechnete (höhere) Verdienst berücksichtigt werden. Unbestritten ist, dass
das Invalideneinkommen auf tabellarischer Grundlage zu ermitteln ist.
Inwieweit ein Abzug vom Tabellenlohn nach BGE 126 V 75 gerechtfertigt ist,
kann beim gegenwärtigen Abklärungsstand nicht abschliessend beurteilt werden.

3.4 Die Vorinstanz hat somit den rechtserheblichen Sachverhalt teils
offensichtlich unrichtig, teils unvollständig festgestellt. Die Akten sind
nicht spruchreif. Die IV-Stelle wird im Sinne des Vorstehenden weitere
medizinische Abklärungen (rheumatologische und psychiatrische Begutachtung)
vorzunehmen und den Invaliditätsgrad neu zu ermitteln haben. Danach wird sie
über die streitige Rente der Invalidenversicherung neu verfügen. Die
Beschwerde ist somit im Eventualstandpunkt begründet.

4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die IV-Stelle die Gerichtskosten
zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Zudem hat die Verwaltung der
Beschwerdeführerin eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68
Abs. 2 BGG).

erkennt das Bundesgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde werden der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, vom 1. Juni 2007 und die Verfügung vom 15. November 2006
aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen, damit sie,
nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch der
Beschwerdeführerin auf eine Rente der Invalidenversicherung neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle Bern auferlegt.

3.
Die IV-Stelle Bern hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, hat die Parteientschädigung für das erstinstanzliche
Beschwerdeverfahren festzusetzen und die Verfahrenskosten neu zu verlegen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 25. Januar 2008

Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:

Meyer i.V. Nussbaumer